Migration nach Sachsen-Anhalt: Neue Burger, alte Probleme
Einst Hugenotten, heute Syrer: Burg in Sachsen-Anhalt hat eine lange Migrationsgeschichte. Unterwegs in einer Kleinstadt, die mit Vorurteilen ringt.
D ie Grundschule Burg-Süd ist eingerüstet. Bauarbeiter blicken die Fassade hinauf, Planen flattern. 400 Fenster sind bereits ausgetauscht, 17 Lüftungsanlagen installiert, sogar ein Lift. Die Schule am Rand der Stadt wird endlich von Grund auf erneuert, der Unterricht läuft trotz Sanierung weiter. Bald wird sie ein farbenfroher Klecks in dem ehemaligen DDR-Plattenbauviertel sein.
Noch vor sechs Jahren stand die Schule vor der Schließung. Nur noch 26 Kinder waren eingeschult worden. In diesem Jahr sind es 50, von ihnen kommen 19 aus Migrantenfamilien.
Alle Eingemeindungen eingerechnet, leben in Burg, einer Kreisstadt im dünn besiedelten Norden Sachsen-Anhalts, 23.200 Einwohner. Davon sind 1.518 Ausländer, sowohl EU-Bürger als auch sogenannte Drittstaatler. Das Jahr 2015 mit seinem großen Zuzug von Geflüchteten, viele aus Syrien, Afghanistan, dem Sudan, hat auch Burg verändert.
Die Grundschule Burg-Süd kann sich glücklich schätzen. Nach Jahren der Unsicherheit steht ihr Fortbestehen fest. Die Lehrer müssten erleichtert sein. Und vorbereitet. Doch weit gefehlt, wie zur Einschulung Anfang September offenbar wurde.
Akribisch hatte die Schulleitung alle Erstklässler mit arabisch klingenden Namen von den deutschen und anderen Kindern getrennt und in einer eigenen Klasse separiert. Aus Gründen der Sprachförderung, wie es hieß. Ein syrischer Vater war entsetzt und postete auf Facebook: „Apartheid-Mentalität im deutschen Bildungssystem“. Wenn die Kriterien allein Herkunft und Name waren, was kann so etwas anderes sein als Rassismus in einer staatlichen Schule in Deutschland?, fragte er. Viele der Kinder, schreibt der Vater, seien in Deutschland geboren oder lebten schon lange hier.
Burg hat sich längst verändert, ist eine andere Stadt geworden. Aber was für eine?
Habas, wie gefällt’s dir in Burg? „Für mich ist es schön hier.“ Und wie sieht’s in der Schule aus? „Alles gut. Keine Probleme.“ Cool klingt es, wie Habas das sagt, ein schlaksiger Typ mit weißen Sneakers aus der neunten Klasse des Burger Roland-Gymnasiums. Der Flaum an seinem Kinn wird langsam zum Bart, älter als 15 wirkt er trotzdem nicht, sprachkundiger schon. „Cappuccino“ hat er eben in ein Kreuzworträtsel eingetragen. Das Lösungswort für italienische Kaffeespezialität in elf senkrecht. Und zehn waagerecht, orientalisches Süßgebäck? „Baklava“. Das kennt er von zu Hause. Und ein anderes Wort für Erstsprache, acht senkrecht? „Muttersprache“. Welche ist deine? „Farsi.“
„Stadtrallye“ heißt der Spaziergang, der etwa 30 Jugendliche auf die „Spuren von Migrant*innen in Burg gestern und heute“ führt. Er ist Teil der Interkulturellen Woche, die jedes Jahr im Herbst in ganz Deutschland zu Veranstaltungen einlädt.
Stephan Meisel, 38, nimmt als Anführer der „Stadtrallye“ immer wieder Anlauf, um bei den Halbwüchsigen Interesse zu wecken, wie sehr Zuwanderer Burg bis heute prägen. Er hält vor dem Bahnhof, deutet auf Friedhöfe, verteilt Zeitungsartikel, redet gegen den Herbstwind an und ruft: „Burg war schon immer eine Zuwanderungsstadt!“ Und nebenbei, als intellektuelles Bonbon, soll sich das Kreuzworträtsel mit den Lösungswörtern füllen.
