Midterm-Wahlen in den USA: Von Tür zu Tür im „Dairyland“
Bei den Midterms könnte Wisconsin entscheidend sein. Unterwegs mit einer Schwarzen Wählerinitiative, die die Menschen mobilisieren will.
Der Stadtteil St. Joseph im Norden der größten Stadt in Wisconsin ist mehrheitlich afro-amerikanisch. Für knapp vier Stunden geht das Team an diesem Tag von Tür zu Tür, um die Menschen daran zu erinnern, dass sie bei den bevorstehenden Midterms ihre Stimme abgeben sollen.
Obwohl nicht viele Anwohner ihre Türen öffnen, hält Robinson das für eine wichtige Aufgabe. Er selbst habe erst spät begriffen, wie sehr Politik den Alltag der Menschen hier beeinflusst. „Lange lebte ich einfach mein Leben und dachte, die Dinge sind halt so, wie sie sind. Erst seitdem ich diese Arbeit mache, verstehe ich die Zusammenhänge“, sagt er und nimmt die Stufen zur nächsten Haustür.
Robinson ist tätig für „BLOC“, eine gemeinnützige Organisation, die seit 2016, kurz nach Donald Trumps Wahlsieg, besteht und Politiker unterstützt, die sich für benachteiligte Gesellschaftsgruppen einsetzen. BLOC steht für „Black Leaders Organizing for Communities“.
Bisher hat die Organisation ausschließlich Kandidaten der demokratischen Partei unterstützt. Auch in diesem Jahr ist das wieder so.
Beim Kampf um die Mehrheit im US-Senat könnte Wisconsin eine entscheidende Rolle spielen. Zur Wahl stehen der republikanische Senator Ron Johnson, der seit 12 Jahren den US-Bundesstaat in Washington vertritt, und sein Herausforderer, der Demokrat Mandela Barnes. Der 35-jährige Barnes, der 2019 zum Vizegouverneur gewählt wurde, wäre der erste Schwarze US-Senator aus Wisconsin, sollte er am Dienstag gewinnen. In einem republikanischen Wahlwerbespot wird seine Hautfarbe dunkler gemacht, als sie ist – das Video endet mit den Worten „anders“ und „gefährlich“.
Die Umfragen geben Barnes wenig Chancen. Noch bis Mitte September lag er sogar einige Prozentpunkte vor Johnson, dann überholte der Amtsinhaber.
Johnson ist strikter Abtreibungsgegner, lehnt Corona-Impfungen ab, leugnet den menschengemachten Klimawandel, vertritt die Ansicht, Donald Trump habe die Wahl 2020 gewonnen und verbreitete die These, die Kapitolstürmer vom 6. Januar 2021 seien als Trump-Unterstützer verkleidete Antifa-Aktivisten gewesen. Seine Chancen für eine dritte Amtszeit stehen recht gut: Er liegt im Durchschnitt derzeit rund drei Prozentpunkte vor Barnes.
Sogar Ex-Präsident Barack Obama kam angereist
Angela Lang, 32, hat BLOC mitgegründet. Rassismus sei in Milwaukee weit verbreitet, sagt sie. Es gebe Unterschiede, in welche Stadtteile viel investiert wird und in welche nicht, wo die Polizeipräsenz übermäßig ist und wo nicht. St. Joseph, die Nachbarschaft, in der sie und ihr Team gerade unterwegs sind, habe weltweit den größten Anteil inhaftierter Bewohner. „Die Postleitzahl 53206 erhielt diesen Titel vor ein paar Jahren.“
Armut und Wohlstand sind in Milwaukee oft nur durch Brücken voneinander getrennt. Im Süden der Stadt lebt vor allem die weiße Bevölkerung, zwar nicht in überschäumendem Reichtum, aber komfortabel. Anders sieht es im Norden der Stadt aus. Dort lebt ein Großteil der Bevölkerung an oder unterhalb der Armutsgrenze. Einige der Häuser sind in einem erbärmlichen Zustand, Fenster und Türen mit Sperrholzplatten vernagelt, Dachstühle eingestürzt. Viele stehen leer, die Ladenlokale sowieso.
„In der ersten Nacht, nachdem wir hier eingezogen sind, gab es eine große Schießerei. Und das war neu für mich. So etwas kannte ich nicht. Mir wurde gesagt, ich soll mich verstecken, damit ich nicht von einer Kugel getroffen werde“, erzählt die 80-jährige Betty Sibo, die erst seit fünf Monaten in St. Joseph lebt. Aufgewachsen ist sie in einer Kleinstadt in Wisconsin, die vergangenen 20 Jahre wohnte sie in Milwaukees Süden.
Tatsächlich sind Gewalt und Kriminalität in diesem Wahljahr dominierende Themen. Dazu kommen die anhaltend hohe Inflation, bezahlbares Wohnen, das Recht auf Abtreibung, Rassismus und die Zukunft der Demokratie. Dass die in Gefahr sei, davor hat Präsident Joe Biden gerade in mehreren Reden eindringlich gewarnt. Am Dienstag entscheidet sich, wie in den USA in den kommenden Jahren mit diesen Themen politisch umgegangen wird.
