Menschenversuche in Schleswig-Holstein: Über 3.000 Betroffene
Bis in die 70er-Jahre wurden in Schleswig-Holstein Medikamente an psychisch Kranken und Menschen mit Behinderung getestet. Nun liegt eine Studie vor.
„Entweder du nimmst das Zeug von alleine oder die jucken dir das mit ’ner Spritze in den Hintern rein“, so erinnert sich ein Betroffener, der als Kind in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf dem Hesterberg in Schleswig lebte. Solche Tests waren legal, weil nicht direkt verboten – allerdings galten auch damals ethische Regeln, die Menschenversuche ohne Einwilligung untersagten.
Zu diesen Regeln zählte der „Nürnberger Kodex“, der unter dem Eindruck der NS-Verbrechen entstanden war. Dennoch waren solche Tests in der Nachkriegszeit und bis weit in die 1970er-Jahre gängig. „Die Versuche waren kein isoliertes Ereignis und sie waren auch nicht geheim“, sagte Cornelius Borck, Direktor des Instituts für Medizingeschichte der Universität Lübeck, bei der Vorstellung der Ergebnisse im Sozialausschuss.
Die Versuche seien „Teil des Problemkomplexes um die unwürdigen Verhältnisse in Behindertenhilfe und Psychiatrie“. 41 Medikamentenerprobungen vor Markteinführung und 34 Anwendungsbeobachtungen von Arzneimitteln nach Markteinführung konnte das Forschungsteam nachweisen.
Cornelius Borck, Institut für Medizingeschichte der Uni Lübeck
Fündig wurde das Team um Borck und Christof Beyer in den Landeskrankenhäusern Schleswig, Neustadt und Heiligenhafen, in den kirchlichen Einrichtungen in Rickling und Kropp sowie in der Psychiatrischen Klinik der Uni Kiel und dem Städtischen Krankenhaus Lübeck-Ost. „Ethische oder rechtliche Bedenken waren weder von Herstellerseite, noch von Seite der klinisch Tätigen und der Aufsichtsbehörden nachweisbar“, heißt es im Bericht. Für Eckhard Kowalke, Vorsitzender des Vereins ehemaliger Heimkinder in Schleswig-Holstein, beweist „die Dokumentation klipp und klar, dass die Verantwortungsträger, Staat, Kirchen, private Träger sowie Pharmaunternehmen, Medikamentenmissbrauch betrieben haben“.
Diese Anerkennung ist für die Betroffenen wichtig, aber darüber hinaus fordern sie eine „öffentliche Entschuldigung der Kirchen, eine Entschädigung, die über die bisherigen Hilfen hinausgeht, und die Zusicherung, dass heute und in Zukunft keinem Kind ähnliches Leid passiert“, sagt Günther Jesumann, der Beauftragte der Opfervertretungen.
Die Medikamententests fanden aus finanziellen Gründen statt. Denn die Anstalten – die während der NS-Zeit bestenfalls Verwahranstalten und schlimmstenfalls Tötungsfabriken waren – blieben in der Nachkriegsjahren die „Armenhäuser“ im Medizinbetrieb. Extremer Personalmangel und knappe Finanzen bestimmten das Bild in den 1950er-Jahren: Eine Pflegerin betreute „30 und mehr Kinder“ und musste nebenbei das Putzen beaufsichtigen, die Kleidung der Kinder in Ordnung halten und Strümpfe stopfen, beschrieb ein Anstaltsleiter den Alltag. „Wir behelfen uns notgedrungen auf die Weise, dass wir Unruhestifter abends in ihrem Bett mit Gurten festbinden, die unter dem Bettrahmen verknotet werden.“ Die neuen Medikamente halfen, die Patient:innen zu beruhigen, machten sie therapie- oder schulfähig – wobei „dieses Motiv eher nachrangig erscheint “, heißt es im Bericht.
Es ging um „eine,optimale' Sedierung im Hinblick auf den Anstaltsalltag“. Der Bericht bringe „Licht in ein schlimmes Dunkel“, sagte der CDU-Landtagsabgeordnete und Sozialausschussvorsitzende Werner Kalinka. Vertreter:innen aller Landtagsfraktionen setzten sich dafür ein, das Thema über die Legislaturperiode hinaus zu behandeln und die Betroffenen nicht im Stich zu lassen.
Pharmaindustrie zahlt nicht
Die erhalten bisher eine finanzielle Förderung von der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“, in die Bund, Länder und Kirchen, allerdings nicht die Pharmaindustrie, eingezahlt haben. In Schleswig-Holstein erhielten bisher rund 1.000 Betroffene Geld von der Stiftung, teilt das Sozialministerium mit.
Sozialminister Heiner Garg (FDP) appelliert an vier nachweislich an Medikamentenversuchen beteiligte Pharmahersteller, dass sie sich zu ihrer Verantwortung bekennen und sich an der Aufarbeitung beteiligen. Die Betroffenenverbände kritisieren die Stiftung, unter anderem, weil nicht alle Opfer erfasst werden. Taten nach 1975 sind ebenso ausgeschlossen wie einige Heime. „Wir haben kein Mitspracherecht, wir werden abgespeist“, sagt Eckhard Kowalke. Ein weiteres Ärgernis: Viele Betroffene haben noch keine Anträge gestellt, aber die Frist dafür läuft im Juni ab.
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