Menschen mit geistiger Behinderung: Was ist schon normal?
Man muss vermittelt bekommen, behindert zu sein, um selbst zu wissen, dass man es ist. Ein Einblick in eine betreute Wohneinrichtung.
Der Grad an geistiger Behinderung wird mit IQ-Tests ermittelt. IQ-Tests sind schon unter optimalen Bedingungen umstritten, in der Praxis sind sie bisweilen grandios grotesk.
Stefan stammt aus der Ulmer Gegend. 44 Jahre lang lebte er mit seinem Vater auf dem Dorf, umgeben von Kuhställen und Wiesen. Dann erkrankte sein Vater und wurde pflegebedürftig, also kümmert sich jetzt seine Schwester. Die Schwester lebt in Berlin, sie wollte ihn in der Nähe haben, so kam Stefan zu uns, in die große Stadt: Er, der sich der Tatsache, dass überhaupt mehr als 500 Menschen auf dieser Welt leben, wahrscheinlich nur rudimentär bewusst war.
Zur Ermittlung seines Hilfebedarfs wurde er getestet. Das erwies sich als schwierig, weil Stefan sehr starken Dialekt spricht, den die Berliner Gutachterin nicht verstand; und weil er auf die Frage, wo er wohne, „Beim Frett“ antwortete, nahm sie an, er wisse nicht einmal, wo er genau gelebt habe, bisher. Sie wusste nicht, dass sein Vater Alfred hieß und entsprechend „Frett“ genannt wurde. Jetzt heißt es in dem Schreiben, er sei über seine bisherigen Lebensumstände kaum orientiert gewesen. Mei, so isches halt, würde Stefan sagen.
Wenn ich in meiner Gruppe frage, warum die Bewohner glauben, dass sie hier sind, in einer betreuten Wohneinrichtung, antwortet Kalle, der kognitiv fitteste: „Weil ich ein bisschen doof bin.“ Die anderen sagen Sachen, die mit ihrer Behinderung nichts zu tun haben, aber trotzdem stimmen. „Weil das ist mein zu Hause“ zum Beispiel oder „weil meine Mama alt ist“ oder „allein komm ich nicht klar“.
geboren 1982 in Wangen im Allgäu, arbeitet als Autor und Behindertenpfleger in Berlin. Seine Kurzgeschichtenbände „Randgruppenmitglied“ und „In kleinen Städten“ sind im Verbrecher Verlag erschienen.
Es sind praktische Gründe, die ihnen einfallen, und die mich zu der Annahme bringen, geistig Behinderte würden jene Menschen genannt, die mit den Zumutungen des Lebens schlechter zurechtkommen als der Durchschnitt (entsprechend werden sie auch viermal häufiger seelisch krank im Vergleich, sagt man).
Diese Zumutungen sind nicht unbedingt objektiv, sie ergeben sich aus einer persönlichen Sicht. Am deutlichsten wurde mir dieser Umstand bei Markus bewusst.
Er war, was er war
Markus ist mit dem Sturge-Weber-Syndrom diagnostiziert. Ein rötlich-blau schimmerndes Geschwulst zieht sich über die komplette linke Gesichtshälfte und mündet in seiner Oberlippe, die riesig ist, so riesig, dass sie ihm über das Kinn hängt. Die meisten erschauern unwillkürlich, wenn sie ihn sehen. Allein sein Aussehen macht ihn zum Behinderten, die meiste Zeit ist ihm die Welt da draußen mit Ekel begegnet.
Das passiert hier, in meiner Einrichtung, nur sehr selten. Dieses Heim ist einer dieser selten gewordenen Orte, an denen Schönheit nicht existiert. Die Bewohner sehen aus, wie sie aussehen, dick zu sein bedeutet wenig oder nichts, außer dass man schneller aus der Puste ist.
Markus hat sich nie als behindert verstanden. Er war, was er war, da blieben wenige Fragen offen. Behinderte, das waren für ihn immer nur Rollstuhlfahrer. Solange er laufen konnte und nicht geschoben werden musste, bestand kein Anlass, sich zu kategorisieren. Woher seine grundsätzliche Schwermut kam, fragte er sich nicht, das haben wir Betreuer uns hergeleitet: Er hat viel Ablehnung erfahren in seinem Leben, seine Mutter verließ die Familie, da war er drei. Sein Vater gab ihn mit sieben in ein Heim für geistig behinderte Kinder.
Was ihn tatsächlich behindert, ist nicht sein Aussehen. Der Blutschwamm breitet sich aus, das ganze Leben von Markus ist er schon gewachsen, und dabei drückt er auch immer stärker auf das Gehirn. Dadurch werden epileptische Anfälle ausgelöst, und außerdem fallen halbseitig immer mehr motorische Fähigkeiten aus. Seit drei Jahren ist er bettlägrig, und erst seitdem begreift er sich als eingeschränkt: Das ist es, was ihn unglücklich macht.
