Menschliche Überreste auf Uni-Gelände: Verschränktes Erinnern
Auf dem Gelände des Berliner Otto-Suhr-Instituts werden Knochen untersucht. Die Erkenntnisse daraus weiten den erinnerungspolitischen Blick.
J etzt wird es kompliziert, dachte womöglich die ein oder andere am vergangenen Dienstag. Mehr als 250 Menschen waren digital dabei, als die Freie Universität Berlin (FU) die Erkenntnisse präsentierte, die sie über Fragmente menschlicher und tierischer Knochen gewonnen hatte, die auf einem ihrer Gelände geborgen worden waren. Die Grabungen, die die Knochen zutage gefördert hatten, hatte die FU 2015 und 2016 in Auftrag gegeben – auch in Reaktion auf harsche Kritik.
Denn zuvor waren im Zuge von Bauarbeiten bereits vergleichbare Funde gemacht worden. Diese hatte man aber entsorgt, ohne zuvor zu versuchen, der Identität der Menschen auf die Spur zu kommen, von denen die Überreste stammten. Dafür gab es Schelte. Mit gutem Grund, denn der Fundort der Überreste ist ein historisch sensibles Gelände. Auf dem Grundstück, das heute der FU gehört, befand sich von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A).
Vom KWI-A ist bekannt, dass es enge Verbindungen zum Vernichtungslager Auschwitz unterhielt. Damals kam deshalb die Vermutung auf, dass es sich um Knochenfragmente von NS-Opfern handeln könnte. Der Befund, der am Dienstag vorgestellt wurde, ist allerdings komplizierter. Danach kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei einigen der Funde um Überreste von Ermordeten aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern handelt.
Insbesondere die Gipsabformung eines toten Mannes gibt Rätsel auf. Zugleich deuten jedoch Indizien darauf hin, dass der Großteil der Funde auf anthropologische und archäologische Sammlungen zurückgeht, die im KWI-A verwahrt wurden. Ein Teil dieser Sammlungen war bereits vor der Institutsgründung zusammengetragen worden, insbesondere während der deutschen Kolonialzeit in allen Teilen der Welt.
Verbindungen zum Vernichtungslager Auschwitz
Über eine genauere regionale Herkunft der Menschen, deren Überreste in Dahlem verscharrt wurden, lässt sich, ausgehend von den bisher verwendeten Methoden, nichts sagen. Klar ist aber, dass die Überreste bewusst vergraben wurden, um sie entweder zu entsorgen oder zu verstecken. Die Erkenntnisse von vergangenem Dienstag sind erschreckend. Denn, wie Susan Pollock, die Leiterin der Untersuchungen, hervorhob:
Die Überreste sind in jedem Fall mit einer menschenverachtenden Respektlosigkeit auf dem Gelände verscharrt worden. Zugleich weiten die neuen Erkenntnisse den erinnerungspolitischen Blick. Sie legen nahe, dass Unrechtskontexte, die üblicherweise als getrennte Phänomene gedacht werden, sich mitunter überlappen. Und dass diese Überlappungen ein verschränktes und solidarisches Erinnern nötig machen.
Die Geschichte des KWI-A, auf dessen Praktiken die Funde zurückgehen, ist selbst eine Geschichte von Überlappungen. Hier wirkten unterschiedliche Unrechtskontexte und verschränkten sich unterschiedliche Machtverhältnisse. Das KWI-A wurde in der Weimarer Republik gegründet und hatte bis 1945 Bestand. Hier in der Ihnestraße 22 wurde darüber geforscht, wie Vererbung im Menschen funktioniert: Ist es das Erbgut, das über Merkmale, Verhalten und Krankheiten im Menschen bestimmt?
Oder sind es Umwelteinflüsse? Das war die zentrale Frage, um die sich die Forschungen des Instituts drehten. Mitarbeiter*innen des KWI-A beteiligten sich aber auch aktiv an der Umsetzung eugenischer Maßnahmen, etwa an der behindertenfeindlichen und rassistischen Sterilisierungspolitik der Nationalsozialist*innen, der schätzungsweise 400.000 Personen zum Opfer fielen.
