400 Jahre Prager Fenstersturz: Die Erfindung der Vergangenheit
Die Gewaltorgie des Dreißigjährigen Krieges begann vor 400 Jahren. Hat das 2018 noch etwas mit uns zu tun? Ein Museumsbesuch mit Herfried Münkler.
Wittstock taz | Schwarzer Hut, Ledermaske, ein nach vorne gebogener Schnabel. So sahen wohl Helfer und Ärzte aus, die 1638 in Wittstock an der Dosse Pestkranke versorgten und Tote begruben. Die Gestalt mit der Schutzkleidung ist ein Blickfang im Museum des Dreißigjährigen Kriegs in Wittstock, in Deutschland das einzige seiner Art. Die lebensgroße Maskenfigur „könnte aus dem venezianischen Karneval stammen“, sagt der Politikwissenschaftler und Militärexperte Herfried Münkler.
Es ist ein grauer Dienstag im Februar. Nur eine Handvoll Besucher frequentiert das Museum, obwohl 2018 ein Jubiläumsjahr ist. Am 23. Mai 1618 begann mit dem Prager Fenstersturz ein Konflikt, der sich zum europäischen Großkrieg ausweitete und in den 1630er Jahren ganze Landstriche in Deutschland verwüstete.
Münkler, 66, Professor an der Berliner Humboldt-Universität und umtriebiger Intellektueller, hat ein erfolgreiches Buch verfasst: „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648“. Das Skript für das 900-Seiten-Werk hat er, ganz deutscher Professor, mit der Hand geschrieben und abtippen lassen. Dass die Auflage 40.000 beträgt, lässt er nebenbei fallen.
Das ist viel für ein Werk über einen Krieg, der im Kollektivgedächtnis der Deutschen weitgehend verblasst ist, überblendet von den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Die Zeit hat Münkler mal einen „Ein-Mann-Thinktank“ genannt. Er schreibt flüssig, ohne die Sätze mit akademischen Straßensperren zu verbarrikadieren, und verknüpft wissenschaftliche Reputation mit einem zielsicheren Gespür, was der Sachbuchmarkt verlangt.
Wie bei „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ über den Ersten Weltkrieg war er früher als die Konkurrenz auf dem Markt. Und er verknüpft gekonnt historisch detaillierte Darstellungen mit thesenstarken Bezügen zum Jetzt. Der Dreißigjährigen Krieg erscheint als Blaupause für den Syrienkonflikt, mit Kriegsunternehmern wie Wallenstein oder Erich von Mansfeld und einer unübersichtlichen Melange aus Religionskrieg und Machtinteressen.
Dreiviertel an der Pest gestorben
Das Museum ist in dem massiven Wittstocker Bischofsturm beheimatet, der seit dem 13. Jahrhundert Wohnsitz der Bischöfe von Havelberg war. Münkler schaut sich ein Faksimile des Totenbuchs der Stadt an. Im Jahr 1638 starben Dreiviertel der Wittstocker an der Pest. Danach war die Stadt fast leer. So war es auch in anderen Städten Nordbrandenburgs, in Schwedt, Prenzlau, Templin.
Die Pest war eine Nebenwirkung des Kriegs, der damals wie Säure die Städte verätzte. „Die Heere waren wie Maschinen, die Epidemien verbreiteten“, sagt Münkler in weichem, rundem, hessischem Idiom. Auch deshalb waren die Opferzahlen so monströs. Der Dreißigjährige Krieg forderte, gemessen an der Bevölkerungszahl, mehr Opfer als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen.
Vitales, dampfendes, grausiges Morden
„Die Reduzierung der Bevölkerung ist ein Kollateraleffekt des Kriegs, nicht das Ziel. Aber systemisch betrachtet kann man Kriege als Form der demografischen Anpassung an die Ressourcen beschreiben. Es gab auch eine Überbevölkerung“, sagt Münkler vor dem Totenbuch. Ein kalter, moralferner Satz, dem alles Humanistische fehlt. Linke Studierende bescheinigten ihm 2015 in dem Blog „Münkler-Watch“ umgehend „Militarismus und Rassismus“. Auch wegen solch kühler Sentenzen.