Jetzt steht Meisel vor einem sowjetischen Panzer. Der T-34 erinnert daran, dass die Region als eine der letzten Anfang Mai 1945 von der Roten Armee erobert wurde. Bis 1994 gehörten sowjetische Soldaten zum Alltag, und Meisel bezieht den nicht ganz so geordneten Abzug der Russen aus der Burger Garnison in das Thema Migration ein. Bald nach dem Abzug der letzten Soldaten brachte der Landkreis in den leer stehenden Kasernen Asylsuchende unter. Ein Kommen und Gehen.
Die Reichelt-Affäre, Springer und der „Boy-Club“: Warum man das ganze System feuern müsste – in der taz am wochenende vom 23./24. Oktober. Außerdem: Das immer salziger werdende Wasser im Südwesten Bangladeschs gefährdet die Gesundheit der Frauen, die im Flusswasser arbeiten müssen. Und: Gefühle steuern unser Handeln, sind jedoch keine Programme, die immer gleich ablaufen. Eine emotionale Sachkunde. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Und Ari, wie findest du Burg? „Mir gefällt es hier auch“, pflichtet er Habas bei. Ari kommt aus Syrien, hat dichtes Haar und wirkt etwas stabiler als sein Freund. Weiße Sneakers trägt auch er. „Neonazis muss man aber aus dem Weg gehen“, sagt er noch, und es klingt so, als ginge es um Pfützen. Beiläufig erzählt er, dass die beiden schon von rechten Jugendlichen verfolgt wurden. „Dahinten.“ Er weist mit der Hand in die Ferne.
Habas nickt. Ist das der Grund, warum er eine Kampfsportakademie in Magdeburg besucht? „Nein. Kampfsport ist einfach meine Leidenschaft.“ Dann nennt er seine Idole, Größen der Mixed-Martial-Arts-Szene, und erzählt, dass er mindestens dreimal, oft fünfmal in der Woche trainiere. Profikämpfer ist sein Traumberuf.
Ist Burg seine Zukunft? „Nein!“ Habas schüttelt den Kopf. In wenigen Wochen zieht die Familie fort. In Lindau am Bodensee, einer Stadt so groß wie Burg, will sie sich niederlassen, dort, wo die Verwandtschaft seit Jahren lebt. Seine Mutter, erzählt Habas, arbeite in der Pflege, sein Vater war bis zur Pandemie in einem Hotel beschäftigt. In Lindau will er sich selbstständig machen. Dann wird Burg nur eine der zahlreichen Stationen sein auf dem Weg, der für die Familie 2014 in Kandahar im Süden Afghanistans begann, die Habas so mühelos aufzählen kann: Irak, Köln, Rüsselsheim, Kassel, Halberstadt und bald eben auch Burg. Zukunft gibt es woanders. Ari entgegnet, dass seine Familie in Burg bleiben will. Die Aussicht, dass beide Freunde demnächst getrennte Wege gehen, scheint sie nicht zu betrüben, jedenfalls nicht sichtbar.
Die Klassenbildung an der Grundschule Burg-Süd wurde am ersten regulären Schultag wieder zurückgenommen. Das Landesschulamt in Halle, das „aus schulfachlicher Perspektive“ zunächst nichts zu beanstanden fand, ließ die „Migrantenklasse“ auflösen und auf die beiden Parallelklassen verteilen. Zudem entschuldigte es sich bei den betreffenden Eltern, weil sie im Vorfeld nicht informiert wurden.
Zwei Sozialkundelehrerinnen des Roland-Gymnasiums haben den Ausführungen von Heimatkundler Stephan Meisel besonders aufmerksam gelauscht. Auf die Grundschule Burg-Süd angesprochen, zeigt eine der beiden Verständnis für die Kolleginnen. Das Hauptproblem bei Migrantenkindern sei doch nach wie vor die deutsche Sprache. Ihre eigene Schule sei davon weniger betroffen: Die Kinder von Migranten, die es auf ein Gymnasium schafften – viele seien es nicht –, beherrschten die deutsche Sprache natürlich. Doch im Grunde genommen würden die Schulen mit den Problemen der Integration alleingelassen, ist sie überzeugt.
Auf die Politik mag der Vorwurf zutreffen. Im Regierungsprogramm zur Landtagswahl im Juni sprach die CDU Sachsen-Anhalt zwar von Sprache als Schlüssel zur Integration. Ansonsten aber war viel von Integrationsobergrenze die Rede, von Leitkultur und kultureller Assimilation, auch von Abschiebung. Vom Willkommensein kein Wort. Die Partei von Ministerpräsident Reiner Haseloff dürfte keine große Hilfe sein, zu sehr hockt ihr die AfD im Nacken. Auf fast 20 Prozent kamen die Rechten bei der Bundestagswahl hier im Land, landeten nur knapp hinter der CDU auf Platz drei.
Doch es gibt andere zivilgesellschaftliche Akteure wie das Landesnetzwerk Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (Lamsa) in Halle, einen Zusammenschluss von über 90 Organisationen. Es hat eine Servicestelle für interkulturelles Lernen eingerichtet, jede Schule kann sich beraten lassen. Dabei geht es darum, im Unterricht Spielerisches auszuprobieren, Grußworte in anderen Sprachen etwa, es geht um andere Bräuche, Feiertage, auch geografische Kenntnisse, um Lieder. Kinder sollen vorbereitet sein auf ein Leben in einer heterogenen Gesellschaft. Es geht um ein friedvolles Zusammenleben. Und nicht nur Kinder sollten Chancen erkennen, auch Städte.
Interkulturelles Lernen müsste in der Grundschule Burg-Süd doch ein Thema sein? Die Schulleiterin, so ist zu hören, hat sich nach dem Desaster krankheitsbedingt abgemeldet. Es fanden sich in der Stadt beschmierte Wahlplakate mit heftigen verbalen Ausfällen gegen sie. Ihre Sekretärin lehnt Auskünfte ab und verweist auf das Landesschulamt. Der Sprecher des Landesschulamts erklärt, dass zur Grundschule Burg-Süd gerade eine parlamentarische Anfrage eines Abgeordneten der Linkspartei beantwortet werde, möchte dieser Antwort nicht vorgreifen und wiegelt ab. Weil die Kinder doch bereits am ersten regulären Schultag neu aufgeteilt worden seien, habe es die Klassenbildung „in der Praxis so ja nicht gegeben“.
Anruf bei der Stadt Burg. Sie ist die Trägerin der Schule. Auch der Stadtsprecher bittet, das Landesschulamt anzurufen, aber so viel sagt er dann doch: „In Kitas und Hort haben wir schon immer gemischte Gruppen.“ Inmitten der allgemeinen Herumdruckserei wirkt das Statement schon wie Kritik. Dabei ist es eine Selbstverständlichkeit. Die Stadt Burg trägt seit 2009 den Titel „Ort der Vielfalt“.
Stephan Meisel hat den Pulk der Stadtrallye zu einem echten Ort der Migration geführt: Wer sich vom Erfolg von Zuwanderung überzeugen will, sollte die französische Kolonie mit reformierter Kirche und Hugenottenkabinett besuchen. Die Glaubensflüchtlinge, die um 1700 aus Frankreich kamen, prägen die Stadt bis heute. Ganze Gewerke gehen auf sie zurück, ihre Nachfahren leben heute noch hier.
Doch zum Besuch des Hugenottenkabinetts kommt es nicht. Es sind die beiden Lehrerinnen, die die Rallye abbrechen. Lächelnd versprechen sie, alle weiteren Stationen im Unterricht zu behandeln, verabschieden sich und ziehen davon. Und die Gymnasiasten? Tun es ihnen gleich. Habas und Ari ziehen fort, Schulter an Schulter. Die Zettel mit dem Kreuzworträtsel stecken in den Taschen.
