Menschenrechtler in Russland: Tod im Gefängnis
Der Historiker Sergej Koltyrin ist einem Krebsleiden erlegen. Er hatte sich der Aufarbeitung von Verbrechen in der Stalin-Zeit gewidmet.

Ende Mai 2019 war Koltyrin von einem Gericht in dem karelischen Städtchen Medweschegorsk zu einer Haftstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der renommierte Wissenschaftler mit einem Jungen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren Sex gehabt und er zudem widerrechtlich Waffen besessen haben soll.
Kotryn selbst, so das russische Internet-Portal Ovdinfo, habe dies bestritten. Das Staatliche Ermittlungsbüro Kareliens hingegen gibt an, Koltyrin und ein weiterer Mittäter hätten ihre Schuld eingestanden.
Als Direktor des Museums Medweschegorsk war Koltyrin auch für die 12 Kilometer von seinem Museum entfernte Gedenkstätte Sandarmoch zuständig. In diesem Waldgebiet waren 1937 und 1938 fast zehntausend Menschen hingerichtet worden.
Über tausend Erschossene
Insbesondere zwei Männer kümmerten sich um die Erinnerungskultur am Erschießungsort des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Sandarmoch: Jurij Dmitriew, Leiter der karelischen Abteilung von Memorial und Museumsdirektor Sergej Koltyrin.
Dmitriew hatte 1997 mit einer Gruppe von Menschenrechtlern die Massengräber von Sandarmoch entdeckt und seitdem in der Öffentlichkeit immer wieder auf die Erschießungen von Sandarmoch hingewiesen. Er hat auch eine Liste mit Namen von über tausend in Sandarmoch Erschossenen veröffentlicht.
Im Dezember 2016 war Dmitriew anonym wegen des Besitzes von Kinderpornographie angezeigt worden. Nach einem Freispruch im April 2019 befindet er sich inzwischen erneut wegen dieser Vorwürfe in Untersuchungshaft. Menschenrechtler zweifeln an der Authentizität der Vorwürfe gegen Dmitriew. Die Nichtregierungsorganisation Memorial, die sich der Aufarbeitung der Verbrechen unter Stalin widmet, sieht in ihm einen politischen Gefangenen.
Auch Museumsdirektor Koltyrin musste gespürt haben, dass ihm ein ähnliches Schicksal wie Dmitriew drohen könnte, nachdem die regierungsnahe „Russische militärhistorische Gesellschaft“ anzweifelte, die Toten von Sandarmoch seien Oppositionelle gewesen. Bei den Opfern, so die Gesellschaft“ handele es sich um sowjetische Kriegsgefangene, die von Finnen erschossen worden seien.
Wieder salonfähig
Die Arbeit von Koltyrin und Dmitriew über die Schrecken der Stalin-Zeit passt nicht zu einer staatlichen Politik, die das Gedenken an Stalin wieder salonfähig machen möchte. Kurz vor seiner Verhaftung hatte Koltyrin der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta anvertraut, dass er sich vor einem ähnlichen Schicksal wie dem von Dmitriew fürchte.
Merkwürdig erscheint auch der Mandats-Entzug des Anwaltes von Koltyrin, Wladimir Anufriew. Er war von Koltyrins Bruder mit der Wahrnehmung von Koltyrins Interessen betraut worden. Das staatliche Ermittlungsbüro überbrachte dem Rechtsbeistand im November 2018 ein Schreiben seines Mandanten, in dem dieser ihm das Mandat entzogen hatte.
Dies sei nicht der erste Mandatsentzug gewesen, zitiert das Internetportal 7x7-journal.ru den Anwalt. Schon einmal habe ihm Koltyrin angeblich das Mandat entzogen, in einem Gespräch jedoch berichtet, dass diese Entscheidung unter Drohungen getroffen worden sei.
„Ich persönlich kenne Koltyrin nicht, er war auch nie Mitglied von Memorial. Koltyrin war kein Aktivist, aber er hat gute Arbeit geleistet“, sagt der Vorsitzende der Gesellschaft Memorial Jan Ratschinskij. Zu den Vorwürfen gegen Koltyrin könne er nichts sagen, aber diese seien propagandistisch genutzt worden, um auch den Chef von Memorial in Karelien, Jurij Dmitriew zu diskreditieren.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!