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Migrant*innen in DeutschlandNeue türkische Welle

Türkische Familien, die seit Jahrzehnten in Deutschland sind, wollen neuen Migrant*innen mit Erfahrungswissen helfen. Das kann verwirren.

Die Forderung des „NSU-Tribunals“ ist klar Foto: dpa

A lle sind durcheinander im Kopf. Ich auch. Die Neuankömmlinge aus der Türkei werden in Berlin „New Wave“ genannt. Wie diejenigen genannt werden, die schon lange hier sind, weiß ich beim besten Willen nicht. Als ich noch in Istanbul lebte, nannten wir dort die in Deutschland lebenden türkeistämmigen Migrant*innen immer „Almancı“, das heißt so viel wie Deutschländer*innen.

Als wir dann herkamen, wurde uns beigebracht, dass man das Wort besser nicht sagt. Die Medien, die von Deutschland aus türkischsprachige Inhalte produzieren, sprechen auf Türkisch von „türkeistämmigen Migrant*innen“. Vielleicht können wir einfach von „Alten“ und „Neuen“ sprechen? Ich glaube ja, dass die korrekteste Ausdrucksweise sich mit der Zeit im Sprachgebrauch einfach durchsetzen wird.

Als ich neu herkam, versuchte ich mich in der türkeistämmigen Community sozial heimisch zu machen. Es war seltsam: Zu Beginn interessierten sich die Menschen aus der Community der „Alten“ brennend für uns. Sie wollten sich ausführlich mit uns unterhalten und fragten nach vielen intimen Details aus unserem Leben. Mir fiel insbesondere ins Auge, was sie uns in diesen Unterhaltungen über die Deutschen sagten. Die meisten Türk*innen und Kurd*innen sagten, die deutsche Gesellschaft sei sehr rassistisch.

Da war ich durcheinander. Was ich in den Deutschen sah, waren außerordentlich tolerante, freundlich lächelnde und hilfsbereite Menschen. Sympathisch. Selbstverständlich mit einem gewissen Anteil an Idioten unter ihnen. Proportional ungefähr so vielen, wie es sie überall auf der Welt in jedem Land gibt. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie richtig es ist, wegen der Idioten zu sagen, dass die Gesellschaft rassistisch ist.

Jede*r sollte jede*n kritisieren dürfen

Was ich verstanden habe, ist, dass die „Alten“ viele bittere Erfahrungen machen und sich an allen möglichen Formen von Ungleichheit abkämpfen mussten und uns „Neuen“ mit ihrem Erfahrungswissen helfen wollten. Gleichzeitig kam es mir so vor, als wäre die Kritik an Freund*innen, Nachbar*innen und Kolleg*innen, mit denen man jahrelang zusammengelebt hat, ein bisschen ungerecht. Ich hoffe, ich irre nicht.

Aber es gab noch etwas anderes, was mich traurig gemacht hat: Wenn ich als eine „Neue“ etwas an den „Alten“ kritisieren wollte, hieß es schnell: „Vorsicht! Nicht kritisieren!“ Nanu? Hast du nicht gerade die Deutschen kritisiert? Warum dürfen wir dich nicht kritisieren? Weil es sofort Rassismus ist, wenn man eine türkeistämmige Person kritisiert? Möchtest du noch ein bisschen Sauce dazu? Kann ich sonst noch was für dich tun?

Jede*r sollte jede*n kritisieren dürfen. Und zwar nicht entlang der Kategorien Deutsche*r, Alte und Neue, sondern als Menschen, die miteinander leben. Gute Menschen sind gut und schlechte Menschen sind schlecht, egal woher sie kommen.

Und euch alle küsse ich an euren entlegensten Körperstellen, liebe Leser*innen.

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3 Kommentare

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  • Es taete gut, in deragen Diskussionen zwischen verschiedenen Einstellungen zu unterscheiden, deren einzige Geinsamkeit Vorbehalte gegenueber vewissen Gruppen ist. Wie z.B. Rassismus, Kritik an der Frauen zugewiesenen Rolle im Islam, Kritik an Kopftuechern, Vorbehalte gegen Menschen auslaendischer Herkunft, Ablehnung jeglicher Zuwanderung (auch aus Bayern oder Schwaben), Ablehnung gewisser Dialekte oder Sprachlagen, Ablehnung von Grenzuebertritten ohne Einreisedokumente, Vorbehalte gegen Gruppen jungen Maenner, Vorbehalte gegen Zuwaechse auf der Empfaengerseite des Sozialstaates, Ablehnung von Menschen mit niedrigem Bildungsstand aus Hochmut oder als Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, usw. Als vermutlich junge, intelligente Frau werdenSie weniger dieser Vorurteile kennenlernen, weil.Sie nicht diesen Merkmalen entsprechen. Rassismus ist selten ausschlaggebend, das sehen Sie ja an den positiven Reaktionenm

  • Wohltuend diesen Artikel in der sonst von identitätspolitischer Orthodoxie dominierten Taz zu lesen, einer Orthodoxie mit double standards und spezifischen Blindheiten.

    Menschen sind als Individuen anzusprechen und zu charakterisieren und zu bewerten, nicht als 'Charaktermasken' angeblich homogener Gruppen, die nach Rasse, Geschlecht etc. unterteilt werden.

    Diese Gruppen existieren nicht, Menschen gleicher Hautfarbe, gleichen Geschlechts etc. sind höchst unterschiedlich.

    Und z.B. einer 'statistischen' Minderheitengruppe anzugehören, verleiht nicht moralische Überlegenheit.

    Und schon gar nicht Immunität gegen Kritik - das nämlich wäre Ungleichbehandlung.

    "Gute Menschen sind gut und schlechte Menschen sind schlecht, egal woher sie kommen."

    Die Autorin hat eine universalistische Haltung, und die weist in die Zukunft, nicht borniertes Stammes-Gruppendenken.

  • „ Gute Menschen sind gut und schlechte Menschen sind schlecht, egal woher sie kommen“

    Dieser Satz sollte auch öfter Politikern bei entsprechender Gelegenheit über die Lippen kommen.