„Das Schulamt hätte die Klassenbildung verhindern müssen“, sagt Thomas Lippmann am Telefon. „Es war von Anfang an Murks.“ Der 59-Jährige hat die parlamentarische Anfrage gestartet und ist einer von gerade einmal zwei Abgeordneten im Landtag, die sich zur Klassenbildung zu Wort gemeldet haben. Lippmann, bildungspolitischer Sprecher der Linken, hat sofort nach Bekanntwerden eine Anfrage an die Landesregierung gerichtet und die genaue Zusammensetzung der drei Klassen öffentlich gemacht: Die Klasse 1a wäre mit 19 Kindern rein deutsch gewesen. Die 18 Kinder der 1b wären mehrheitlich deutsch gewesen, dazu je zwei Kinder aus Polen und Russland, eines aus der Türkei und eines aus Afghanistan. Und die 13 Kinder der 1c hätten die „arabische“ Klasse gebildet.
Lippmann, der selbst Schulleiter war, treibt die Frage um, wie das Landesschulamt auf die Idee kommen konnte, diese erkennbare Diskriminierung aus „schulfachlicher Perspektive“ abzusegnen. Er erläutert, dass sich bei der Schuleingangsuntersuchung eigentlich feststellen lässt, welchen Entwicklungsstand jedes einzelne Kind hat. Dann könne man sich darauf einstellen. „Natürlich ohne die Kinder zu trennen. Das ist pädagogisch völlig abseitig.“
Wenn das aber wegen Corona gar nicht möglich war, wie die Schulleitung erklärte, man also gar nicht wusste, welchen Sprachbedarf es bei den Kindern gibt, und einfach nach Herkunft und Namen trennt, dann muss man sich nicht wundern, wenn einem Rassismus vorgeworfen wird. „Es ist nicht nur eine Fehlleistung der Schule, sondern auch des Landesschulamts.“
Der zweite Abgeordnete, der sich geäußert hat, ist Hans-Thomas Tillschneider, AfD-Mitglied und, wie seine Fraktion betont, „habilitierter Arabist“. Tillschneider lobt die Absichten der Burger Grundschule. Sie habe damit die Forderung der AfD umgesetzt, „Sonderklassen für Flüchtlingskinder“ zu schaffen. Leider sei das Landeschulamt „unter dem Druck der Migrantenlobby“ eingeknickt, bedauert Tillschneider, der sich aktuell auch um die „verwurzelten“ deutschen Einzelhändler in den Innenstädten sorgt.
Das Zentrum von Burg wird von der Schartauer Straße bestimmt. Sie ist die Ladenmeile mit Geschäften, Sparkasse, einigen Cafés und Restaurants. An diesem Nachmittag dominieren Ältere mit Einkaufstaschen, Schulkinder auf dem Nachhauseweg und Vorschulkinder, die ihre Fahrradkünste testen. Auch Mütter mit Kinderwagen ziehen vorüber, nicht wenige von ihnen tragen Kopftuch.
Es ist kein Vergleich zu dem Gedränge der DDR-Jahre, als die Bürgersteige voll waren mit Einheimischen und zwischendrin sowjetischen Offiziersfrauen mit schicken Pelzkappen – kaum einer, der sie nicht als „Russenweiber“ verunglimpfte. Die Straße hat an Bedeutung verloren, so wie Burg massiv Einwohner eingebüßt hat. In der eigentlichen Stadt, ohne die umliegenden Dörfer, leben keine 20.000 Menschen mehr, 10.000 weniger als 1990.
„Damaskusstraße.“ Wie bitte? „Damaskusstraße! Haben Sie das noch nicht gehört?“ Ewa Kozlowska-Voigt lacht kurz über diese Ahnungslosigkeit. „Schauen Sie sich um.“ Es gebe viele neue Geschäfte, Barbiere, Änderungsschneider, Dönerläden, und es werden mehr. Gleich nebenan lädt das Istanbul-Frühstücks-Haus zum Verweilen, und gegenüber bietet ein Laden Obst und Gemüse an, im Schaufenster arabische Schriftzeichen. Eigentlich gehört das Eiscafé Venezia, wo Ewa Kozlowska-Voigt Platz genommen hat, auch in die Kategorie Nichtdeutsch. Das italienische Café wird von portugiesischen Zuwanderern geführt. Es offeriert opulente Eiskreationen. Kozlowska-Voigt lehnt die Kalorienbomben ab.
Ari, Schüler des Roland-Gymnasiums und aus Syrien nach Burg geflüchtet
Sie selbst ist auch zugewandert, beginnt sie. Vor 32 Jahren ist sie aus Polen nach Burg gekommen. Sie stamme aus Lublin. „Wissen Sie, da war das KZ Maidanek.“ Ihre Stimme ist klar, ein bisschen prüfend. Wahrscheinlich hat das mit ihrem Beruf zu tun. Sie ist Dozentin für Deutsch als Fremdsprache, hat schwarzes, kurzes Haar, ist von schlanker, hochgewachsener Gestalt, Anfang 60. Sie habe schon ganze Generationen von Flüchtlingen unterrichtet, sagt sie. Mal seien es die Großeltern, mal die Eltern der Kinder gewesen, die jetzt eingeschult würden.
Derzeit unterrichte sie vor allem Frauen. Warum? 2015 seien zunächst die Männer gekommen. Diese hätten ihre Ehefrauen später nachgeholt. „Und wenn man sich lange nicht gesehen hat“, sagt sie, macht eine kurze Pause, blickt sich fragend um und fährt fort, „dann kommen Kinder!“ Und jetzt, wo der Nachwuchs aus dem Gröbsten raus sei, hätten sie Zeit, die deutsche Sprache zu erlernen.
Kozlowska-Voigt ist eine erfahrene Dozentin. Seit 2002 lehrt sie freiberuflich an verschiedenen Einrichtungen, eine davon ist die Burger Volkshochschule. Kozlowska-Voigt will nicht nur Integration lehren und die deutsche Sprache vermitteln, sondern ihren Kursteilnehmerinnen auch Selbstvertrauen einflößen. „Wie viel Zeit habt ihr für euch am Tag, nur für euch?“, hat sie neulich gefragt. Die Antwort: Schweigen. „Und wie viel Zeit haben eure Männer?“ – „Viel!“ – „Sagt euren Männern, dass ihr täglich eine halbe Stunde nur für euch haben wollt. Mindestens.“
Hat sie Erfolg? Die Menschen, Männer wie Frauen, blieben weiterhin ihren Vorstellungen verhaftet, sagt sie. Und bei den Einheimischen fänden die sich ja auch, wie die verkorkste Einschulung beweise. Wie man auf so eine Idee kommen könne, sei ihr schleierhaft. „Kinder lernen doch ganz anders als Erwachsene. Sie lernen am besten von anderen Kindern!“ So aber könnten Menschen nicht zueinanderkommen, nicht die kleinen, nicht die großen. „Die Integration ist gescheitert“, sagt Kozlowska-Voigt vernehmbar, als würde sie gerade unterrichten. Jeder könne ihre Worte hören, fügt sie an und geht.
Ewa Kozlowska-Voigt ist nicht die Einzige, die die Einkaufsmeile inzwischen eher für eine Straße in Damaskus hält. „Wenn ich durch die Burger Innenstadt gehe, sehe ich nur noch Kopftücher“, hatte Markus Kurze im Juni 2018 bedauert. Der 50-Jährige ist nicht irgendwer. Er sitzt seit 2002 für die CDU im Landtag von Sachsen-Anhalt, holt sein Mandat im Wahlkreis Burg stets direkt, zuletzt im Juni mit 38,5 Prozent. Kurze ist CDU-Kreisvorsitzender, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Kreistag und Vorsitzender des Stadtrates. Was Kurze sagt, hat Gewicht. Doch den Satz mit den Kopftüchern hielt selbst der AfD-Kreisvorsitzende für übertrieben.
Andere offenbar weniger. Anfang März 2020 versuchten Unbekannte, im Lebensmittelgeschäft Al-Salman in der Schartauer Straße, das vom 37 Jahre alten Syrer Ali A. geführt wurde, Feuer zu legen. In der Nacht hatten sie Brandbeschleuniger ins Parterre geworfen und entzündet. An die Eingangstür schmierten sie ein Hakenkreuz. Ein Feuer breitete sich in dem Mehrfamilienhaus nicht aus, zum Glück. Der Staatsschutz ermittelte gegen unbekannt. Das Verfahren wurde im November 2020 eingestellt.
