Militärhistoriker über Kriegsvergleiche: „Der Krieg war unter Kontrolle“
Vor 400 Jahren begann der Dreißigjährige Krieg. Vieles erinnert an Syrien 2018, aber die Unterschiede sind gravierend, meint Peter H. Wilson.
Peter H. Wilson kommt etwas zu spät zum Interview in einem Café am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Berlin ist ihm fremd, er hat sich im Ort geirrt. Wilson spricht leise und formuliert bedächtig, seine Rhetorik hat nichts Auftrumpfendes. Er versteht sich weniger als Intellektueller, der Thesen und Narrative entwirft, denn als Historiker, der für Fakten zuständig ist.
taz am wochenende: Herr Wilson, berührt der Dreißigjährige Krieg noch unser Selbstverständnis?
Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg ist abgespeichert als schlimme Epoche, ohne dass man viel darüber weiß. Die Ereignisse und Akteure sind weitgehend unbekannt. Wenn, dann kennt man etwas Literatur, Schiller und Brecht.
Also ist es vorvergangene Geschichte. Seit wann eigentlich?
Das war vor hundert Jahren noch anders. Damals galt der Dreißigjährige Krieg als Universalbegründung für die Zersplitterung Deutschlands vor 1870 und dafür, dass die Deutschen eine verspätete Nation waren. Das stimmte historisch so nicht, aber dies war die Meistererzählung der Nationalisten des 19. Jahrhunderts: Weil es das Gefühl gab, damals Opfer gewesen zu sein, musste das Deutsche Reich besonders wachsam und mächtig sein.
Einer der letzten deutschen Politiker, der dieses Opferbild nutzte, war Albert Speer. Er verglich 1945 die Verwüstungen des Bombenkrieges mit denen des Dreißigjährigen Krieges. Warum tat er das?
Weil der Dreißigjährige Krieg damals ein allgemein akzeptierter Maßstab für Vernichtung von zivilem Leben war. Und weil Deutschland in diesem Narrativ, das zum Beispiel Gustav Freytag populär gemacht hatte, das Opfer ausländischer Invasoren war.
War der Dreißigjährige Krieg denn die Gewaltexplosion gegen die Zivilbevölkerung? Ist das reale Historie – oder eine zugespitzte Opfermetaphorik bürgerlich-nationaler Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts?
Beides. Wir haben es mit einem eskalierenden Konflikt zu tun, der 1618 als regionaler Streit zwischen dem Kaiser und Böhmen beginnt und der zu einem europäischen Großkonflikt anschwillt, in den Spanien, Schweden und Frankreich involviert sind. Es ist aber falsch zu denken, dass von der Ostsee bis an die Alpen 30 Jahre lang ununterbrochen Krieg herrschte. Manche Regionen waren jahrelang unberührt von Gewalt. In den ersten 15 Jahren waren einzelne Gegenden, etwa Brandenburg und Württemberg, betroffen. Der Krieg war begrenzt und politisch unter Kontrolle. Es gab zwar Gewaltexzesse gegen Zivilisten, Morde, Vergewaltigungen, Plünderungen, besonders nach der Belagerung von Städten, die Widerstand leisteten. Aber das war die brutale Praxis, die wir in Kriegen in Estland im späten 16. Jahrhundert oder den französischen Religionskriegen auch finden. Besonders war nur die lange Dauer dieses Krieges, nicht aber verselbstständigte Gewalt.
Wirklich? 1638 erscheint Philip Vincents Buch „Lamentations of Germany“, das das Grauen des Krieges drastisch schildert. Schon den Zeitgenossen war also bewusst, dass dies doch ein außergewöhnlich brutaler Krieg war.
Ja, und Vincents Buch sorgte in England dafür, dass sich die englischen Bürgerkriegsparteien aufgerufen fühlten, solche Eskalationen zu vermeiden.
Peter H. Wilson, 54, ist Kriegshistoriker und hat eine Professur in Oxford. Kürzlich erschien auf Deutsch seine Studie „Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie“. Theiss Verlag, Darmstadt 2017, 1.168 Seiten, 49,95 Euro
Ein echter Erfolg der Kriegsberichterstattung.
In der Tat. Aber trotzdem: Es gab Exzesse, insbesondere in der zweiten Kriegshälfte, insbesondere in Brandenburg, Pommern und der Donauregion, die von Heeren wieder und wieder verwüstet wurden. Aber das war nicht der Normalmodus des gesamten Krieges.
Was ist mit den marodierenden Banden? Waren die nur die spektakuläre Ausnahme?
Eher ja. Typisch waren die gewaltigen vagabundierenden Heere, die Bauern und Städten gewaltsam enorme Abgaben abpressten. Aber das waren kämpfende Heere, die zu politisch-militärischen Zwecken eingesetzt wurden, keine Banden, die wie Räuber das Land verheerten.