Körperteile aus den Händen Josef Mengeles
Das KWI-A unterstützte die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis und profitierte zugleich von ihr – auf besonders drastische Weise, als die Biologin Karin Magnussen sich aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für ihre Forschung Körperteile von dort ermordeten Angehörigen der Sinti-Familie Mechau zusenden ließ. Absender war Josef Mengele, der im Lager als „Arzt“ stationiert war.
Die Forschungen des KWI-A bauten auch auf kolonialem Wissen auf: Eugen Fischer hatte 1908 in Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia, Nachfahr*innen von weißen Siedlern und Khoi Khoi beforscht. Er war dadurch zu dem Ruhm erlangt, der ihm den Weg zum Direktorat in Dahlem ebnete.
Und er übernahm am Dahlemer Institut eine anthropologische Sammlung mit Gebeinen von mehreren Tausend Menschen, die Felix von Luschan zum großen Teil während der Kolonialzeit hatte zusammentragen lassen und die auch am KWI-A beforscht wurde. Die Wissensbestände und Ideen, die das KWI-A prägten, lassen sich freilich nicht einfach in Schubladen stecken: hier „koloniales Wissen“, dort „eugenisches Wissen der Weimarer Zeit“, dort „NS-Wissen“.
Erst recht nicht aus Sicht von Zeitgenoss*innen, für die sie vermutlich ein Kontinuum bildeten, das ab und an Brechungen und Wendungen aufwies. „Rasse“ ist das zentrale Konzept, das dieses Kontinuum prägte. Aber auch beispielsweise die Figur des „Mischlings“.
Zu Zeiten von Fischers Forschungen in Namibia interessierte sie auch deshalb, weil Kolonialverwaltungen sich fragten, welche Positionen und Rechte sie jenen zuweisen sollten, die sich ihrem Versuch entzogen, eine nach den Dichotomien weiß/of color bzw. kolonisierend/kolonisiert segregierte Gesellschaft zu etablieren. Auf keinen Fall dürften diese Personen Weißen gleichgesetzt werden, hatte Fischer gemahnt.
Anthropologisches Gruselkabinett
Den Nationalsozialist*innen wiederum lag daran, die Idee Deutschlands als „arisches“ Land Realität werden zu lassen. Das KWI-A unterstützte gerne dabei, indem es als „Mischlinge“ klassifizierte Menschen zur Gefahr stilisierte. Der KWI-A-Mitarbeiter Wolfgang Abel untersuchte afro- und asiatischdeutsche Kinder und Jugendliche und lieferte den NS-Behörden die Rechtfertigung für ihre Sterilisierung.
Eine am KWI-A entstandene Doktorarbeit über „deutsch-jüdische Mischlinge“, die eine mangelnde Trennung zwischen Juden/Jüdinnen und Nichtjuden/-jüdinnen als Bedrohung zeichnete, spielte den NS-Behörden in die Hand, die auch als „Halbjude“ oder „Vierteljude“ klassifizierte Personen zunehmend zum Ziel ihrer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik machten.
Und Fischers in Namibia gewonnenen Erkenntnisse über „Rassenmischungen“ dienten den NS-Strategen, die über eine effektive Anwendung der Nürnberger Rassengesetze sinnierten, als Referenz. Von den Forschungen und Tätigkeiten des KWI-A waren Personen negativ betroffen, die wir üblicherweise als Angehörige unterschiedlicher „Opfergruppen“ denken:
Behinderte, Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Roma*nja, arme Menschen, kolonisierte Menschen, Schwarze Menschen, Asiatischdeutsche, Osteuropäer*innen. Die Liste ist lang – und „vielfältig“. Diese Vielfalt an potenziellen Opfern stand auch bei der Präsentation der Erkenntnisse über die menschlichen Überreste an der FU im Mittelpunkt. Anwesende Vertreter*innen von Selbstorganisationen forderten, dass auch sie in die Überlegungen zum Umgang mit den Überresten einbezogen werden.