Wenige Tage nach dem Brandanschlag drückte das Bündnis Burg gegen Rechts sein Entsetzen aus, rief zur Solidarität mit Ali A. auf und distanzierte sich von Ausgrenzung und Rassismus. „Wir wollen, dass sich alle Menschen sicher und willkommen fühlen“, schreiben die zum Bündnis gehörenden Personen und Gruppen. Ali A. hat sich nicht umstimmen lassen. Seine Familie ist weggezogen, der Laden steht leer.
„Ausländer raus! Geht nach Hause!“ – solche Parolen waren ans Schaufenster geschmiert. Ashwaq Al-Obaidi winkt ab. Was habe es nicht alles an Beschimpfungen gegeben, als sie 2015 das erste Geschäft für orientalische Lebensmittel eröffnete. „Es war eine schlimme Zeit.“ Diese Zeit ist offenbar vorüber. Der Döner Burg, den sie inzwischen betreibt, ist eine angesagte Adresse in der Schartauer Straße. Immer wieder schaut jemand zur Tür herein, ihr Sohn nimmt Bestellungen auf. Für den großen Hunger gibt es den „XXL Döner Burg“. Er sei einer der Favoriten, erzählt sie. Die Burger mögen es üppig. Al-Obaidi ist eine zierliche Frau mit weißem Kopftuch, die gern lacht.
Vor 23 Jahren kam sie hierher. Jetzt sind ihre Kinder groß, drei von ihnen wurden in Burg geboren. Sie helfen mit oder haben ihren eigenen Laden eröffnet. Al-Obaidi hat in Burg Wurzeln geschlagen. Sie hat die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und ist ehrenamtlich engagiert. Seit Langem unterstützt sie Arabisch sprechende Geflüchtete. Al-Obaidi dolmetscht bei Ärzten, hilft auf Behörden. Und hat für die Deutschen auch schon Arabisch-Einführungskurse angeboten. So eingespannt ist sie, dass sie ihre geschäftliche Aktivität reduziert hat. Den Lebensmittelladen, sagt sie, habe sie aus der Hand gegeben. Sie lacht.
Heute hat Ashwaq Al-Obaidi den Tisch fürstlich gedeckt. In der Mitte steht ein Teller, breit wie ein Zuber und beladen mit Reis, Kartoffeln, Fleischstückchen und Rosinen, dazu Linsen, Börek, Zaziki, Salat. Viel zu viel für Birgit Kiel und Jürgen van Wieren vom Bündnis gegen Rechts, die hier als Freunde empfangen werden.
„Erzähl, dass dich der Bundespräsident eingeladen hat!“, ruft Birgit Kiel über den Tisch. – „Du warst auch dabei!“, entgegnet Al-Obaidi lachend. Seit Jahren sind die beiden Frauen befreundet und ergänzen sich perfekt. Kiel ist mit der deutschen Mentalität bestens vertraut, und Al-Obaidi weiß genau, wie es ist, wenn man allein und ohne Sprachkenntnisse hier aufschlägt.
Die Arbeit des Duos hat sich herumgesprochen. Im November 2017 wurden die beiden für ihr Engagement mit dem Integrationspreis des Landes Sachsen-Anhalt geehrt, und im Februar 2018 kam es zum Empfang bei Frank-Walter Steinmeier. Es lässt sich kaum ermessen, welche Bedeutung solche Bilder haben: als Anerkennung – und als Versicherung.
So, wie sie dasitzen, essen und flachsen, kann man sich gut vorstellen, dass die beiden von den Geflüchteten oft einfach „Mama“ genannt werden. Heute ist es aber Jürgen van Wieren, der als „Papa“ angerollt ist. Van Wieren, seit zwei Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen, hat die fünfjährige Kiana aus dem Iran mitgebracht. 60 Jahre ist van Wieren alt und vor sieben Jahren aus Ostfriesland nach Burg gekommen. Er ist Pfarrer der kleinen Hugenottengemeinde, die sich auffallend in der Flüchtlingsarbeit engagiert. Seit Jahren gewährt die Gemeinde Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, Kirchenasyl. Derzeit sind es Kianas Familie sowie zwei Syrer, die im Gemeindehaus untergekommen sind.