Obama: „Sie wollen euch wütend machen“
Um den in Umfragen unterlegenen Barnes zu unterstützen, reiste Ende Oktober der frühere US-Präsident Barack Obama für Wahlkampfveranstaltungen nach Milwaukee. Johnson und der Rest der Republikaner hätten kein Interesse daran, die Probleme des Landes zu lösen, sagte er in der Turnhalle einer Grundschule. „Es geht ihnen darum, euch wütend zu machen und dann einen Sündenbock zu finden. Sie wollen euch damit ablenken, damit ihr nicht merkt, dass sie selbst keine Antworten haben.“ Das Publikum war divers, die Stimmung euphorisch. Aber lange Warteschlangen wie bei manchen Trump-Veranstaltungen gab es nicht.
„America’s Dairyland“, heißt es auf den Autokennzeichen Wisconsins – das Milchland der Vereinigten Staaten. Demokraten hoffen, dass jemand wie Vizegouverneur Barnes, der selbst aus einer Arbeiterfamilie stammt, die Menschen aus der Mittelschicht zurückgewinnen kann, die sich in den vergangenen Jahren mehr nach rechts orientiert haben.
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Doch Insolvenzen von kleinen bis mittelständischen Agrarbetrieben haben der Landwirtschaft in Wisconsin in den vergangenen Jahren schwer zugesetzt. „Die wirtschaftlichen Bedingungen für Bauern sind äußerst schwierig“, sagt Rick Adamski, 67, dessen Familie seit mehr als 100 Jahren Landwirtschaft betreibt. Die Farm in der Nähe von Seymour, einer Kleinstadt 20 Meilen westlich von Green Bay, hat er vor sechs Jahren an seinen Sohn und seine Schwiegertochter übergeben. Aber er hilft aus und engagiert sich in einem Bauernverband. „Die freie Marktwirtschaft sorgt für einen Wettlauf nach unten“, sagt er. Die Preise für manche Produkte seien so niedrig, dass sie die Kosten einfach nicht decken.
Und obwohl viele Farmer die Folgen der Klimakrise als große Sorge bezeichnen, bleiben sie den Republikanern treu. „Den Menschen im mittleren Westen geht es um Familie“, sagt Russ Otten, Republikanerchef in Sheboygan. „Es geht darum, dass eine Frau und ein Mann eine Familie gründen und Kinder haben. In der demokratischen Partei sind aktuell Personen in der Führungsriege, die sich weigern zu sagen, dass Männer nicht schwanger werden können. So weit ist es gekommen“, sagt Otten und referiert damit auch die republikanische Kommunikationsstrategie.
Zwar sind Milwaukee und die Hauptstadt Wisconsins, Madison, fest in demokratischer Hand. Doch am meisten prägt die Landwirtschaft den Bundesstaat. Wollen die Demokraten eine Chance haben, Mehrheiten zu gewinnen, müssen sie auch in den ländlichen Regionen punkten – und das wird nach Jahren des Gerrymandering unter republikanischen Regierungen immer schwerer.
Ein hauchdünner Abstand
Gerrymandering, also das willkürliche Zuschneiden von Wahlkreisgrenzen, hat laut Berechnung der Marquette University Law School in Wisconsin dazu geführt, dass die Republikaner nur 44 Prozent der Stimmen brauchen, um eine klare Mehrheit der Mandate zu gewinnen. Demokraten müssten hingegen die Wahl mit mindestens zwölf Prozentpunkten Vorsprung gewinnen, um 50 Sitze im Parlament und somit eine knappe Mehrheit zu erhalten.
Ein solcher Zuschnitt war möglich geworden, weil Wisconsins Kongress schon seit 1995 eine republikanische Mehrheit hat – und der ultrarechte Gouverneur Scott Walker in acht Regierungsjahren seinen Teil dazu tat. Erst 2018 wurde mit Tony Evers ein Demokrat als Gouverneur gewählt – und für die Demokraten ist es unglaublich wichtig, dass er jetzt seine Wiederwahl gewinnt.
Evers sei auf Landesebene der Einzige, der im Moment die radikale Agenda der Republikaner stoppt, sagt Angela Lang von BLOC, „er ist unsere Abwehr.“ Seit Januar 2021 hat Evers 126 Mal von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht. Unter anderem wies er Gesetzentwürfe zur Erleichterung des Waffenbesitzes und zur Kürzung der Arbeitslosenhilfe zurück.
Sein republikanischer Kontrahent ist Tim Michels. Der Geschäftsmann konnte sich auch dank Unterstützung von Trump gegen moderatere Kandidaten aus der eigenen Partei durchsetzen. In diesem Rennen gibt es keinen klaren Favoriten. Der Abstand zwischen beiden liegt in den Umfragen unter 1 Prozent.
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