Münklers Denken kreist um Macht. Seine Dissertation schrieb er über Niccolò Machiavelli. Geschichte ist in seinen Werken ein Feld unversöhnlicher Konflikte und Machtkämpfe. Den Dreißigjährigen Krieg zeigt er detailliert als politisches Ränkespiel, mit wechselnden Koalitionen und als Abfolge von Schlachten, aus militärstrategischer Perspektive, weniger aus jener der Opfer. Münkler hat ein Faible für Militärgeschichte, ein Genre, das hierzulande, verglichen mit angelsächsischen Ländern, unterbelichtet ist. Die katastrophalen Erfahrungen haben nach 1945 zu einer gewissen Distanz zur allzu kühlen, emphatielosen Beschäftigung mit Krieg geführt.
Münkler erklimmt die knarrende, steile Treppe des Museumsturms. Im 6. Stock blickt man durch das Fenster des massiven Turms auf Bäume, Plattenbauten, ein Gewerbegebiet und am Horizont auf einen Hügel, den Weinberg. Ein gewöhnlicher Ausblick. Er gibt nicht preis, was dort geschah.
„Gräuliches Schießen, das Klappern der Harnische, das Krachen der Piken, die Schreie der Verwundeten und der Vorwärtsstürmenden und dazu die Trompeten, Trommeln und Pfeifen – das alles ergab eine grausige Musik.“ Diese Schlachtbeschreibung stammt aus Jacob Grimmelshausens Roman „Der abenteuerliche Simplicissimus“. Exakt dort, auf der ein paar Kilometer entfernten Anhöhe, fand am Nachmittag des 4. Oktober 1636 die Reiterschlacht zwischen Schweden und den Kaiserlich-Sächsischen statt. Unter der Erde dort liegen ein paar Tausend Gebeine, die Toten der Schlacht von Wittstock.
„Opfererzählungen sind immer heikel, weil sie Rache legitimieren“
Die schildert Grimmelshausen als vitales, dampfendes, grausiges Morden. „Manche Pferde sah man tot unter ihren Herren zusammenbrechen, übersät mit Wunden, die sie unverschuldet, zum Lohn für ihre treuen Dienste empfangen hatten. Andere stürzten aus der gleichen Ursache auf ihre Reiter und hatten so im Tod die Ehre, von denen getragen zu werden, die sie in ihrem Leben hatten tragen müssen. Die Erde, die doch sonst die Toten deckt, war an diesem Ort nun selbst mit Toten übersät. Da lagen Köpfe, die ihre natürlichen Herren verloren hatten, und Leiber, denen die Köpfe fehlten. Manchen hingen die Eingeweide aus dem Leib, anderen war der Kopf zerschmettert und das Hirn zerspritzt. Da lagen abgeschossene Arme, an denen sich noch die Finger regten, als wollten sie in den Kampf zurück.“
Copy and paste in der frühen Neuzeit
Allerdings war Grimmelshausen bei der Schlacht nicht dabei. Manches hat er aus Berichten, anderes aus einem englischen Roman aus dem 16. Jahrhundert übernommen. Copy and paste gab es auch in der frühen Neuzeit.
Münkler kommentiert den Text auf der Stellwand aus dem Simplicissimus. „Nichts ist, wo es hingehört: nicht die Eingeweide, nicht Reiter, nicht Pferde. Die Toten werden nicht mehr begraben. Grimmelshausen beschreibt Ordnungsverlust. Dieses Motiv gibt es auch in Ernst Jüngers Stahlgewittern. Die Leichen bleiben im Stacheldraht zwischen den Schützengräben und werden zu Mumien.“
Die beiden feindlichen Truppen, die sich Anfang Oktober Wittstock näherten, waren zwei Städte auf Rädern. Den je ungefähr 20.000 Söldnern folgte bei Schweden und Kaiserlichen die Infrastruktur des Krieges. Die Trosse bestanden aus Familien der Soldaten, Gauklern, Prostituierten, Köchen, Schlachtern, Händlern, Vieh. Die schwedische Armee, die vor Wittstock lag, verbrauchte täglich 400 Zentner Brot, 50 Ochsen, 1.200 Fässer Bier.
„Der Tross“, so Münkler, „marschierte nicht in einer Reihe auf Wittstock zu, um kein leichtes militärisches Ziel zu sein. Er näherte sich in der Breite von zehn Kilometern der Stadt.“ Die beide Trosse warteten abseits den Ausgang der Schlacht ab. Die Verlierer wurden geplündert, das war die Regel. Die Hygiene war katastrophal. Zehntausende verrichteten ihre Notdurft im Freien, Trosse und Heere waren Treibhäuser für Infektionen.
Staubige Schlacht, unklare Sieger
Die Schlacht begann spät, erst mittags. Es dauerte, bis sich die Truppen formiert hatten. Um die 33 Kanonen der kaiserlich-sächsischen Armee feuerbereit in Stellungen zu bringen, mussten 3.000 Soldaten anpacken und 600 Pferde ziehen.
Der Kampf beginnt. Es ist dreckig, staubig. Auch von dem berühmten Feldherrenhügel aus ist die Sicht mies. Es ist dröhnend laut, nicht nur wegen der Schreie der Verwundeten, auch wegen der Pauken, die die Kanonaden koordinieren. „Die Stoßtruppen, die als Erste eingesetzt werden“, so Münkler, „sind besonders gefährdet. Die Chance zu überleben, liegt im Nahkampf und bei Artilleriebeschuss bei 50 Prozent.“
Als die Sonne untergeht, weiß noch niemand, wer Sieger, wer Verlierer ist. Um 19.17 Uhr wird es stockfinster, der Mond über Wittstock verschwindet. Die Generäle verfügen auf beiden Seiten nur über spärliche Informationen. Der Rest ist Nervensache. Wer zu früh das Schlachtfeld räumt, kann den Sieg verschenken, wer es zu spät tut, das Heer verlieren.
„Wittstock“, so Münkler, „war eine außergewöhnlich komplexe Schlacht. Die Heere waren etwa gleich groß. Die Kaiserlichen waren im Vorteil, weil sie früher dort waren, bereits Hügel besetzten und Verschanzungen angelegt hatten. Feldmarschall Johan Banér teilte seine schwedischen Truppen in drei Gruppen und griff im Rückraum an. Das war ausgesprochen riskant, alles hing vom Zeitregime an, ob die Angriffe im exakt richtigen Moment erfolgten. Das hat funktioniert.“
Miese Zähne, kaputte Gelenke
Die Kaiserlich-Sächsischen Truppen ziehen nachts ab. Banérs Truppen plündern die Toten auf dem Schlachtfeld aus. Verwundete, die Glück haben, landen bei Feldschern, notdürftig ausgebildeten Medizinern, die nach der Schlacht am Fließband Arme und Beine absägen. Wer weniger Glück hat, verblutet oder stirbt an eiternden Wunden.
Im Jahr 2007 wurde am Weinberg zufällig ein Massengrab mit den Gebeinen von 125 Soldaten entdeckt, die akribisch untersucht wurden. Seitdem, sagte Antje Zeiger, Direktorin des Wittstocker Museums, „wissen wir viel mehr über die Schlacht, etwa dass im schwedischen Söldnerheer nicht nur Finnen, Letten, Schotten, sondern auch viele Deutsche waren“. Und dass der normale Soldat miese Zähne hatte, anders als die Bauern genug Proteine bekam, kaputte Gelenke vom Marschieren hatte, im Schnitt 28 Jahre alt wurde und 1,70 groß war. Und an Kopfverletzungen oder gesplitterten Knochen verendete.
Das Museum zeigt kompakt auf sieben Etagen Gründe und Chronik des Kriegs, der ein Knäuel von einzelnen, sich überkreuzenden Kriegen war, und kombiniert das Allgemeine mit dem Besonderen, dem Genius Loci. So sieht man eine 15 Kilo schwere Kanonenkugel, die am 4. Oktober 1636 abgefeuert wurde, metallene Sturmhauben der Infanterie, Musketen, Schanzkörbe aus Weiden und einen Kürassierharnisch, mit dem sich die Reiterei vor Pikenieren schützte. Und eine scharfe Säge für Amputationen, hübsch mit Ornamenten verziert.