Was soziale Arbeit macht
Soziale Arbeit hat eine doppelte Perspektive; einerseits geht es darum, die Einschränkungen der Bewohner zu kompensieren oder zu lindern. Und andererseits gibt es einen von der Gesellschaft vorgegebenen Zivilisierungsauftrag, der sich aber nur mittelbar bemerkbar macht.
Der Hilfebedarf – also der Umfang der Betreuung – bemisst sich nach dem Metzler-Bogen, ein Verfahren, das nach Optimierungsmöglichkeiten sucht. Es soll gefördert werden, die Bewohner sollen sich entwickeln, und nur wenn es eine Perspektive auf Vorankommen gibt, rechtfertigt das den größeren finanziellen Aufwand. Das führt zu der absurden Situation, dass in vielen Bundesländern bei Bewohnern, die an Demenz erkranken, der Hilfebedarf sinkt.
Das ist eine faktische Konsequenz aus dem Inklusionsbegriff: Gerade jene, die am meisten Hilfe nötig haben, überlässt man immer mehr sich selbst. Zumindest in der Theorie – praktisch wird versucht, das in den gemischten Wohngruppen aufzufangen.
Die Unschärfe des Begriffs der geistigen Behinderung führt dazu, dass beispielsweise in meiner Gruppe die eine Hälfte der Bewohner demenziell ist. Da geht es vor allem darum, die Bewohner zu begleiten, ihnen ein schönes Leben zu machen, sie zu umsorgen und Defizite auszugleichen. Bei der anderen Hälfte geht es darum, ihnen zu ermöglichen, so selbstbestimmt zu leben wie möglich; sie zu ermächtigen, eigene Entscheidungen zu treffen, ein eigenes Leben zu führen.
Stefan will gar nicht gefördert werden
Das führt natürlich fortwährend zu Konflikten, zu Eifersucht. Stefan hat das sehr gut verstanden; er findet es unfair, dass er sich seine Brote selber schmieren muss, wo Sabrina ihre doch sogar mundgerecht geschnitten und gereicht bekommt. Wieso sich anstrengen, wenn andere in einem Brueghel’schen Schlaraffenland leben?
Stefan will eigentlich gar nicht gefördert werden, er will malen und essen und viel duschen (er liebt Wasser). Was die Gesellschaft von ihm will, ist ihm – mit Verlaub – scheißegal; eigentlich soll er arbeiten gehen, weil das halt so ist hierzulande, aber er schläft eben gern bis zwölf. Und er hat auch sehr gut verstanden, welche Sorte Argumente greifen, um zu verhindern, dass wir ihm auf die Nerven gehen.
Vor drei Jahren hatte er einen Bandscheibenvorfall. Kommt die Sprache auf eine Werkstätte, zeigt er auf seine Schulter und sagt: „Der Arm tut weh!“ Und dass er, bevor er arbeiten gehen könne, erst mal gesund werden wolle. Und damit hat sich die Sache dann für die nächsten drei Monate. Ich stehe für Frühdienste um halb fünf Uhr nachts auf, ich würde sagen, Stefan stellt sich da geschickter an. Es sind – wenn überhaupt – häufig tradierte Vorstellungen, die den Bewohnern einen Begriff ihrer eigenen Behinderung geben. Man muss vermittelt bekommen, behindert zu sein, um selbst zu wissen, dass man es ist.
Maria will Kekse
Maria mochte ich immer gern. Nachmittags besuchte sie die Gruppen und fragte nach Kaffee und Keksen, wobei „fragen“ hier schon eine grobe Interpretation ist. Sie kam zu der Gruppe, setzte sich zu den anderen an den großen Tisch und versuchte, möglichst unauffällig dreinzukucken. Wenn man sie dann fragte, ob sie was haben wolle, strahlten einen zwei braune Knopfaugen an. „Kaffee.“ Also gab ich ihr Kaffee. „Und Kekse!“ Also gab ich ihr Kekse.
Die anderen Bewohner am Tisch interessierten Maria nicht, sie fühlte sich nie wohl unter anderen Behinderten. Sie achtete sehr auf ihr Erscheinungsbild, sie war immer sauber und adrett gekleidet, mit Blusen und Faltenrock, weil man, wie sie mir einmal erklärte, sich eben so anzieht. Ordentlich.
Wenn man mit einer Gruppe Bewohner in einen Bus stieg, und Maria war dabei, dann sah sich um, suchte sich eine allein sitzende, ältere Dame, kletterte neben sie auf den Sitz, kuckte sich ein paar Augenblicke ihre Gruppe an und sagte dann zur Seite hin: „Furchtbar, immer diese Behinderten!“ Ich habe nur einmal erlebt, dass eine Nebensitzerin daraufhin in Gelächter ausbrach. Maria hat sich daraufhin direkt weggesetzt. Ich fragte sie hinterher, warum, und Maria sagte: „Die war bekloppt.“ Erst da fiel mir auf, dass ich diese Möglichkeit gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?