Der Hausbesuch: Drübergucken ist erwünscht
In einer Notunterkunft lernten die Mohammeds 2016 Morian Samuel kennen. Heute sind beide Familien gut befreundet – und Kleingartennachbarn.
Vor sechs Jahren sind Adeeb und Shayma Mohammed mit ihren Kindern aus dem kurdischen Teil des Iraks geflüchtet, mehrere Monate dauerte die Flucht. Mittlerweile haben sie einen Kleingarten in Brandenburg. Auf der Integrationsleiter ist das schon ziemlich weit oben. Ein Besuch im Paradies der Familie Mohammed.
Draußen: In der Gartenanlage im Westen Potsdams ist es ruhig; fast meint man, die Flügelschläge der Schmetterlinge zu vernehmen, die überall auf den Blumen sitzen. Dann zerschneidet eine Laubsäge die Stille. Mit dem klassischen Schrebergarten-Klischee hat die Anlage nur wenig gemein. Es gibt keine Gitter und Zäune, nur niedrige Hecken. Drübergucken ist erwünscht.
Drinnen: Die zwei Jungs der Mohammeds sind gerade bei einem Fußballturnier, der Rest der Familie hat an diesem Samstag Besuch: von Morian Samuel und seinen Eltern. Gemeinsam sitzen sie vor dem Gartenhaus, das Adeeb Mohammed gerade erst fertiggebaut hat. Als Vorlage diente ihm dabei die Laube der Familie Samuel.
„Aber im Gegensatz zu uns, die wir für jede Schraube ins Bauhaus gefahren sind, hat er viel improvisiert“, sagt Martin Samuel und meint es anerkennend. Adeeb Mohammed macht ein Feuer und setzt Wasser auf, die anderen decken den Tisch. Es gibt Käsekuchen, Salat, selbstgebackene Kekse und kurdische Spezialitäten wie Dolma – ausgehöhltes Gemüse und Reis in Kohlblättern und Weinblättern.
Anfänge: Bei einem Glas Tee erzählen die Familien, wie sie sich kennengelernt haben. 2016 war das, etwa ein halbes Jahr nach der Ankunft der Mohammeds in Berlin. Morian Samuel engagierte sich in der Kinderbetreuung ihrer Notunterkunft: „Ich habe um die Ecke vom Landesamt für Gesundheit und Soziales gewohnt und war beschämt, dass Menschen vor meiner Haustür wie Tiere behandelt werden.“ Tagelang hätten die Geflüchteten dort in der Schlange campiert, ohne Essen, Schlafsäcke oder warme Kleidung. Da sah er es als seine Pflicht, „als Bürger und als Mensch, dort, wo der Staat versagt, einzuspringen“.
Feiertage: Bei der Kinderbetreuung lernte Morian Samuel dann Raman, Ranya und Rian Mohammed kennen. Nach dem Spielen luden die Kinder den damals 21-Jährigen zu sich ein. „Ich habe mit ihnen in ihrem Zimmer Tee getrunken und sie haben ihr Essen mit mir geteilt. Furchtbares Kantinenessen. Mittags geliefert und abends dann kalt serviert“, erinnert sich Morian.
„Da habe ich sie in die Wohnung meiner Eltern eingeladen und gesagt: ‚Dort habt ihr Platz zum Kochen.‘“ Seine Mutter Mona nippt an ihrem Tee und wirft ein: „Sie meinten, sie bringen Weinblätter. Und dann kamen sie mit einem riesigen Topf die Treppe hoch.“ Später luden die Samuels die Mohammeds an Weihnachten zu sich ein, die erwiderten die Einladung zu Ramadan. Da hatten sie dank anderer Ehrenamtlicher bereits eine eigene Wohnung.
Wohnen: Die Mohammeds waren froh, aus der Notunterkunft raus zu sein. Mit den anderen Bewohnern, meint Shayma, hatten sie nie Probleme. Doch die sanitäre Situation, „nur ein Badezimmer für Männer und eins für Frauen bei 400 Menschen“, die tägliche Duschzeit „zwischen 23 und 24 Uhr“ und das kalte Essen gingen ihnen an die Nieren, besonders dem jüngsten Sohn Raman. Er leidet an Blutarmut und war nach den körperlichen Anstrengungen der Flucht so unterernährt, dass ein Arzt die Familie nach der Ankunft in Deutschland ermahnte, das Wichtigste seien warme Mahlzeiten.
„Aber die Unterkunft hat immer alles kalt gegeben.“ Auch Morian Samuel hingen die Eindrücke aus der Notunterkunft nach. Ende 2017 ging er in den Nordirak, um ein Heim für Kinder mitaufzubauen. „Harman“ heißt das Zentrum des Vereins „Our Bridge“ und ist eine Bildungseinrichtung geworden
Helfen: „Ich fand es toll, dass Morian einfach was gemacht hat, als diese ganze Flüchtlingshysterie war“, erzählt sein Vater. „Einmal hat er angerufen und wollte eine Familie mitnehmen. Und wir dachten noch: Du kennst die Leute doch gar nicht.“ Ihm kommen ein paar Tränen: „Aber das hat mich auch echt beeindruckt.“ Mona Samuel nickt nachdenklich.
