Migranten: Die offenen Wunden der Stadt
Der Gesundheitsbericht spiegelt die Lebensrealität, die Berlin den Einwanderern bietet.
"Ausländer sterben jünger" und "Berliner werden älter" - so lauteten Schlagzeilen der Berliner Zeitungen, als der diesjährige Gesundheitsbericht vorgestellt wurde. Die Überschriften sind so richtig, wie sie falsch sind.
In Wirklichkeit ist der Gesundheitsbericht eine Blaupause, die die Schwächen und die Stärken der gesundheitlichen, aber auch der sozialen Situation der Berliner spiegelt. In den Erhebungen wurde erstmals auf die Situation der Migrantinnen und Migranten eingegangen. Die Zahlen sprechen für sich.
Ungefähr 800.000 Berliner haben einen Migrationshintergrund. Das ist fast ein Viertel der Bevölkerung. Etwa 15 Prozent haben ausländische Pässe, dazu kommen 10 Prozent Eingebürgerte. Da in den Erhebungen jedoch meist nur gefragt wird, ob jemand ausländisch ist oder deutsch, sind die Statistiken verzerrt, wenn es um die Betrachtung der eingebürgerten Migranten und Migrantinnen geht. Das macht es so leicht, den Gesundheitsbericht ad acta zu legen. Zum Frauentag ein paar Fragen und Antworten, die sich aus dem 660 Seiten dicken Werk ergeben.
Ist Migration nach Berlin nichts für Frauen?
Unter den Deutschen gibt es bis zum Alter von 68 Jahren etwa so viele Frauen wie Männer in Berlin. Danach gibt es zunehmend mehr Frauen. Bei den 80-Jährigen sind es doppelt so viele Frauen wie Männer. Ganz anders sieht es bei Ausländern aus: Dort sind in fast allen Altersstufen die Männer in der Überzahl. Ab einem Alter von 77 gibt es fast eineinhalbmal so viele Männer wie Frauen.
Männer wagen, so erschließt sich aus der Alterspyramide, den Schritt in die Migration eher als Frauen. Vor allem für ältere Ausländerinnen ist es unattraktiv, in Berlin zu leben.
"Dass eher Männer als Frauen migrieren, stimmt so pauschal nicht. Aus Kriegsgebieten etwa kommen viele Frauen und Kinder. Aber ich weiß aus meiner Erfahrung bei der AWO, dass die älteren Menschen die schnellstwachsende Gruppe unter den Migranten in Berlin ist." (Filiz Müller-Lenhartz vom AWO-Begegnungszentrum "Aktion Buntes Kreuzberg")
Ist Migration schlecht für die Bildung?
Schlechte Bildung bedeutet meist schlechteren Zugang zu Gesundheitsleistungen. Während 1,8 Prozent aller Deutschen ohne Migrationserfahrung keinen Schulabschluss haben, verließen 13 Prozent der eingebürgerten Migranten und 21,2 Prozent der Ausländer in Berlin die Schule ohne Abschluss. Diese Zahlen bestätigen die bekannte Misere. Sie erhalten aber durch folgende Erkenntnis eine interessante Wendung: Etwa ein Drittel aller Menschen mit Migrationshintergrund hat Abitur, dagegen nur ein gutes Viertel aller Deutschen.
Die oftmals geäußerte Überzeugung, dass Migration mit schlechten Bildungschancen einhergeht, ist demnach nur teilweise richtig. Vielmehr scheint die Bildungsschere bei Migranten stärker auseinander zugehen als bei Deutschen.
"Tatsächlich ist es so, dass Migration nicht automatisch mit schlechter Bildung einhergehen muss. Ohnehin sind MigrantInnen an sich eine heterogene Gruppe, und sobald man nicht nur die Ausländer, sondern alle Migranten betrachtet, ist die Bildungsbilanz nicht mehr so desaströs. Generell kann man sagen: Kinder aus bildungsfernen Familien haben es schwerer, sich in der Schule zu behaupten. In Einwanderungsländern wie Kanada sind Migranten ähnlich gut wie Einheimische. Dort gilt auch das Klischee, dass Migranten automatisch Verlierer sind, nicht so wie bei uns." (Janina Söhn, Migrationssoziologin am Wissenschaftszentrum Berlin)
Warum sterben Ausländer so selten in Berlin?
In der Berliner Sterbestatistik von 2006 sind nur 3 Prozent der Toten ausländischer Herkunft, während Ausländer fast 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Aber: Die Hälfte der Ausländer, die 2006 in Berlin starben, war noch nicht 65 Jahre alt. Dagegen waren bei den Verstorbenen mit deutschem Pass 20 Prozent jünger als 65. Während bei den Deutschen mehr Frauen als Männer sterben, ist das bei den Ausländern umgekehrt.
Dass mehr ausländische Männer als ausländische Frauen in Berlin sterben, liegt daran, dass mehr ausländische Männer als Frauen in Berlin leben. Dass indes weniger Ausländer sterben, als es ihrem prozentualen Anteil an der Bevölkerung entspricht, liegt daran, dass ausländische Menschen in Berlin eher jünger sind. Ganz eindeutig aber sterben Ausländer, egal ob alt oder jung, oftmals nicht in Berlin.
Die Lebensbedingungen für Migranten in Berlin sind offenbar so schwierig, dass man jung und gesund sein sollte, um überhaupt eine Chance zu haben. Alte Migranten ziehen es hingegen offenbar vor, irgendwo anders zu sterben, nur nicht in Berlin.
"Das kann schon sein, dass Migranten sagen, hier will ich nicht sterben. Dem widerspricht, dass die medizinische Versorgung hier besser ist. Zudem gibt es hier Pflegegeld. Wenn sie mobil sind und es sich leisten können, dann ziehen es Migranten der ersten Generation vor, zu pendeln. Ein halbes Jahr da, ein halbes Jahr dort." (Filiz Müller-Lenhartz)
Kommt der Tod bei jungen Ausländern anders?
Die Todesursachen von Deutschen und Ausländern über 65 Jahren und von deutschen und ausländischen Frauen unter 65 sind fast gleich. Krebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten stehen an erster Stelle. Bei den deutschen und ausländischen Männern unter 65 sieht es anders aus. In beiden Gruppen steht aber Lungenkrebs an erster Stelle. Danach folgen bei den deutschen Männern unter 65 Herzkrankheiten und Todesursachen, die auf Alkoholsucht zurückzuführen sind. Bei den ausländischen jungen Männern ist die zweithäufigste Todesursache Selbstmord. Die hohe Zahl der Suizide spricht dafür, dass es auch für junge männliche Ausländer schwierig ist, in Berlin Erfolg zu haben.
"Für viele MigrantInnen sind die Lebensbedingungen schwer. Sich im Migrationsland nicht artikulieren zu können und ausgegrenzt zu sein kann zu psychischen Beschwerden führen. Manche MigrantInnen sind mit 60, 65 ausgelaugt, sind multimorbid, obwohl sie gesund waren, als sie kamen." (Filiz Müller-Lenhartz)
Sind ausländische Neugeborene in Berlin nicht so wichtig?
Während, bezogen auf alle Altersklassen, mehr Deutsche als AusländerInnen sterben, liegt die Säuglingssterblichkeitsrate bei AusländerInnen dreimal so hoch wie bei den Deutschen.
Seit der Novellierung des Staatsbürgerschaftsgesetzes 2002 können hier geborene Kinder von Ausländern, die rechtmäßig in Deutschland leben, die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Davon machen etwa die Hälfte der ausländischen Eltern Gebrauch. Man kann daher annehmen, dass Kinder, die nach 2000 geboren wurden und eine ausländische Staatsangehörigkeit haben, oft in Familien mit unsicherem Aufenthaltsstatus leben.
Während die Säuglingssterblichkeitsrate bei ausländischen Kindern 1999 noch 2,6 Gestorbene auf 1.000 Lebendgeborene betrug, schnellte sie nach der Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 auf 8,4 verstorbene ausländische Säuglinge je 1.000 Lebendgeborene hoch. In den vergangenen drei Jahren kamen 9,1 Gestorbene auf 1.000 Lebendgeborene.
In Bezirken mit negativen Sozialindizes ist die Säuglingssterblichkeit höher. Das betrifft auch deutsche Säuglinge, außer in Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg. Als verwundbare Gruppen wurden dennoch vor allem VietnamesInnen und AsylbewerberInnen ausgemacht.
"Jede Frau, die ein Kind bekommt, wird vom Jugendamt angeschrieben. Eigentlich sollte es auch einen Erstbesuch geben. Aber der Mangel an Personal in den Bezirken macht das schwer. Bei uns in Tempelhof-Schöneberg gibt es 20 Stellen. Aber die kümmern sich nicht nur um die etwa 5.000 Neugeborenen im Jahr. Wir erreichen nicht alle, auch wenn wir es wollen. Kommt noch dazu, dass Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft ganz verschieden auf staatliche Intervention reagieren. Das liegt zum einen daran, dass in den Beratungsstellen nur wenige Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten. Zum anderen herrscht in Familien mit unsicherem Status oft eine Skepsis gegenüber Ämtern. Da wird der Kinderschutz als Wächteramt wahrgenommen. Das ist sicher mit ein Grund, warum sie das Angebot nicht erreicht." (Sibyll Klotz, Stadträtin für Gesundheit und Soziales in Tempelhof-Schöneberg)
Warum funktioniert die staatliche Intervention bei Abtreibungen gut?
Frauen, die abtreiben wollen, müsse n eine Schwangerschaftskonfliktberatung aufsuchen. 2006 wurden in Berlin 12.442 Bescheinigungen über eine solche Beratung ausgestellt. 22,8 Prozent davon an Ausländerinnen. Deutsche Frauen waren zu zwei Dritteln ledig. Ausländische Frauen knapp zur Hälfte. Etwa 50 Prozent der deutschen Frauen hatten noch keine Kinder, bei den Ausländerinnen waren es 30 Prozent. Für die meisten war die wirtschaftliche Situation Grund für den Abbruch. Bei ausländischen Frauen spielten aber innerfamiliäre Konflikte eine ebenso große Rolle wie die wirtschaftliche Situation. Bei den deutschen Frauen waren zudem Ausbildungs- und Arbeitsplatzprobleme ausschlaggebend.
"Im Vergleich zum Kinderschutz ist flächendeckende Intervention beim Schwangerschaftsabbruch möglich, weil es ein Zwang ist. Deswegen heißt es ja auch Zwangsberatung. Dagegen kannst du natürlich ein Kind zur Welt bringen, ohne dass dich die staatlichen Institutionen erreichen. Die Kosten fürs Personal, um Scheine für einen Schwangerschaftsabbruch auszustellen, sind offenbar niedriger als die fürs Personal beim Kinderschutz." (Sibyll Klotz)
Macht das Leben in Berlin Migranten depressiv?
Frühberentung ist ein Indikator für die Belastung, denen Menschen ausgesetzt sind. Ende 2006 waren in Berlin 76.043 Personen frühberentet. 9.020 Personen davon waren Ausländer. Ausländische Frauen haben das mit Abstand höchste Frühberentungsrisiko. Es ist um 25 Prozent höher als das deutscher Frauen. Das Frühberentungsrisiko liegt bei den Ausländern insgesamt etwa 7 Prozent über dem der Deutschen.
Psychische Krankheiten wie Depression, Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen sind bei Migranten seit Jahren der Hauptgrund für Frühberentung. Mehr als die Hälfte der ausländischen Frauen wurde 2006 deshalb frühberentet. Bei den deutschen Frauen sind es 15,4 Prozent. Bei den ausländischen Männern fällt auf, dass 7,1 Prozent - und damit doppelt so viele wie bei den deutschen - wegen Schizophrenie frühberentet werden.
Diese Statistiken zeigen, dass die Lebensbedingungen in Berlin eine ungeheure seelische Belastung für Migranten und Migrantinnen darstellt. Vor allem die Frauen leiden darunter. Auch im Gesundheitsbericht wird danach gefragt, ob es einen Zusammenhang zwischen der hohen psychischen Belastung der ausländischen Frauen und Gewalterfahrungen gibt. Die Weltgesundheitsorganisation benennt häusliche und sexuelle Gewalt als eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen. Berliner Statistiken dazu gibt es aber nicht.
"Wir haben in einer bundesweiten repräsentativen Befragung der psychiatrischen Einrichtungen herausbekommen, dass die Diagnose Schizophrenie bei Migranten signifikant häufiger gestellt wird. Internationale Studien zeigen, dass bei Migranten der ersten Generation die Schizophreniehäufigkeit noch so groß wie bei den Einheimischen ist. Aber bei Migranten der zweiten Generation ist sie fast doppelt so hoch, bei der dritten noch höher. Am höchsten ist sie bei Menschen mit dunkler Hautfarbe. Dafür werden keine genetisch biologischen Faktoren verantwortlich gemacht, sondern die psychosozialen Stressfaktoren - also der Migrationsstress mit den geringen sozialen und ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten, mit Isolation, mit Diskriminierung, mit rechtlicher Unsicherheit. Außerdem wissen wir, dass depressive Erkrankungen mit körperlichen Beschwerden bei Menschen mit Migrationserfahrungen zunehmen. Frauen sind durch die Mehrfachbelastung noch stärker betroffen und ausgebrannter als Männer." (Meryam Schouler-Ocak, Oberärztin der Psychiatrischen Uniklinik der Charité im Sankt-Hedwigs-Krankenhaus)
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