Es liegt an ihrer eigenen Vergangenheit, an der blutigen Bartholomäusnacht von 1572, den Religionskriegen und schließlich dem Exodus der französischen Protestanten in das Kurfürstentum Brandenburg. Van Wieren hat ein bisschen ausgeholt, um zu erklären, warum seine Gemeinde so engagiert ist.
Eine Begebenheit aus dem Jahr 2015, so bekennt er, hat sich ihm besonders tief eingebrannt. Als die Flüchtlingszahlen immer weiter stiegen und die Gemeinde über Kirchenasyl nachdachte, habe sich bei ihm eine betagte Frau gemeldet, ihren Pfarrer bestärkt und bekräftigt: Wir sind ja auch Flüchtlinge gewesen. Jürgen van Wieren dachte in dem Moment an Flucht und Vertreibung im Kriegsjahr 1945. Weit gefehlt. „Es war die Flucht aus Frankreich!“ Van Wieren, dessen Vorfahren aus den Niederlanden stammen, sei sprachlos und dankbar zugleich gewesen. Eine Rettung, die länger als 300 Jahre zurückliegt, habe diese alte Frau in ihrem Herzen bewahrt. Was für ein Schatz! Ein Schatz, der lebendig bleibe.
Mehr als schade, dass die Stadtrallye vorm Hugenottenkabinett endete. Dort hätten die Jugendlichen erfahren, dass die Hugenotten hier auf wenig Gegenliebe trafen. Willkommenskultur? Fehlanzeige. Die Geflüchteten aus Frankreich waren nichts als Konkurrenten. Und heute? Sei es nicht anders, sagt van Wieren. „Dass die Leute hier im Stadtbild erscheinen, das gibt auch Konflikte.“
Die Neuen, sie träfen auf Unverständnis, auf Missachtung, auf Neid. „Die Leute sind selbstbewusst“, sagt van Wieren. Die ließen sich doch nicht von Deutschen sagen, wann sie ihr Geschäft schließen sollen. Sie ließen sich auch von einer Schulleiterin nicht mehr diktieren, wie die Klasse zusammengesetzt wird, in der ihre Kinder lernen, wenn sie darin keinen Sinn sähen. Oder nur Ausgrenzung.
Es gibt auch eine muslimische Gemeinde. Jürgen van Wieren hat gemeinsam mit dem Iman schon zu Gottesdiensten eingeladen. Er weiß, dass das nicht unumstritten ist. Ihn ficht das nicht an. „Wir können miteinander essen, tanzen. Aber zu Gott beten, das geht nicht?“ Derzeit, erzählt er, träfen sich die Muslime in Kellerräumen zum Gebet. Irgendwann würden sie eine Moschee errichten wollen. Das dürfte zu heftigeren Diskussionen führen als bei einer gescheiterten Klassenbildung. Integration, sagt van Wieren, finde eben auch über Konflikte statt. „Sogar, wenn sie verweigert wird.“ Er nennt es „Integrationsparadox“.
Die Interkulturelle Woche, die im Jerichower Land von der Arbeiterwohlfahrt koordiniert wird, lädt am Abend zum nächsten Ereignis. Ein Klezmertrio präsentiert in einer mächtigen Kirche jüdische Lieder, gewürzt mit chassidischen Weisheiten und jüdischem Humor, dazu gibt es Wein. Der Abend ist kurzweilig. Als er zu Ende geht, steht ein schlanker, schwarzhaariger Mann beim Pfarrer. Es ist Aras Badr, der Vater, der die Klassenbildung in Burg-Süd bekannt gemacht hat.
Badr, der ein Gespräch mit Medienvertretern abgelehnt hatte, redet nun doch kurz mit der taz. Er ist ein junger, aufmerksamer Mann Ende 20. Badr bittet noch einmal um Verständnis, dass er die Auseinandersetzung jetzt nicht weiterführen wolle. Er suche nach einer Lösung, sagt er, nicht nur für seine Tochter, verabschiedet sich und fährt mit seiner Frau nach Hause, wo die Kinder schon schlafen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“