Migrant*innen in Tunesien: Hungerstreik im Abschiebeknast
Tunesien hält Flüchtlinge in Gefängnissen fest und will sie trotz Corona nicht entlassen. Menschenrechtler und nun auch die Insassen protestieren.
Die Insassen protestieren gegen unzureichende medizinische Versorgung und fordern aufgrund der Pandemie ihre sofortige Freilassung. Sie befürchten, dass das Corona-Virus früher oder später in das ausschließlich für Migrant*innen genutzte Zentrum eingeschleppt wird und sich angesichts der beengten Räumlichkeiten schnell ausbreitet.
Das Personal gehe trotz der Pandemie munter ein und aus, sagte ein derzeit in Wardia internierter Mann gegenüber der taz am Telefon. Gleichzeitig würden regelmäßig neue Häftlinge in die Anstalt verlegt. Auch seien keine den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsprechenden präventiven oder sanitären Maßnahmen ergriffen worden, um das Infektionsrisiko der Häftlinge zu reduzieren.
Videoaufnahmen aus der Einrichtung, die der taz vorliegen, zeigen, dass offenbar kaum Schutzmasken verteilt wurden. Darüber hinaus ist soziale Distanz angesichts des Platzmangels praktisch unmöglich.
Schon im Normalbetrieb sind die Lebensbedingungen in Wardia schwierig und entsprechen nicht den internationalen Standards. Derzeit sind rund 50 Menschen aus Algerien, Marokko, Senegal, Kamerun und anderen afrikanischen Staaten in der offiziell als „Empfangs- und Orientierungszentrum“ bezeichneten Anstalt interniert.
Menschenrechtler: Abschiebegefängnisse räumen!
Menschenrechtsgruppen haben die tunesische Regierung in der Vergangenheit immer wieder aufgefordert, die ausschließlich für Ausländer*innen genutzten informellen Haftanstalten im Land zu formalisieren, die sich rechtlich in einer Grauzone bewegen. Das Land müsse die gegen internationales Recht verstoßenden Abschiebungen von Menschen in die Nachbarländer Libyen und Algerien unverzüglich einstellen.
Angesichts des Corona-Virus richteten sich Ende März mehrere UN-Organisationen mit einem Appell an die Weltgemeinschaft. Darin heißt es, Flüchtlinge und Migrant*innen seien einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Die in formellen und informellen Haftanstalten und unter „beengten und gesundheitsgefährdenden Bedingungen“ internierten Flüchtlinge und Migrant*innen sollten daher unverzüglich freigelassen werden, heißt es in der unter anderem von der WHO und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR unterzeichnete Erklärung.
Tunesiens Staatspräsident Kais Saïed hatte schon im März rund 1.400 Häftlinge aus regulären Vollzugsanstalten im Land entlassen, um angesichts der Corona-Pandemie die Ansteckungsgefahr in den überbelegten Gefängnissen zu reduzieren. Inzwischen wird im Land jedoch auch lautstark gefordert, die Haftanstalten mit Migrant*innen zu räumen.
Es sei nicht notwendig, Menschen angesichts der Coronakrise in Administrativhaft zu halten, wenn gegen diese keine strafrechtlichen Prozeduren laufen, so Romdhane Ben Amor, Pressesprecher der tunesischen Menschenrechtsorganisation Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) gegenüber der taz. Er fordert die unverzügliche Freilassung aller Insassen in Tunesiens Abschiebegefängnissen.
Zivilgesellschaft begrüßt Maßnahmenpaket
In einer am Freitag veröffentlichten Erklärung äußern sich mehrere Dutzend Menschenrechtsgruppen und Vereine betont wohlwollend zu einem Maßnahmenpaket zugunsten von im Land lebenden Ausländer*innen, das die Regierung diese Woche erlassen hat. Gleichzeitig fordern aber auch sie die Freilassung der in Wardia und anderen informellen Haftanstalten internierten Menschen. Diese seien angesichts der Corona-Pandemie „enormen Gesundheitsrisiken“ ausgesetzt.
Tunesien hatte bereits unter der Regentschaft des 2011 gestürzten Diktators Zine el-Abidine Ben Ali auf Druck der EU seine Haft- und Abschiebepraxis von Migrant*innen massiv verschärft. Vor 2011 unterhielt das Land mindestens 13 semi-legale Internierungseinrichtungen für Migrant*innen und schob Menschen immer wieder unter Verletzung internationalen Rechts in die Nachbarländer Algerien und Libyen ab.
Die Migrant*innen werden meist in Grenzregionen ausgesetzt und gezwungen, zu Fuß und ohne Wasser oder Proviant die Grenzen zu überqueren. Zuletzt waren Anfang März fünf in Wardia inhaftierte Menschen aus Mali, Guinea und der Elfenbeinküste nach Algerien abgeschoben worden. Algerische Sicherheitskräfte nahmen die Gruppe umgehend fest und schickten sie am Folgetag nach Tunesien zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?