piwik no script img

Messermorde in FrankreichFragen und Vorurteile

Rudolf Balmer
Kommentar von Rudolf Balmer

Auf der Suche nach Ursachen für den Messerangriff durch einen radikalisierten Kollegen auf Pariser Polizisten ergeht sich Frankreich in Vorurteilen.

Nach dem Angriff: Polizisten patroullieren vor dem Tatort, einer Pariser Polizeiwache Foto: dpa

W enn ein Polizist Kollegen und Kolleginnen in der vermeintlich sicheren Festung der Polizeipräfektur mit einem Messer attackiert, ist das besonders schockierend. Die Tat von Paris wirft Fragen auf: Wie konnte es kommen, dass dieser angeblich so unscheinbare, aber heimlich zuerst zum Islam konvertierte und danach zum Staatsfeind radikalisierte Mickael H. nicht früher und rechtzeitig aufgefallen war? Und warum wurde „so jemand“ überhaupt in einem neuralgischen Informatikzentrum des polizeilichen Nachrichtendiensts beschäftigt?

Für die französische Opposition und die Medien müssen da diverse Kontrollmechanismen total versagt haben. Namentlich bei der Anstellung, aber auch später bei der Aufsicht durch die Vorgesetzten, mit denen der Messerstecher in Konflikt stand. Für einen Teil der Kritiker geht es da allein schon um die Tatsache, dass dieser vor nicht allzu langer Zeit konvertierte.

Das hätte, ihrer Meinung nach ein Alarmsignal sein sollen, auch wenn sie meistens dann relativierend hinzufügen, natürlich sei es an sich kein Verdachtselement, zum Islam zu konvertieren oder im öffentlichen Dienst ein gläubiger Muslim zu sein, aber …

Aber, eben: Das Vorurteil kommt nicht von ungefähr und wird durch diese dramatische Bluttat, der vier Polizeimitarbeiter zum Opfer fielen, zwangsläufig bestärkt. In vielen Köpfen keimt sogleich die Vorstellung einer „fünften Kolonne“ von Dschihadisten im Hauptquartier, das den polizeilichen Kampf gegen Terrorismus führen soll.

Das zweite Vorurteil in diesem Fall ist nicht minder verhängnisvoll: Der weitgehend gehörlose und stumme Mickael H. erhielt seine Stelle nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Behinderung. In Frankreich muss die öffentliche Verwaltung sechs Prozent der Arbeitsplätze für Behinderte reservieren. Gut so. Doch seine Behinderung, die einen seinen Kenntnissen entsprechenden Aufstieg beeinträchtigte, wurde auch zu einem Grund seiner Wut und Frustration. Wie gefährlich Vorurteile und die Reaktionen auf sie sind, darüber kann im Fall H. nur noch spekuliert werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Da kann man mal wieder sehen, wie tief das Magische Denken in der Psyche des Menschen verankert ist!

    Nein, es spricht nicht für Rationalität, „diverse Kontrollmechanismen“ zu installieren und anschließend anzunehmen, damit sei eine 100%-ige Sicherheit herzustellen. Zumindest, wenn diejenigen Menschen, die die Mechanismen bedienen, nicht ausnahmsweise mal total versagen. Natürlich aus rein privaten Gründen, aus welchen denn sonst?

    Auf diesem Irrglauben haben schon die alten Babylonier ihre Kultur aufgebaut. Er geht zurück bis in die Höhlen von Steinzeit-Schamanen, die Jagderfolge mit Opfergaben an Naturgeister erkaufen (und ganz nebenbei das eigene Dasein absichern) wollten. Aber eines steht seit 500.000 Jahren fest: Keine Institution dieser Welt kann einem Menschen in den Kopf sehen. Alle haben sie es versucht. Alle sind sie gescheitert.

    Menschen sind immer noch Teil der Natur. Als solcher sind genau so wenig berechenbar, wie das Wetter oder ein Jagderfolg. Jede Abstraktion muss zwangsläufig versagen, wenn sie die Zukunft der Menschen beschreiben will. Die menschliche Zukunft ist unbestimmt, denn sie ist das Ergebnis einer Gleichung mit zu vielen Unbekannten. Kein noch so starker Superrechner wird daran jemals etwas ändern.

    Das ist in sofern etwas schade, als manche Menschen einen fatalen Hang dazu haben, auch das nicht Beweisbare noch beweisen zu wollen. Gelingt ihnen das nicht, bevor sie die Geduld verlieren, greifen sie hilfsweise zum Vor-Urteil. Damit allerdings setzen sie regelmäßig Automatismen in Gang, die niemals nur positive Auswirkungen hatten.

    Auch und gerade negative Prophezeiungen haben die ärgerliche Tendenz, sich selber zu erfüllen. Mickael H. ist offenbar nicht stark genug gewesen, dagegen etwas auszurichten. Wahrscheinlich hat sein Umfeld ihn nicht hinreichend unterstützt. Es genügt halt nicht, nur eine Quote festzulegen und so zu tun, als wäre damit was erreicht.

  • 8G
    88181 (Profil gelöscht)

    Stellen wir uns vor, ein Täter dieses Profils hätte eine Frau vergewaltigt.

    Würde dann auch "Fragen und Vorurteile" in der Überschrift stehen?

    • @88181 (Profil gelöscht):

      Ziemlich sicher ja, so wie es sein sollte.

  • Gestolpert bin ich über den Satz "Doch seine Behinderung, die einen seinen Kenntnissen entsprechenden Aufstieg beeinträchtigte, wurde auch zu einem Grund seiner Wut und Frustration".

    Gibt es irgendwelche Belege, dass seine Behinderung einen Aufstieg beeinträchtigte und genau das Grund seiner Wut und Frustration war, oder basiert diese Mutmaßung letztendlich auch nur auf einem Vorurteil, nämlich gegenüber der französischen Verwaltung?

  • 0G
    06137 (Profil gelöscht)

    Jetzt wieder: Warum nicht früher? Aber wehe, man hätte ihn wegen seiner Konversion unter verschärfte Beobachtung genommen. Diskriminierung!

  • Die taz macht den Täter zum Opfer...

    • RS
      Ria Sauter
      @Franny Berenfänger:

      Das sehe ich auch so. Meiner Empfindung nach geschieht das sehr, sehr oft.



      Kein Wort zu den Opfern und dem Leid der Angehörigen.

    • @Franny Berenfänger:

      Empfinde ich nicht so. Ich erkenne das Aufwerfen von Denkdilemmata.