Nach 1630 wurde die Gewalt grenzenlos. Die Heere plünderten, und gerade weil die Soldateska in mehrfach heimgesuchten Orten nichts Essbares mehr fand, stieg das Gewaltlevel. Die Soldaten bekamen kaum noch Sold, Bauern schlossen sich in ihrer Not zu Mobs zusammen, die Soldaten massakrierten.
„Die Kirche ist sehr verwüstet worden“
Pastor Emanuel Colasius aus Gottberg bei Neuruppin schrieb 1638 im Kirchenbuch:
„Man hat kein Dorf nennen können, da es nicht gebrannt. Der Vorrat an Gerste ist alle vom Felde von Soldaten weggerafft und ausgedrescht worden, so dass der Landmann nichts davon gekriegt. Die Obstbäume sind ganz abgehauen worden, welches die armen Leute sehr beklaget. Die Kirche ist sehr verwüstet worden.“
So waren Vergewaltigung, Raub, Mord, Überfälle, Cholera, Pest, Hunger in manchen Regionen an der Tagesordnung. Die „kleine Eiszeit“ im 17. Jahrhundert bescherte zudem miserable Ernten. Dass diese Explosion von Gewalt und Elend spurlos blieb, ist unrealistisch. Die Erfahrung, dass nichts mehr sicher ist, hat das Sozialverhalten, auch das Geschlechterverhältnis verändert. Doch eine Mentalitätsgeschichte des Dreißigjährigen Kriegs, die solchen Tiefenwirkungen nachspürt, existiert nicht.
Der Krieg brachte Grauen – und bessere Zeitungen. Und einen Aufschwung für die Mode
Der Krieg brachte nicht nur Verwüstungswellen – er sorgte auch für einen Aufschwung der Presse. Es gab Flugblätter, Zeitungen, religiöse Propaganda, stets mit deftigem Spott für Verlierer. Das Journal Theatrum Europaeum, gegründet von dem Kupferstecher Matthäus Merian, druckte Schlachtbilder und wurde Pflichtlektüre der Gebildeten. „Der Krieg schuf einen Neugierraum“, so Münkler. Der Qualitätsjournalismus war ein Kollateraleffekt des Gemetzels.
Auch mit der Mode ging es kriegsbedingt bergauf. Soldaten standen außerhalb der strikten Kleiderordnung. Wer Geld hatte, kaufte Kleider. Die Spottzeichnung „Wie sich ein teutscher Monsieur all modo kleiden soll“ zeigt hämische Karikaturen gockelhafter Dressmen. Gerade weil das Sterben allgegenwärtig war, brach mitunter karnevaleske Lebenslust aus, Hedonismus aus Verzweiflung, das barocke carpe diem.
Das Museum in Wittstock ist recht neu, erst zwanzig Jahre alt. Es ist Teil des Versuchs, die Stadt neu zu erfinden – als Ort mit Patina. Wittstock hat akkurat renovierte Backsteinkirchen, imposante Gründerzeit- und hübsche Fachwerkhäuser – viel Geschichte und weniger Zukunft. Wenn die Weltgeschichte hierher kam, ging das selten gut aus. 1638 die Pest. 1945 demontierten die Sowjets die Textilindustrie. 1990 brachte die Wende Freiheiten und machte der Industrie endgültig den Garaus. Jetzt hat Wittstock, hübsch und leer, selbst etwas Museales.
Das Publikum kommt im Frühjahr mit Blick auf die 400 Jahre zahlreicher. Die meisten, so Direktorin Zeiger, interessieren sich weniger für die Schlachten und Harnische und mehr „für Alltag, Kinder, Frauen“. Mehr für den Tross als für die Armee.
Lehren für heute?
Kann man 2018 aus diesem Krieg etwas lernen – über die Binsenweisheit hinaus, dass Krieg wie Feuer ist, im trockenen Wald schnell erzeugt und schwer löschbar? Ist das Geschehen endgültig sedimentiert, bizarre Vorgeschichte, die man nur noch als Fremdes bestaunt?