Historikerin, leitet das Projekt „Geschichte der Ihnestraße 22“, das sich mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik auseinandersetzt.
Die FU-Leitung hatte sich darüber bereits mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem Zentralrat deutscher Sinti und Roma beraten. Nun forderten einige, dass sich alle relevanten Selbstorganisationen in einem nichtöffentlichen Rahmen gemeinsam auf ein Vorgehen verständigen sollten. Wird das kompliziert? Das muss es nicht. Gern wird in Deutschland die Gefahr von Opferkonkurrenz beschworen.
Die sogenannte Causa Mbembe, die 2020 die Feuilletons prägte, ist das jüngste Kapitel in dieser Erzählung. In ihr kritisierten einige an postkolonialen Ansätzen, diese hätten ein grundsätzliches Antisemitismusproblem. Sie legten damit die Ansicht nahe, eine kritische Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Verbrechen sei unvereinbar mit der Würdigung anderer, insbesondere kolonialer Verbrechen.
Eine Relativierung der Shoah drohe, wenn andere Verbrechen neben ihr sichtbar gemacht oder gar zu ihr in Bezug gesetzt würden. So die Mahnung, die bereits früher Diskussionen prägte, etwa 2019 jene darüber, dass das Jüdische Museum Berlin auch nichtjüdische Perspektiven thematisierte. Indes sind das Arbeiten gegen Antisemitismus und das Arbeiten gegen andere Formen von Rassismus keineswegs miteinander unvereinbar.
Als 1982 der Zentralrat deutscher Sinti und Roma gegründet wurde, war der Weg dorthin auch vom Zentralrat der Juden unterstützt worden. In den 1990ern richteten Frauen* eine ganze Reihe von feministischen Bündniskonferenzen aus, in denen sich u. a. „Immigrantinnen, Schwarze deutsche, jüdische und im Exil lebende Frauen“ organisierten. 2013 knüpfte in Berlin die FemoCo-Konferenz an diese Tradition an.
Kooperation der Opfer statt Hierarchie
Sie verstand sich als Ort „von und für Frauen, Trans* und Inter*, die sich als Schwarze, of Color, als jüdisch, im Exil lebend, als Sinti und Roma oder als Migrant_innen verstehen“. Projekte wie www.verwobenegeschichten.de erzählen Geschichten von Menschen unterschiedlicher Positionierung bewusst in ihren Verschränkungen. Unter dem humoristischen Label „Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“ wurden im Herbst 2020 ernsthafte Solidarisierungen praktiziert.
Ebenfalls im vergangenen Jahr kamen zahlreiche „Communitys“ zusammen, um mit Sinti*zze und Roma*nja gegen die drohende „Verlegung“ des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas zu protestieren. Und erst am Freitag brachte das Berliner Projekt „Dekoloniale“ Schwarze Menschen, Jüd*innen, Asiat*innen, Muslim*a, Sinti*zze und Rom*nja zusammen, um sich über Erfahrungen aus unterschiedlichen Erinnerungskulturen auszutauschen.“
Die Liste ließe sich fortsetzen. Natürlich: Wo Zusammenarbeit und Bündnisse gewagt werden, gibt es auch Streit und Verletzungen. Die Dokumentationen der feministischen Bündniskonferenzen der 1990er zeugen davon. Spezifisch für „Community“-übergreifende Arbeit sind solche Konflikte allerdings nicht. Man denke nur an genderübergreifende linke Bündnisse, die sich immer wieder mit Sexismus in ihren Reihen auseinandersetzen müssen.
Keine Räume oder Personen sind immun gegen Rassismen (oder Sexismus). Räume, in denen Menschen mit unterschiedlichen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen zusammenkommen, um gemeinsam gegen Entmenschlichungen zu arbeiten, können aber Orte zu sein, an denen sich wechselseitig und solidarisch auf die eigenen Verstrickungen in Machtverhältnissen hinweisen lässt. Es ist Arbeit, aber nicht kompliziert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers