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Milliardeneinbußen durch TariffluchtDie Ampel muss handeln

Simon Poelchau
Kommentar von Simon Poelchau

130 Milliarden Euro sparen Arbeitgeber, weil sie sich nicht an Tarifverträge halten. Das Geld fehlt nicht nur den Arbeitnehmern, sondern auch dem Staat.

Um Regierungsvorhaben wie das Tariftreuegesetz ist es zuletzt still geworden Foto: Olaf Ziegler/imago

T arifflucht ist teuer. Und zwar nicht nur für die Beschäftigten. Auch dem Staat entgehen Unsummen, weil Angestellte weniger verdienen und folglich weniger Steuern zahlen, wenn Arbeitgeber sich nicht an Tarifverträge halten. 27 Milliarden Euro jährlich sind es nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), die Bund, Länder und Kommunen deswegen weniger einnehmen. Das sind 27 Milliarden gute Gründe für die Ampelkoalition, endlich etwas gegen­ die Tarifflucht zu unternehmen.

Mit den zusätzlichen Steuereinnahmen würden sicherlich auch die Sitzungen der Ampelkoalition weitaus entspannter verlaufen. Ein Dauerthema ist dort nämlich, dass es zu wenige Mittel für viel zu viele Aufgaben gibt. Gleichzeitig wehrt sich die FDP beharrlich sowohl gegen Steuererhöhungen als auch gegen eine Reform der Schuldenbremse, wie sie derzeit SPD und Grüne wieder lauter fordern. Mehr Einnahmen infolge einer höheren Tarifbindung würden der Ampelkoalition unter diesen Umständen mehr finanziellen Spielraum geben.

Auch anderweitig würde der Staat mittelbar durch mehr Tarifbindung profitieren. Denn insgesamt müssten Arbeitgeber rund 130 Milliarden Euro mehr für ihre Beschäftigten aufwenden. Neben den direkten Steuereinnahmen steigen so auch die Abgaben für die Sozialversicherungen. Laut DGB würden davon rund 43 Milliarden Euro in die Finanzierung von Renten, Gesundheitssystem und Co fließen. Und last, but not least hätten die Beschäftigten jährlich 60 Milliarden Euro mehr in der Tasche. Wenn sie die teilweise wieder ausgeben, kommen dabei anfallende Verbrauchsteuern wiederum der Staatskasse zugute.

Die Ampel muss also nur handeln. Zumal die EU sie mit der Mindestlohnrichtlinie eh verpflichtet, etwas zur Stärkung der Tarifbindung zu unternehmen. Am Anfang ihrer Regierungszeit waren SPD, Grüne und FDP da auch überraschend aktiv und versprachen in ihrem Koalitionsvertrag Maßnahmen wie das Tariftreuegesetz. Doch zuletzt war es diesbezüglich auffällig still. Es ist Zeit, dass sich das wieder ändert.

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Simon Poelchau
Redakteur
ist für Ökonomie im taz-Ressort Wirtschaft und Umwelt zuständig.
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9 Kommentare

 / 
  • 6G
    697175 (Profil gelöscht)

    Auch das wird die FDP verhindern, es wäre ja schlecht für die Wirtschaft. Der gutgemeinte Appell in der Überschrift verkennt die Grundstruktur dieser Koalition, die sich selbst freiwillig in ein Minimal-Korsett gepackt hat auf Grund diametral entgegengesetzter Grundausrichtungen.



    Herr Heil, soll ja sozusagen Sozialminister sein, will ja vorgeblich seit Jahren so etwas.

  • Wenn die Ausbeuterunternehmen dann über Löhne und Sozialabgaben weniger Gewinne haben, reduziert sich sich ja die Steuerzahlung. Preiserhöhungen würden Staat und Bürger auch wieder Geld kosten. Ist das in den großen Zahlen schon berücksichtigt oder wurde das übersehen?

  • Ist es nicht so, dass die Unternehmen dann entweder sinkende Gewinne=weniger Steuern oder die höheren Kosten als Preissteigerung an Kunden (Staat und Bürger) weitergeben. Würde dieses nicht einen Großteil wieder kompensieren?

  • BTW, als wenn der Staat, insbesondere der aktuelle Staat, 27 MRD mehr auch nur merken würde. Die gehen im Grundrauschen unter.

  • Das klingt nach einer ziemlich optimistischen Rechnung. 130 MRD weniger Gewinn kostet ja allein schon 40 MRD Ertragsteuern. 27+40 MRD Steuern aus Lohnsteuern wäre ein Steuersatz von 51,5%. Wir können also davon ausgehen, dass der DGB hier mal "etwas unsauber" und "populistisch" unterwegs ist.

    Tarifflucht hat in aller Regel ja auch Gründe. Nicht immer ist es Gier, oft genug auch Notwendigkeit um die Firma mittelfristig am Leben zu erhalten. Im Rahmen des Fachkräftemangels würde man sicher mehr zahlen, wenn es sich rechnen würde.

  • Der Abschluss von Tarifverträgen ist die ureigene Aufgabe der Gewerkschaften, die in Arbeitskämpfen durchgesetzt werden muss. Scheinbar kennt die Bräsigkeit und Wurstigkeit in den Funktionärsetagen der Gewerkschaften keine Grenzen mehr. Wie wäre es mal wieder mit echtem Arbeitskampf und Verbesserungen der Bedingungen für Arbeiter und Arbeitnehmer? Dann klappt es vielleicht auch mal wieder mit den Mitgliederzahlen.

    Es ist doch bezeichnend, dass die einzige Gewerkschaft, die noch kämpferisch für ihre Mitglieder agiert ausgerechnet nicht im DGB organisiert ist. Bei der Gewerkschaft der Lokführer ist noch Personal am Werk, welches die Bedeutung der Worte Arbeitskampf und harte Verhandlungen noch kennt. Interessanterweise verlieren die dort keine Mitglieder sondern gewinnen immer mehr hinzu.

    Der Ruf des DGB nach dem Staat zeigt den Kampf der speichelleckenden DGB-Gewerkschaften gegen die Bedeutungslosigkeit. Scheinbar hat man selbst keine Antworten mehr auf den Mitgliederschwund. Da ist der Ruf nach dem Staat immer besonders laut.

    Dabei wäre es so einfach: Wenn es keine Tarifverträge gibt, Arbeitskampf mit der Belegschaft für einen Tarifvertrag und bessere Bedingungen. Aber dazu müsste man ja mal etwas tun.

    • @Kriebs:

      "Es ist doch bezeichnend, dass die einzige Gewerkschaft, die noch kämpferisch für ihre Mitglieder agiert ausgerechnet nicht im DGB organisiert ist"

      Vollkommen lächerliche Behauptung. Jeder, der sich auch nur ETWAS für Politik interessiert weiß, dass sowohl IGM als auch IGBCE (2 Beispiele unter vielen) vernünftige Tarifabschlüsse erreichen. Wohingegen es der GdL primär um Außenwirkung geht.



      Und was nun den Organisationsgrad angeht: Umgekehrt wird ein Schuh draus. Im Osten kann man wunderbar sehen, was passiert, wenn sich wenige Leute gewerkschaftlich organisieren.

      Und ihr letzter Absatz lässt vermuten, dass Sie mit der realen Arbeitswelt ziemlich sicher noch nie etwas zu tun hatten. Das verströmt eine derartige Ahnungslosigkeit, man kann nur mit dem Kopf schütteln.

      • @Kaboom:

        "Vollkommen lächerliche Behauptung. Jeder, der sich auch nur ETWAS für Politik interessiert weiß, dass sowohl IGM als auch IGBCE (2 Beispiele unter vielen) vernünftige Tarifabschlüsse erreichen."

        --> Sie verstehen also Tarifabschlüsse von 5, 2 % (IG Metall 2023) und 6 % (IG BCE 2023) bei einer Inflation von 8 % also "vernünftige Tarifabschlüsse"? Eine Reallohnsenkung von 2- 2,8% ist für Sie vernünftig?

        Die beiden Gewerkschaften haben die (Real-)Löhne der Belegschaft gesenkt und wollen dafür Applaus und Mitgliedsbeiträge. So macht man keine Werbung für Tarifverträge und Gewerkschaftsmitgliedschaften.

        Und nein der Tarifabschluss der IGBCE ist nicht 10,5 % (wie man auf der Webseite lesen kann). Der Tarifvertrag läuft 24 Monate, das bringt eben 6 % dieses Jahr (bei 8 % Inflation) und nächstes Jahr 4,5 % mehr (bei voraussichtlich noch 5 -6 % Inflation).

        Im Kern senkt die IGBCE also in diesem Jahr die Reallöhne um 2 % und nächstes Jahr um 0,5 - 1,5 %. Und das ist noch der "gute" Tarifvertrag. Auch wenn sich die IG Metall feiert, sieht es bei ihr noch deutlich finsterer aus.

        Aber klar: Lohnsenkungen sind gute Tarifabschlüsse, vor allem für die Arbeitgeber.

        Und was den Osten angeht, da komme ich zufällig her: Gewerkschaftliche Organisation hat (zumindest bei vielen älteren) aufgrund der FDGB-Erfahrungen nicht den allerbesten Stand. Das ließe sich aber durchaus beheben, wenn man (z.B. durch gute Tarifabschlüsse) echte Werbung für sich machen würde.

        Tatsächlich besteht dort ja die paradoxe Situation, dass viele Arbeitgeber über die Handwerksinnungen eigentlich zwangsweise Tarifpartei wären, aber gegenüber gewerkschaftlich ungebundenen Mitarbeitern die Tarifverträge nicht gelten. Wenn die Tarifverträge so "vernünftig" wären, könnten jedenfalls in der Metallindustrie viele Arbeiter unmittelbar unter den Tarif schlüpfen.

        • @Kriebs:

          "Sie verstehen also Tarifabschlüsse von 5, 2 % (IG Metall 2023) und 6 % (IG BCE 2023) bei einer Inflation von 8 % also "vernünftige Tarifabschlüsse"?"

          Wenn ich mal offen sein darf: Wer 6 oder 8% in 2023 nicht für einen guten Abschluss hält, lebt - aber das hatten wir ja schon festgestellt - in einer Welt ohne Kontakt zur ökonomischen Realität

          Und was den Osten angeht: Ihr Statement dazu zeigt - mal wieder - dass große Teile der Bevölkerung dort bis heute nicht kapiert hat, wie das wirtschaftliche System dieses Landes funktioniert. Und dass es relevante Unterschiede zur DDR gibt. Die Situation also ähnlich ist, wie beim Verständnis des politischen Systems.

          Richtiggehend niedlich - und IMHO typisch - ist ihr letzter Absatz.



          In der realen Welt ist allerdings so:



          Unternehmen, die Handwerksinnungen beitreten, MÜSSEN Tariflöhne zahlen. Und selbstverständlich gilt die Tarifbindung für JEDEN Mitarbeiter, und nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder.



          Und selbstverständlich gibt das auch für die Metallindustrie.