Aber was ist mit den Bauernguerillas, die aus Notwehr gegen die Soldateska kämpften?
Die gab es. Aber nur in Gebieten, in denen jede Ordnung zusammengebrochen war.
Wie in Failed States?
Genau.
Kann man die Gewalt des Dreißigjährigen Kriegs sinnvoll mit der des Zweiten Weltkriegs vergleichen?
Natürlich, wenn man sich immer die unterschiedlichen Verhältnisse vergegenwärtigt. Wir wissen, dass der Krieg damals ungefähr acht Millionen Tote forderte – eine enorm hohe Zahl, wenn wir die damalige Bevölkerungszahl betrachten. Es gab sehr viele blutige Schlachten. Die Zivilbevölkerung fiel aber weniger der Soldateska zum Opfer als vielmehr der Ausbreitung der Pest durch die herumziehenden Heere sowie Hungersnöten, die oft eine direkte Folge der Beschlagnahmungspraxis der Militärs waren. Aber: Trotz der exorbitanten Opferzahlen war dies kein Vernichtungskrieg, der dem der Wehrmacht im Osten nach 1941 vergleichbar wäre. Denn wir haben es hier mit militärischen Operationen zu tun, die machtpolitischen Zielen dienten, nicht der Auslöschung von Zivilbevölkerung oder des Gegners an sich.
Warum hört der Krieg 1648 auf? Aus Erschöpfung?
Nein, das ist zwar eine gängige Erklärung. Aber 1648 gibt es noch 60.000 schwedische Soldaten im Land. Die sind erst drei Jahre später demobilisiert. Der Krieg hätte noch weitergehen können.
Also warum Frieden?
Weil die wichtigen Kombattanten – Frankreich, Schweden, der Kaiser – genug gewonnen hatten. Die Schlachten der letzten fünf Jahre vor dem Westfälischen Frieden dienten dazu, Erreichtes zu sichern oder die Stellung bei den Verhandlungen zu verbessern.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
1648 wird möglich, weil der Krieg für die zentralen Mächte nicht mehr nützlich scheint?
Ja, vor allem weil der Kaiser verstanden hat, dass er keinen Siegfrieden erreichen wird. Das war zuvor das zentrale Hindernis gewesen. Das Wichtigste: Der Friede ist möglich, weil es einen rechtlichen Rahmen gibt, den niemand infrage stellt – die Ordnung mit Reichsständen und dem Kaiser an der Spitze. Man kämpfte um Deutungen der Reichsverfassung, um Machtpositionen – aber innerhalb des von allen akzeptierten Systems der Reichsverfassung.
Es gibt ja auffällige Parallelen zu den Konflikten in Syrien oder Libyen: Es sind, wie der Dreißigjährige Krieg, religiös aufgeheizte Konflikte, die von dritten Mächten wie Russland, den USA, Iran und Saudi-Arabien angeheizt und überlagert werden. Frank-Walter Steinmeier hat, noch als Außenminister, gesagt, dass der Nahe Osten einen Westfälischen Frieden brauche.
Politiker benutzten oft Geschichte, um Punkte zu machen. Das ist selten glücklich, weil es meist Vereinfachungen sind.
Ist der Vergleich schief?
Eher ja. Das Osmanische Reich existiert ja nicht mehr. Denn das wäre in der Analogiebildung die Reichsverfassung, die den Rahmen bilden würde, der die Einigung erst ermöglicht. Insofern ist es 2018 schwieriger.
Aber wenn wir an die Kriegspraxis denken, gibt es doch Ähnlichkeiten. Im Dreißigjährigen Krieg gab es Warlords wie Mansfeld oder Wallenstein, die Söldnertruppen anführten. Genau dies finden wir in den entgrenzten Kriegen von Libyen bis Afghanistan nun wieder.
Vorsicht mit den Analogien. Die Warlords in Afghanistan ersetzen eine zusammengebrochene Staatlichkeit und entsprechen in diesem Bild eher Fürsten. Mansfeld ist ein anderes Modell: Er kämpft für wechselnde Auftraggeber, aber immer auf Seiten der Antikaiserlichen. Und er regiert kein Territorium.
Also ist Mansfeld eher ein, modern gesagt, Chef einer outgesorcten Truppe der Antikaiserlichen?
Ja, er hat insofern mehr mit einem privaten Militärdienstleister wie Blackwater gemein als mit einem Warlord in Afghanistan. Es gibt Ähnlichkeiten. Aber der Dreißigjährige Krieg ist keine Blaupause für die neuen, entgrenzten Kriege.
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