Mi­gran­t:in­nen in Tunesien: Abschiebung um jeden Preis

Tausende Mi­gran­t:in­nen und Geflüchtete harren nahe der tunesischen Küstenstadt Sfax in Lagern aus. Nun sind Gewaltvideos im Netz aufgetaucht.

Personen stehen und sitzen vor einem zelt in karger Landschaft.

Abubaker Bangura und seine Familie Foto: Mirco Keilberth

TUNIS taz | Videos in sozialen Netzwerken zeigen eine neue Welle der Gewalt gegen Mi­gran­t:in­nen und Geflüchtete in Tunesien. Polizei und Nationalgarde gehen zurzeit an dem 40 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Chebba und Sfax gegen Schmuggler und Menschenhändler vor. Die Opfer der Gewalt sind jedoch meist die Geflüchteten selbst. Die meisten sind aus Subsahara-Afrika eingereist und warten in der Region auf die Überfahrt auf die italienische Insel Lampedusa.

Eine Videoaufnahme zeigt einen Beamten auf einem Motorrad, der neben einem Schmuggler-Lastwagen fährt und die Passagiere, die hinter Matratzen Schutz suchen, mit Reizgas besprüht. Einige fallen in voller Fahrt auf die Straße, andere fliehen panisch in umliegende Gassen, als der Fahrer den Angriff bemerkt und anhält. In El Amra nahe Sfax berichteten mehrere Mi­gran­t:in­nen der taz, dass bei ähnlichen Angriffen und der Räumung von Zeltlagern mindestens 6 Menschen gestorben seien.

Tunesische Men­schen­rechts­ak­ti­vis­t:in­nen aus Sfax schätzen, dass sich mehr als 70.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land aufhalten. Das Innenministerium geht dagegen von 21.000 illegal aus Subsahara-Afrika Eingereisten aus.

Abgeschobene Geflüchtete verdursteten in der Wüste

Bei Verhaftungen, Abschiebungen und Auseinandersetzungen zwischen Mi­gran­t:in­nen und Schmugglern kommt es immer wieder zu Toten und Verletzten. Die taz wurde Mitte Mai Zeuge, als Einheiten der Nationalgarde in einem Olivenhain nahe Sfax, in dem Mi­gran­t:in­nen kampieren, Zelte verbrannten und die Menschen vertrieben.

Ein Ausschnitt einer Weltkarte zeigt das Land Tunesien umgeben von seinen Nachbarländern Algerien und Lybien sowie den Mittelmeerraum mit Sizilien.

Kritik am Vorgehen der Behörden gibt es, seitdem im Juli und September letzten Jahres an den Grenzen zu Algerien und Libyen Dutzende abgeschobene Geflüchtete verdursteten. Als Folge des mit der EU geschlossenen Migrationsabkommens fangen Patrouillen der Küstenwache fast alle in Richtung Lampedusa fahrenden Schleuserboote ab und schicken die Insassen zurück aufs Festland. Die Mi­gran­t:in­nen kehren dann meist in die Olivenhaine zurück.

Nun sollen die Lager nördlich von Sfax offenbar aufgelöst werden und die Mi­gran­t:in­nen im Rahmen einer mit Algerien und Libyen geschmiedeten Allianz nach Niger abgeschoben werden. Noch kommen jedoch mehr Menschen an, als in Bussen an die Grenzen deportiert werden.

Katastrophale hygienische Zustände in Lagern

„Jeden Tag kommen Dutzende Flüchtlinge aus dem Sudan in unser selbstverwaltetes Lager“, sagt Abubaker Bangura aus Sierra Leone. Er lebt mit seiner zweijährigen Tochter, Frau und sechs Mitreisenden auf einem „Kilometer 30“ genannten Olivenfeld. „Außerdem suchen Opfer der Polizeigewalt aus benachbarten Olivenhainen hier Schutz“, sagt Bangura.

„Wir Männer trauen uns aus Angst vor Verhaftungen nicht mehr in Städte wie El Amra. Da Migranten nicht mehr als Tagelöhner arbeiten dürfen, bitten unsere Frauen um Lebensmittelspenden.“

Die Zustände auf dem westlich von El Amra gelegenen „Kilometer 30“ erinnern an ein Flüchtlingslager in einem Kriegsgebiet. 3.000 Menschen aus 19 Ländern leben hier in selbst gebauten Zelten oder schlicht auf Decken. Die hygienischen Zustände sind katastrophal. Viele klagen über Dengue-Fieber und die dadurch verursachten Fieberschübe und Gliederschmerzen.

Tunesische Jour­na­lis­t:in­nen eingeschüchtert

Der Besitzer der Felder versorgt die Be­woh­ne­r:in­nen zwar mit Wasser. Grundnahrungsmittel und Medikamente sind jedoch kaum vorhanden. „Ohne die Spenden tunesischer Nachbarn gäbe es hier eine Hungersnot“, sagt die sichtlich geschwächte Mariatsu Kabu aus Freetown, Sierra Leone. „Ich esse nur zweimal pro Woche eine echte Mahlzeit.“ Bei El Amra fanden Anwohner am Wochenende mehrere verscharrte Leichen von offenbar an Krankheiten gestorbenen Bewohnern der Camps.

Tunesische Jour­na­lis­t:in­nen trauen sich kaum noch über die Zustände rund um Sfax und an den Landesgrenzen zu berichten. Im September 2022 wurde in Tunesien das Gesetzesdekret 54 eingeführt. Damit solle die Internetkriminalität eingedämmt werden, versprach Präsident Kais Saied. Für die Verbreitung von vermeintlichen Falschinformationen drohen seither Haftstrafen von bis zu zehn Jahren. Verhaftungen und Deportationen finden seitdem weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Neuerdings ermittelt die Staatsanwaltschaft auch gegen Journalist:innen, die den Umgang der Regierung mit Mi­gran­t:in­nen kritisieren. Erst im Mai wurden die Radiokommentatoren Mourad Zeghidi und Bohren Bsaies vom Hauptstadt-Radiosender IFM zu jeweils einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Arbeit des UNHCR ruht

Seit Anfang Mai Mustafa al-Jamali, der Präsident der Nicht-Regierungs-Organisation „Tunesischer Rat der Flüchtlinge“, verhaftet wurde, ruht auch die Arbeit des UN-Hilfswerks UNHCR. Al-Jamali hatte intern die Unterbringung von Geflüchteten aus dem Sudan in Hotels angedacht. Seine Mitarbeitenden setzen seit Jahren die Hilfsprogramme des UNHCR vor Ort um.

Öffentlich möchten sich selbst internationale Mitarbeiter der Vereinten Nationen nicht zu der kritischen Lage der Mi­gran­t:in­nen und Geflüchteten bei Sfax äußern. Man hofft, bald wieder Zugang zu ihnen zu haben. „Deportation und Gewalt sind schon aufgrund der offenen Grenzen in der Sahara langfristig keine Lösung“, sagt eine UN-Diplomatin, die anonym bleiben möchte. „Bis die Regierung dies auch so sieht, sind uns die Hände gebunden.“

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