Münkler skizziert in seinem Buch zwei Antworten. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg ragte steil ins 19. und frühe 20. Jahrhundert, wo sie zum ideologischen Rüstzeug des wilhelminischen Nationalismus wurde. Bis 1945 war der Krieg eine gängige Opfermetapher. Hitlers Stellvertreter Albert Speer verglich noch am 3. Mai 1945 im Radio den Bombenkrieg mit den Verwüstungen des 17. Jahrhunderts.
War das nur nachträgliche Erfindung? In dem Gedicht „Tränen des Vaterlandes“ des Barockdichters Andreas Gryphius (verfasst 1637, ein Jahr nach der Schlacht bei Wittstock) klang das so:
„Wir sind doch nunmehr ganz, / ja mehr den ganz verheeret! / Der frechen Völker Schar, / die rasende Posaun / Das vom Blut fette Schwert, / die donnernde Karthaun / Hat aller Schweiß, und Fleiß, / und Vorrat aufgezehret. / Die Türme stehn in Glut, / die Kirch’ ist umgekehret. / Das Rathaus liegt im Graus, / die Starken sind zerhaun, / Die Jungfraun sind geschänd’t, / und wo wir hin nur schaun, / Ist Feuer, / Pest, / und Tod, / der Herz und Geist durchfähret.“
War die Opferstilisierung des deutschen Nationalismus also nicht die Erfindung, sondern das Echo der Vergangenheit? Münkler widerspricht. Gryphius formulierte das Bewusstsein einer winzigen Elite. „Eine Eigen-Fremd-Codierung entlang der Karte des Heiligen Reiches deutscher Nation hatten nur ganz wenige. Für die Masse endete Heimat im Umkreis von ein paar Kilometern. Dahinter begann die Fremde.“ Das nationalistische Bürgertum im Wilhelminismus erträumte sich so gesehen einen leidenden „Kollektivkörper Deutschland, der im 17. Jahrhundert noch gar nicht existiert hatte“.
Aus dem Dreißigjährigen Krieg, so Münklers Pointe, konnte man um 1900 „zwei Schlussfolgerungen ziehen: Nie mehr Krieg. Oder nie mehr Krieg in Deutschland.“ Das Kaiserreich entschied sich 1914 für Letzteres, überfiel das neutrale Belgien und setzte auf Offensive. Die Verwüstungen des Ersten Weltkriegs fanden jenseits der deutschen Grenzen statt. Der Schlieffen-Plan war insofern ein Reflex der Verängstigungen, die der Dreißigjährige Krieg hinterlassen hatte. „Opfererzählungen“, so Münkler, „sind grundsätzlich heikel, weil sie die Lizenz für legitime Rache beinhaltet.“
Eine Blaupause für Syrien?
Der zweite Vorsprung, der ins Heute ragt, ist der Konflikt in Syrien. Münkler hat schon 2002 in „Die neuen Kriege“, die ihn als Analytiker der entstaatlichten Konflikte nach 9/11 bekannt machte, mit der Analogie zum Dreißigjährigen Krieg jongliert. In Syrien tobt, wie nach 1618, ein Bürgerkrieg, der religiös aufgeladen ist, mit Warlords und Söldnern und etlichen regionalen Mächten, Türkei und Russland, Saudi-Arabien, Israel, Iran, die involviert sind. Deshalb erscheint der Krieg in Syrien so heillos verknotet und schier unlösbar – wie es der deutsch-europäische Krieg 1636 nach der Schlacht von Wittstock war.
Aber diese Parallele ist vielleicht zu gut, um wahr zu sein. Putin mag man sich als kalt kalkulierenden Kardinal Richelieu noch vorstellen. Für den IS gibt es kein Pendant. Auch das Postkoloniale blendet diese Analogie weg. Experten für das 17. Jahrhundert, wie der Oxford-Militärhistoriker Peter Wilson oder der Jenaer Historiker Georg Schmidt, fassen Syrienvergleiche nur mit spitzen Fingern an.
Was bleibt? Der oberste, 7. Stock des Museumsturms zeigt den Westfälischen Frieden 1648, das Ergebnis eines jahrelangen zähen Deals, der so verwickelt war wie der Krieg selbst. Es galt die Interessen von 16 Staaten, von Spanien bis Dänemark, von 140 Reichsständen – von Bischöfen und Fürstentümern, Grafschaften und freien Städten – und zudem von Papst und Kaiser unter einen Hut zu bringen. Schon die Frage, welche Emissäre wann mit wem reden durften, war hart umkämpft. Und der Krieg war noch nicht erschöpft. Die Heere existierten noch, die Schlachten hätten weitergehen können.
In einem kurzen, leuchtenden Moment begannen die Diplomaten in Münster und Osnabrück einfach mit den Gesprächen. Fast freihändig.
Es gibt, sagt Herfried Münkler, „nicht nur die Dynamik des Kriegs, sondern auch die Dynamik des Verhandelns.“
Leser*innenkommentare
Reinhold Schramm
Korrektur: "Zeytregister" 1618-1672
Reinhold Schramm
Der Dreißigjährige Krieg
"Anno 1597 bin ich, Hanns Heberle, in diese betruebte und arbeitsselige welt geborgen." (Hans Heberles "Zeytregister" 1818-1672)
"Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret.
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun
Hat allen Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.
Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschändt, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot:
Daß auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen."
Andreas Gryphius hat diese Verse "Tränen des Vaterlandes" anno 1636 geschrieben.
Quelle: Jürgen Kuczynski
Geschichte des Alltags des deutschen Volkes
Studien 1
1600-1650
Pahl-Rugenstein Verlag Köln 1982
mowgli
Zitat: „Die meisten [...] interessieren sich weniger für die Schlachten und Harnische und mehr ‚für Alltag, Kinder, Frauen‘. Mehr für den Tross als für die Armee.“
Wir hatten in Deutschland noch nie so lange Frieden wie derzeit. Das merkt man. Auch in den Museen. Einerseits zeigt das, wofür sich Menschen wirklich interessieren. Anderseits zeigt es auch, wofür nicht unbedingt.
Wenn „linke Studierende“ einem Menschen „Militarismus und Rassismus“ vorwerfen, nur weil in seinen Schriften „kühle[] Sentenzen“ vorkommen, hat das eindeutig mit einem Mangel an Kompetenzen zu tun, der sich gut rächen kann. Kriege sind nämlich eine Frage der Priorität. Die „Dynamik des Kriegs“ kommt nur zum Tragen, wenn die „Dynamik des Verhandelns“ nicht zum Tragen kommt. Zum Beispiel, weil Studierende zu dumm, zu faul oder zu feige sind zum Reden oder Schreiben und lieber gar nicht oder mit (zunächst verbaler) Gewalt reagieren.
Dabei hätte es das „Totschlag-Argument“ gar nicht gebraucht. Wer nicht nur unter Bauchgrummeln leidet, sondern auch ein eigenes Gehirn hat (und sollten Studierende etwa keins haben?), der hätte Münklers Aussage einfach sinnvoll ergänzen können. Systemisch kann man Kriege nämlich durchaus als Form der Anpassung an die Ressourcen beschreiben. Allerdings nur dann, wenn man die Anpassung als eine Zwangesmaßnahme versteht. Kriege sind Machtfolgen.
Es gibt keine „Überbevölkerung“. Es gibt nur Situationen, in denen es Bevölkerungen nicht gestattet wird, sich hinreichend anzupassen an die vorherrschenden Bedingungen – oder die Bedingungen so zu verändern, dass sie anschließend zur Bevölkerung passen. Deutschland kann 2018 mehr Menschen besser ernähren als 1638. Einfach, weil die Reproduktionsrate der Innovationsrate besser entspricht. Das hat mit Freiheiten zu tun. Mit Freiheiten, die 1638 nicht gegeben waren. Mit Freiheiten, die leider auch 2018 nicht selbstverständlich sind. Offenbar nicht einmal unter Akademikern.
Hartz
Erfindungen
Die Vergangenheit wird immer erfunden.
Die Gegenwart allerdings auch...
Der Mensch ist das Tier,
das erfinden kann.