Minderheitenrechte im Bundestag: 12 Minuten für die Oppositionszwerge
Wie die Mini-Opposition aus Linken und Grünen künftig stärker mitreden darf – und mit der Regelung doch nicht ganz zufrieden ist.
„Minderheitenrechte“? Worum geht es eigentlich?
Um die wichtige Frage, was die zwergenhafte Opposition im Bundestag noch zu sagen hat. Also: um gelebte Demokratie.
Entscheidende Rechte der parlamentarischen Opposition – etwa das, einen Untersuchungsausschuss einzurichten – hängen an einem Quorum. Bisher ist ein Viertel der Stimmen des Bundestages nötig, um einen solchen Ausschuss einzusetzen. Grüne und Linke verfügen aber nur über 20 Prozent der Mandate. Solche ungewollten Effekte der erdrückenden GroKo-Mehrheit wollten alle Fraktionen gemeinsam ausgleichen. Die Verhandlungen verliefen zäh und dauerten fast vier Monate.
Ist ihnen das mit der Einigung gelungen?
Union, SPD und Grüne sagen: Ja, grandios sogar. SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Christine Lambrecht nennt den Kompromiss am Mittwoch einen „Durchbruch“. Der Beschluss sei „ein gelungener Schritt zur Sicherung der Demokratie.“ Die Fraktionen von Linken und Grünen erhielten künftig „wesentlich mehr Rechte, als ihnen die Wählerinnen und Wähler zugestanden haben“, stimmt Unions-Fraktionsgeschäftsführer Bernhard Kaster in den Jubel ein. Und seine Grünen-Kollegin Britta Haßelmann findet, der Kompromiss sichere „einen umfassenden Katalog von Minderheitenrechten für diese Legislaturperiode“. Alles tipptopp also, zumindest aus Sicht dieser drei Fraktionen.
Klar. Und nur die Linken meckern mal wieder?
„Meckern“ ist das falsche Wort. Sie haben Einwände. Der wichtigste Punkt: Das Dreierbündnis hat sich darauf verständigt, lediglich die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags anzupassen. Die Fraktion der Linken hätte die Minderheitenrechte lieber in Gesetzen und in der Verfassung neu geregelt. Und die Linke bezweifelt, dass der Kompromiss auch vor Gerichten Bestand hat.
„Der Bundestag selbst hat als Gesetzgeber die Pflicht, Regelungen dort zu verankern, wo sie hingehören“, sagt Linke-Fraktionsgeschäftsführerin Petra Sitte. Ihre Fraktion will sich bei der Abstimmung an diesem Donnerstag deshalb enthalten. Mehrere Verfassungsjuristen argumentieren ähnlich wie die Vertreter der Linken. Aber Union und SPD wollten partout keine Gesetze anpassen. Anfangs bevorzugten sie gar einen Vorschlag von Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU), der vorsah, nur einen einfachen Parlamentsbeschluss zu fassen.
Zur Sache: Was ändert sich denn jetzt?
Ganz wichtig: Die Opposition darf mit ihren wenigen Stimmen einen Untersuchungsausschuss beantragen. Wenn 120 Abgeordnete einen solchen fordern, muss ihn der Bundestag künftig beschließen. Dabei ist egal, welcher Fraktion sie angehören. Um diese Zahl gab es heftige Gefechte. Grüne und Linke haben zusammen 127 Abgeordnete. Union und SPD wollten erst die Anwesenheit aller Oppositionsabgeordneten vorschreiben, jetzt dürfen ein paar krank sein – und der Beschluss gilt trotzdem. Schnupfen in der Opposition wird also künftig keinen Untersuchungsausschuss verhindern.
Sind U-Ausschüsse wirklich so wichtig?
Ja. Ein Beispiel: Heute konstituiert sich der NSA-Untersuchungsausschuss. Er wird versuchen, den Abhörskandal der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste aufzuklären. Und hoffentlich erhellen, warum und wie Telefondaten von Millionen Deutschen erfasst wurden und werden. Dass das in Gänze klappt, ist unwahrscheinlich, aber wichtig ist es trotzdem.
Untersuchungsausschüsse gelten als wichtigste Waffe der Opposition. Wenn eine Regierung in einen Skandal verwickelt hat, hat sie kein gesteigertes Interesse an Aufklärung. Der Ausschuss bietet der Opposition diese Möglichkeit. Die Abgeordneten bekommen Akteneinsicht, sie dürfen wichtige Zeugen vorladen, diese sagen unter Eid aus. Was Oppositionsleute ungern zugeben: Der Ausschuss hilft immens, ein Thema am Köcheln zu halten, weil er lange Zeit das mediale Interesse bedient.
Eine weitere Änderung gibt es beim Verteidigungsausschuss. Er kontrolliert und überwacht die Streitkräfte. Als einziger Bundestagsausschuss hat er das Recht, sich in einen Untersuchungsausschuss umzuwandeln – auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder. Linke und Grüne können dieses Quorum nicht erreichen. Deshalb kann die Umwandlung des Verteidigungsausschusses künftig auch mit lediglich den Stimmen der Ausschussmitglieder der Oppositionsfraktionen beantragt werden.
Ändert sich etwas in Bundestagsdebatten?
Die Mini-Opposition darf in Plenardebatten ein bisschen länger reden. Bisher gibt die sogenannte Berliner Stunde die Redezeiten für die Fraktionen vor, dabei entscheidet die Stärke der jeweiligen Fraktion. Union und SPD bieten in ihrem Gesetzentwurf Redezeitaufschläge für die Opposition an, allerdings nur wenige Minuten. Der Entwurf sortiert die Debatten in Längenformate von XS (kurz), über S (Standard) bis XXL (extralang).
Ein Beispiel für eine in der Praxis häufige Länge: Bei einer Debatte von 96 Minuten (Typ L) bekommen CDU und CSU zusammen 44 Minuten Redezeit. Auf die Sozialdemokraten entfallen 28 Minuten, auf Linke und Grüne jeweils nur 12 Minuten. Auf diese Tabelle haben sich Union, SPD und Linke geeinigt, während die Grünen ein anderes Modell bevorzugen. Der Ältestenrat des Bundestags wird die Tabelle jedoch offiziell beschließen, die dann für die ganze laufende Legislaturperiode gilt. Die Kleidergrößen als Maßeinheit werde man allerdings weglassen, hieß es aus Koalitionskreisen – das sei der Würde des Hohen Hauses nicht angemessen.
12 Minuten. Ist das nicht sehr wenig für eine Rede?
Es ist sogar noch weniger. Oft splitten die kleinen Fraktionen ihre Redezeit und schicken etwa zwei RednerInnen. Dahinter steckt Taktik: Einer kann zu Beginn der Debatte einen Aufschlag machen, einer kann am Ende auf das reagieren, was zwischendurch von Rednern der Koalition gesagt wurde. Bleiben also im Schnitt ganze 6 Minuten. Viel ist das nicht.
Zugegeben: Die Qualität mancher Reden ist so fürchterlich, dass jede Minute weniger ein Gewinn ist. Und die Aufmerksamkeit der Medien fokussiert sich ohnehin auf die prominenten, ersten Redner. Beide Argumente sind aber unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten vernachlässigbar. Das Parlament lebt schließlich von Rede und Gegenrede. Und die Selbstgespräche der Koalition, in den ersten 100 Tagen mehrfach zu beobachten, sind totlangweilig.
Ist damit jetzt alles geklärt im Parlament?
Nicht ganz. Offen bleibt die Frage der sogenannten Normenkontrollklage. Durch sie kann das Parlament in Karlsruhe prüfen lassen, ob ein Gesetz verfassungsgemäß ist. Eine Normenkontrollklage kann ebenfalls nur mit mindestens einem Viertel der Stimmen erzwungen werden. Der Mini-Opposition ist dieser Weg deshalb verbaut.
Die Linke verweigert auch deshalb ihre Zustimmung, weil sich Union und SPD konsequent gegen einen Kompromiss bei der Normenkontrollklage gesperrt haben. „Das ist kein klassisches Minderheitsrecht“, sagte die Sozialdemokratin Lambrecht stellvertretend für die Koalition. Die Linke prüft nun, ob sie wegen des Beschlusses vors Verfassungsgericht zieht. In der Praxis spielt die Normenkontrollklage allerdings keine große Rolle. Die Streitfragen finden auf anderen Wegen nach Karlsruhe, meist durch Verfassungsbeschwerden der betroffenen Bürger.
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