„Das mit den Mohammeds aber ist keine Helfer-Geholfenen-Beziehung, das ist ein Geben und Nehmen“, sagt sie und erzählt, dass ihr Sohn Morian die Mohammeds mit Behördenkram unterstützt. Und Adeeb mit seinem Auto öfter Sachen für alle transportiert. „Wir sind quasi wie eine große Familie.“
Der Garten: Als die Samuels die Mohammeds 2019 das erste Mal in ihren Garten mitnahmen, rief Adeeb: „Mashallah, ist das schön! Ich möchte auch Land haben wie ihr!“ Also halfen die Samuels ihnen dabei, einen Garten in der Anlage zu bekommen. Mittlerweile haben die Mohammeds Beete angelegt und Kohlrabi, Blumenkohl und Zucchinis geerntet. Der Garten erinnere sie an ihre Kindheit, meint Shayma: „Da haben wir alles selbst angebaut.“
Heimatpflanze: Als jemand einen Stuhl verrückt, springt Adeeb Mohammed auf. „Nicht hier! Hier ist mir heilig!“ Das Gras, das an dieser Stelle gerade zu wachsen beginne, stamme von irakischen Samen, erklärt er. „In Deutschland nimmt man in so einem Fall Absperrband. Oder wirft ein Handtuch drüber“, witzeln die anderen. Adeeb schneidet eine Grimasse und stellt schnell eine Holzbank über die Stelle.
Die Reichelt-Affäre, Springer und der „Boy-Club“: Warum man das ganze System feuern müsste – in der taz am wochenende vom 23./24. Oktober. Außerdem: Das immer salziger werdende Wasser im Südwesten Bangladeschs gefährdet die Gesundheit der Frauen, die im Flusswasser arbeiten müssen. Und: Gefühle steuern unser Handeln, sind jedoch keine Programme, die immer gleich ablaufen. Eine emotionale Sachkunde. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Deutschlandbild: Nach ihrem Blick auf Deutschland gefragt, wollen die Mohammeds nichts Negatives über das Land sagen, das sie aufgenommen hat. Sie vergleichen alles mit dem Irak: „Dort kann man nachts im Schlaf von einer Bombe erwischt werden, ohne dass man sich etwas zuschulden hat kommen lassen“, meint Shayma.
Nach viel Nachbohren zeigt Adeeb auf seine Schläfen und räumt ein: „Die Briefe von Ämtern machen mir weiße Haare. Bei fünf Menschen ist das viel für einen Nacken.“ Im Irak, meint er, bekomme man nur zweimal im Leben Post – „zur Geburt und nach dem Tod“. Auch Abschiebungen findet er kritikwürdig: „Wenn jemand sein Leben hinter sich lässt und durch zehn Länder läuft, macht er das aus guten Gründen.“
Arbeit: In Deutschland Arbeit zu finden war für die Mohammeds nicht leicht. Shayma hatte im Irak nie eine Schule besucht, da ihr Vater sich als kurdischer Widerstandskämpfer mit der ganzen Familie in den Bergen versteckt hielt. „Ich wollte immer zur Schule“, sagt sie, und als sie schließlich hier in den Alphabetisierungskurs durfte, habe sie vor Freude geweint.
Mittlerweile ist sie Hilfskraft in einem Kindergarten und mag ihre Arbeit. Adeeb hat in Deutschland eine Ausbildung zum Busfahrer gemacht und sucht eine Stelle: „Ich hätte gerne sofort gearbeitet. Und würde auch jetzt lieber den ganzen Tag arbeiten als mit dem Jobcenter zu tun zu haben.“
Familie: „Manche denken, Morian sei mein ältester Sohn“, sagt Shayma und lacht, aber dann fügt sie ernst in Richtung der Samuels hinzu: „Was würden wir ohne euch machen? Es ist gut, deutsche Familie zu haben.“ Und dann erzählt sie den Samuels, dass sie im März nächsten Jahres ihr viertes Kind erwartet – „Ausgerechnet jetzt, wo ich Arbeit habe“ – und zeigt auf ihrem Handy 3-D-Ultraschallbilder.
„Das sind großartige Nachrichten. Wir werden das Kind schon schaukeln!“, sagt Mona Samuel und erzählt, dass sie bei ihrem zweiten Sohn die gleichen Sorgen hatte: „Aber Arbeit gibt es immer.“ Shayma schneidet eine Grimasse: „Ich wollte es euch früher erzählen. Aber ich hab' mich geschämt.“ Mona Samuel sagt: „Du musst dich nicht schämen, nur weil du Shayma heißt!“ Alle lachen.
Wurzeln schlagen: „Die Mohammeds sind das, was man gut integriert nennt“, meint Mona Samuel. „Die Kinder spielen alle im Fußballverein und haben Freunde gefunden, Ranya geht sogar aufs Gymnasium.“ Adeeb sagt: „Es gibt da einen kurdischen Spruch …“ und Ranya übersetzt für ihn: „Wenn Du in ein anderes Land gehst, nimmst Du was von der Kultur mit.“
Die Zwölfjährige beherrscht das Spiel zwischen den Welten, dolmetscht mühelos simultan. Als sie diesen Sommer ihre Oma besuchte, sei sie aber doch traurig geworden: „Weil ich dableiben wollte.“ Berlin sei auch Heimat. Aber eben nur auch. Später möchte sie Ärztin werden. Mona nickt: „Das schaffst du.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen