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Dahinten war der Luftschutzkeller: Der Hof des Hauses an der Elisabethkirchstraße in Berlin-Mitte Foto: Sophie Kirchner

Mein Vormieter Max Anschel (6)Das Leben im Nazinest nach dem Krieg

Max Anschel kam ins KZ, weil Nachbarn ihn im Luftschutzkeller anzeigten. Seine Frau lebte noch 20 Jahre in dem Haus, Seite an Seite mit den Denunzianten.

Das Bittschreiben an Heinrich Himmler

Dieser Brief ist eine echte Überraschung – schon wegen des Adressaten. Ein Jahr nachdem Max Anschel nach Auschwitz deportiert wurde, schreibt seine Frau Anna Anschel an Heinrich Himmler. Der Mann, der als Reichsführer SS und zu der Zeit auch Reichsinnenminister die zentrale Instanz der Judenvernichtung war, ist ihre letzte Hoffnung. Und ihm schildert sie die Geschichte, wie ihr Mann von einem Nachbarn denunziert wurde – und so ins KZ kam.

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Heute finde ich den Mut, Ew. Exzellens um Gnade für meine Mann Max Israel Anschel zu bitten.

So beginnt Anna Anschel ihren Brief. Und schon dieser erste Satz ist ein Akt verzweifelter Unterwürfigkeit. Sie nennt ihren Mann mit dem zweiten Vornamen „Israel“, den er als Jude zwangsweise tragen musste.

Mein Mann, mein Mädchen und ich hielten uns bis zum November 1943 bei Fliegeralarm in dem unteren Kellergang des Hauses, von dem rechts und links insgesamt 7 Türen abgehen, die zu Wohnungen führen, auf,

schreibt Anna Anschel weiter. Erst als die Heftigkeit der feindlichen Angriffe zugenommen hatte, habe sie ihren Mann gebeten, mit ihr in den besser befestigen Luftschutzkeller zu gehen.

Als wir das taten, bedrohte mich der Luftschutzwart mit Anzeigen, weil wir „vorn“ bleiben sollten“,

schreibt Anna Anschel an Himmler.

Am 15.1.1944 klingelte es an unser Wohnungstür. Der Luftschutzwart erklärte mir persönlich: „Ich habe Polizeigewalt. Sie müssen in den Hausluftschutzkeller. Ihr Mann und ihr Kind, falls sie im Hause sind, dürfen weder in den Keller noch in der Wohnung verbleiben, sondern haben sich unter meiner Aufsicht aufzuhalten. Bewegen sie sich nicht nach meinen Vorschriften, gibt es eine Anzeige.“

Von dieser Zeit an holte der Luftschutzwart sofort zu Beginn des Alarms meinen Mann mit den Worten: „kommen Sie nach vorn“ aus dem Keller. Dort liess er ihn von Anfang bis Ende des Alarms stehen, ohne, dass je ein Kontrollgang gemacht wurde.

Der Brief an Heinrich Himmler Foto: Gereon Asmuth

Vor einem erneuten Luftalarm habe sie sich sogar von der Kommandostelle der Luftschutzpolizei bestätigen lassen, dass dieses Vorgehen unzulässig sei, schreibt Anna Anschel an Himmler. Aber der Luftschutzwart Krüger und der Selbstschutztruppführer Klatt hätten dennoch Anzeige erstattet, dass der „Jude Anschel Kontrollgänge verweigert habe“ – nur weil er sich einmal geweigert habe „nach vorne“ zu gehen. Dabei, betont seine Frau, habe sich ihr Mann nie gegen Kontrollgänge gewehrt.

Bei den Löscharbeiten um das Kino „Harmonie“ in der Invalidenstraße hat sich mein Mann betätigt. Auch alle sonst vorkommenden Arbeiten im Luftschutzkeller hat er mit ausgeführt.

Wenig später wurde Max Anschel als Folge der Anzeige von der Gestapo verhaftet. In ihrem im Juni 1945 verfassten Lebenslauf schreibt Anna Anschel:

Nun kam der Februar 1944. 2 Gestapobeamten holten eines Abends meinen Mann. Am anderen Tage ging ich zur Gestapo. Der Sachbearbeiter Schwöbl – ein berüchtigter Sadist und Schläger – sagte mir persönlich:

„Ich habe soeben ihren Mann wegen Feindbegünstigung verhaftet, da er Kontrollgänge verweigert hat. Die Zeugen sind der Parteigenosse Klatt und Krüger. Ihr Mann hat bereits gestanden. Sie können sich ja denken, was einem Staatsfeinde blüht. Warum sind sie noch nicht von den Juden geschieden?“

Antwort: „Ich sehe ja in meinem Mann nicht den Juden, sondern meinen Mann.“

Schwöbl: „Rauss Sie Judenhure! Dass ich sie nicht noch verhafte!“

Mein Mann kam ins Reichsarbeitserziehungslager Wartenberg unter S.S. Hauptsturmführer Weber – der die Leute glatt hungern liess. Alles, was ich an Lebensmittel hatte, sandte ich meinem Manne. Auch besuchte ich ihm heimlich. Eine schwere Flecktyphuserkrankung erfasste meinem lieben Mann.

Von seiner schweren Krankheit kaum genesen, kam er ins Polizeigefängnis. Durch einen Zufall erfuhr ich davon. Nach grosser Bemühung bekam ich Sprecherlaubnis. Mein Mann erzählte mir schweren Herzens, dass er einen langen vorgedruckten Bogen unterschreiben musste, worin mit Tinte ausgefüllt stand, dass er durch seine staatsfeindliche Haltung dem Feinde Vorschub leistete und dadurch die Anordnungen des Staates sabotierte. Deshalb hat er als Staatsfeind in Sicherheitsverwahrung zu verbleiben.

Ein letztes Treffen im Keller der Polizei

Einen im Polizeigefängnis diensthabenden Beamten bestach ich. (…) Eines Abends liess mich der Beamte Müller in ein Kellerloch blicken. Ein Keller ohne Fenster, ohne Sitz- oder Schlafgelegenheit. Auf dem Steinboden lag mein Mann, ein an Typhus sehwer erkrankt gewesener 57-jähriger Mensch. Leise rief ich: „Männe!“ Mein Mann erschrak sehr und ebenso leise kam es zurück: „Liebling gehe.“

Durch den Beamten konnte ich ihm auch noch Worte des Trostes senden und bat, doch auszuhalten, da doch die Stunde der Befreiung endlich bald kommen müsste. Auch er sandte mir liebe, tröstende Worte.

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Eines Tages war er nicht mehr da. Aus Auschwitz bekam ich später Nachricht. Ich sandte ihm an Lebensmittel, was ich nur entbehren konnte, im Dezember auch noch Winterkleidung. Seit dem 22.10.1944 bin ich ohne Nachricht. Nun suche und frage ich überall nach. Oft bin ich ganz verzagt.

Der Luftschutzkeller im Nachbarhaus

In den verschieden Schriftstücken, die in den Mappen des Landesarchivs abgeheftet sind, finden sich immer wieder Details, die den Ablauf plastisch, nachvollziehbar machen.

An einer Stelle wird beiläufig erwähnt, dass der Luftschutzkeller unter der Brunnenstraße 169 lag. Das dortige Haus teilt sich mit dem Wohnhaus der Anschels einen gemeinsamen Hinterhof.

Dort wohnt seit vielen Jahren der Eventmanager Christian Anslinger, den ich mal bei einem Kulturprojekt kennengelernt hatte. Er kennt sich aus mit Kellern – vor allem mit solchen, die seit den frühen 1990er Jahren von der Technoszene für Partys genutzt wurden. Christian drückt mir das großartige Fotobuch „Temporary Spaces“ in die Hand, für das der Fotograf Martin Eberle die häufig illegal genutzten Räume vieler Clubs dokumentiert hat. Darunter der „Eimer“ und der „Club 4 Chunk“, die von hier nur ein paar hundert Meter die Straße runter lagen. Aber das ist eine völlig andere Schicht der neuen Berliner Stadtgeschichte.

In seinem Wohnhaus war er schon lange nicht mehr im Keller. „Das ist ekelig“, warnt Christian, „alles voller Ratten.“ Von einem Luftschutzkeller dort unten weiß er nichts. Aber er gibt mir den Schlüssel, damit ich selber nachschauen kann.

Die Treppe führt vom Hof in modrig riechende, flache Gänge. Zum Glück ist von den Ratten nichts zu sehen. In einer Ecke wächst ein großer Pilz. Hier und da steht Gerümpel, ein paar neuer wirkende Leitungen und Rohre lassen erkennen, dass hier nicht alles seit Jahrzehnten unberührt geblieben ist. Die Verschläge haben, wenn überhaupt, Holztüren. Nur einer nicht. Er hat eine Stahltür, die sich von innen und außen mit großen Hebeln verriegeln ließe. Bin ich hier richtig?

Auf der Innenseite ist eine Plakette angebracht. „Fr. Richardt Stahlbau Hameln/Weser“ steht darauf. Und etwas kleiner darunter: „Vertrieb gem. §8 Luftsch.-Ges. genehmigt“. Ja, ich bin fündig geworden.

Die Stahltür zum Luftschutzkeller Foto: Gereon Asmuth

Das Luftschutzgesetz wurde von den Nazis bereits im Jahr 1935 erlassen – es wurde dokumentiert in der Zeitschrift Gasschutz und Luftschutz vom Juli 1935. Diese Zeitschrift für das gesamte Gebiet des Gas- und Luftschutzes der Zivilbevölkerung, wie sie im Untertitel hieß, erschien bereits seit 1931. Sie „behielt nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ihren Charakter als Fachblatt; offene Propaganda blieb eher die Ausnahme. Gleichwohl stand sie dem Dritten Reich positiv gegenüber – dieses förderte den zivilen Luftschutz energisch, später auch zur Kriegsvorbereitung“, heißt es bei Wikipedia.

Herstellerplakette an der Innenseite der Stahltür Foto: Gereon Asmuth

Und sie dokumentiert, dass Luftschutz schon 1935 mehr als prophylaktische Theorie war. Das zeigen in der Ausgabe nachlesbare Berichte von der großen Luftschutzübung im März 1935. „Die gezeigte Vollübung war sehr sorgfältig bis ins kleinste vorbereitet und klappte im großen Ganzen vorzüglich“, heißt es an einer Stelle. Selbst die „Abwicklung des Verkehrs ging in der verdunkelten Reichshauptstadt Berlin erstaunlich glatt vor sich. Mag auch der herrlich vom Himmel scheinende Vollmond geholfen haben, diese erstmalige Verdunkelung der Reichshauptstadt in mildem Licht erscheinen zu lassen, so werden sich auch bei Neumond die angewandten Maßnahmen bewähren.“ Offenbar ging man schon damals, vier Jahre vor dem Überfall auf Polen, davon aus, dass es Anlass geben könnte, Berlin zu bombardieren.

Auch über die Firma Richardt Stahlbau findet man Einschlägiges. Auf der Webseite gelderblom-hameln.de hat der Geschichtslehrer Bernhard Gelderblom die Geschichte der Stadt abseits vom Rattenfänger dokumentiert. Es geht um die Judenverfolgung in der niedersächsischen Stadt. Und um Zwangsarbeit. „In den Spitzenzeiten der Jahre 1944 und 1945 arbeiteten in Hameln und dem Landkreis mehr als 7.000 Personen“ in Zwangsarbeit vor allem in den weitgehend auf Rüstungsproduktion umgestellten Fabriken, schreibt Gelderblom.

Zwangsarbeit für Luftschutztüren in Hameln

Eine davon war die Firma Richardt Stahlbau. Ein Text berichtet über den Besuch einer Polin, die 1944 in Hameln zur Welt kam, weil ihre Eltern dort Zwangsarbeit seit 1942 leisten mussten: „Und dank des heimischen Historikers Bernhard Gelderblom finden die Kwaskiewicz’ am letzten Tag auch heraus, wo Vater Piotr seinerzeit als Zwangsarbeiter beschäftigt war: bei der ehemaligen Firma Stahlbau Richardt, als Schweißer von Luftschutztüren.“

Hat er an der Tür mitgearbeitet, die hier noch im Keller steht? Hinter der Max Anschel nicht Schutz suchen durfte?

Die Decke des niedrigen Kellers scheint mit Betonplatten verstärkt zu sein. Eventuell einst vorhandene Fenster zur Straßenseite sind zugemauert. An einer Wand des kaum mehr als 20 Quadratmeter großen Raumes finden sich Holzpanele. Hier sollten die Be­woh­ne­r:in­nen von zwei Berliner Mietshäusern Schutz finden, während die Alliierten die Stadt bombardierten.

Von der Tür bis zur Kellertreppe, an der Max Anschel „vorne“ trotz Bombenalarm warten musste, sind es keine zwei Meter. Hier also kam es zum Streit zwischen den Anschels und den Luftschutzwarten Klatt und Krause.

Die Treppe zum Hof, wo Max Anschel bei Luftalarm „vorne“ warten sollte Foto: Gereon Asmuth

Geht man die Treppe wieder hoch zum Hof, atmet man auf. Und blickt auf Haus, in dem die Anschels lebten.

Vier Wochen bis zur Deportation?

Die Eskalation im Luftschutzkeller fand offenbar am 21. Januar 1944 statt – auch das wird in einer der Zeugenaussagen erwähnt. In der Nacht hatte die Royal Air Force einen Großangriff mit mehr als 1.000 Flugzeugen gestartet. Die Menschen in Berlin flüchten sich wieder in die Keller.

An anderer Stelle heißt es beiläufig, dass Max Anschel am 17. Februar 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Wenn das Datum stimmt, vergingen vom Streit im Keller bis zur Deportation keine vier Wochen.

Allerdings lässt sich das Datum nicht verifizieren. Im Netz finden sich an verschiedenen Orten die Deportationszüge von Berlin nach Auschwitz aufgelistet. Einen Transport nach Auschwitz gab es erst 5 Tage später am 22. Februar. Auf der Webseite statistik-des-holocaust.de findet sich gar die Passagierliste dieses „49. Osttransports“. Der Name Anschel steht nicht darauf. Auch auf den vielen anderen dort publizierten Listen finde ich ihn nicht.

Eine neue Spur ins KZ Majdanek

Kurz bevor diese Texte online gehen, habe ich noch eine andere Idee. Anna Anschel erwähnt in einem Schreiben, die Häftlings-Nummer, die ihr Mann in Auschwitz auf den Arm tätowiert bekam: 190 795. Das Arolsen-Archiv hat eine Liste ins Netz gestellt, in der man sehen kann, wann welche Nummern vergeben wurden. Demnach ist Max Anschel erst im August 1944 in Auschwitz angekommen.

Im Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Berliner Humboldt-Universiät finde ich das Buch „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945“ von Danuta Czech. Die polnische Historikerin, deren Vater Auschwitz knapp überlebt hatte, hat diese 1.000-seitige Chronik des Grauens in den 1950er und 60er Jahren anhand ihr zugängliche Akten erstellt. Man kann dort nachlesen, was Tag für Tag in Auschwitz passiert ist. Wieviele Menschen vergast wurden. Aber hin und wieder auch, dass einem Häftling der Ausbruch gelungen war.

Arolsen-Archiv: Mitmachen bei der Digitalisierung

Das Arolsen-Archiv verfügt über eine der größten Datenbanken mit Dokumenten zum Holocaust. Fast alle der 30 Millionen Original-Dokumente sind nach Angaben des Archivs bereits online verfügbar. Hier kann man, ähnlich wie beim United States Holocaust Memorial Museum auch die Akten zu Max Anschel aus dem KZ Stutthof einsehen.

Hervorgegangen ist das Archiv aus einer Sammlung von Dokumenten über die Situation der Inhaftierten, Zwangsarbeiter und Flüchtlinge in Mitteleuropa, die die Allierten bereits bei ihrem Vormarsch auf Deutschland ab 1943 angelegt hatten. Seit 1946 hat das Archiv seinen Sitz in der hessischen Stadt Bad Arolsen, nach der es benannt wurde.

Eine besondere Initiative ist das Projekt #everynamecounts (jeder Name zählt). „Die Nazis verfolgten und ermordeten Millionen Menschen. Hilf mit, an die Opfer zu erinnern“, heißt es auf der dazugehörigen Webseite.

Hier kann sich jeder und jede an der Digitalisierung alter Akten beteiligen. Das Arolsen Archiv stellt dort Foto alter Dokumente online und bittet darum, die dortigen Angaben zu den Opfern in leicht zu verstehende Formular übertragen. Damit werden die Akten in Datenbanken durchsuchbar – eine unschätzbare Hilfe für alle, die nach Dokumenten zu einzelnen Personen suchen.

In der 1989 erschienenen deutschen Version kann man unter dem 6. August 1944 nachlesen: „Die Nummern 190765 bis 190835 erhalten 71 Häftlinge, die mit einem Evakuierungstransport aus dem KL Lublin (Majdanek) nach zwei Wochen im KL Auschwitz eintreffen. Wahrscheinlich wurden diese Häftlinge zusammen mit den beweglichen Gütern, den Büroeinrichtungen u.ä., die ins KL Auschwitz transportiert wurden, evakuiert.“

Das Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin/Majdanek lag rund 260 Kilometer nordöstlich von Auschwitz. Hier kam die Rote Armee deutlich früher an. Und die Nazis hatten schon im April begonnen, das KZ zu räumen. Am 22. Juli 1944 wurde das Lager aufgeben. Einen Tag bevor sowjetisvche Truppen Majdanek erreichten, wurden noch mehrere hundert Gefangene erschossen, heißt es auf der Seite des Majdanek-Museums. 800 weitere wurden bewacht von SS-Männern zunächst auf einen tagelangen Fußmarsch geschickt, bis sie schließlich mit einem Zug nach Auschwitz transportiert wurden, wo sie zwei Wochen später ankamen.

Max Anschel scheint einer von ihnen gewesen sein. Allerdings fehlt sein Name auf der Gefangenen-Liste dieses Transports, die das Majdanek-Museum veröffentlicht hat. Aber sie zeigt nur einen Ausriss. Aber das KZ Lublin-Majdanek dürfte eine weitere Station auf dem Leidensweg von Max Anschel gewesen sein.

Die Hoffnung auf ein Wiedersehen

Ihren Anfang 1945 verfassten Brief an die „Ehrenwerte Exzellenz“ Heinrich Himmler beendet Anna Anschel mit einer flehenden Bitte:

Mein Mann ist (…) Kriegsteilnehmer mit der Auszeichnung des Frontkämpfer-Ehrenkreuzes und E.K. II. Meine Ausführungen, hochverehrter Herr Reichsminister, beweisen und zeigen, dass mein Mann das Opfer eines Irrtums ist. Als Frau und Mutter flehe ich Sie inständigst an, Ihre grosse Gnade walten zu lassen und meinen Mann zu befreien. Seien Sie meines steten Dankes gewiss.

Dass ihr Mann da schon mehr als zwei Monate tot war, konnte sie nicht wissen. Selbst im Juni 1945 hatte sie die Hoffnung auf ein Wiedersehen nicht aufgegeben: Am Ende ihres Lebenslaufs schreibt Anna Anschel:

Mein grösster Herzenswunsch ist der, recht bald meinen Iieben Mann bei mir zu haben, um ein neues leben mit ihm in einer anderen Wohngegend beginnen zu können.

Dass Himmler jemals geantwortet hat, scheint unwahrscheinlich. Er wurde wenige Tage nach Kriegsende verhaftet und beging am 23. Mai 1945 Suizid.

Der lange Kampf um verlorenes Vermögen

Mit dem Ende des Krieges am 8. Mai 1945 und dem Untergang des NS-Regimes mag Hoffnung aufgekommen sein bei Anna und Ruth Anschel. Doch der Schrecken war noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil, er zog sich über Jahrzehnte. Weil Max Anschel nicht zurückkam. Weil die Nachbarn dieselben waren wie in der NS-Zeit. Und weil die Anschels durch die Nazis ihr Vermögen verloren hatten.

Das zumindest versuchten Anna und Ruth Anschel in jahrelanger Arbeit zurückzubekommen. Auf der Webseite des Niederländischen Nationalarchivs finde ich einen Hinweis auf Akten zu Anna Anschel. Ich lasse sie mir zuschicken. Es sind Briefwechsel mit Banken und Institutionen, mit denen Anna Anschel an Geld herankommen will, das ihr Mann Max bei der Hugo Kaufmanns & Co Bank angelegt hatte. Die Akten beginnen im Jahr 1947, als Anna Anschel versucht, eine „Nichtfeinderklärung“ zu bekommen.

Und sie enden fünf Jahre später mit Briefen, in denen bescheinigt wird, dass Ruth Anschel als Erbin von Max nun von den ursprünglich 3.850 Gulden, nach Abzug von Auslagen und Abgaben noch 3.446 Gulden ausgezahlt werden können.

„Im letzten Brief erhält Frau Anschel die Zusage, dass sie das Vermögen zurückerhalten soll. Es war zuvor als mögliches ‚Feindvermögen‘ eingestuft worden“, erklärt mir ein taz-Kollege, der Holländisch lesen kann.

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Ebenso lang zieht sich ein Briefwechsel zwischen Ruth Anschel und ihren Vertretern auf der einen und der Deutschen Bank auf der anderen Seite. Es beginnt mit einem „Antrag auf Wiedererstattung von übertragenem Vermögen“, den im November 1950 die Jewish Restitution Successor Organization als Treuhänder im Namen von Ruth Anschel stellt.

Es geht anfangs um 3.000 Reichsmark, die Max Anschel bei der Deutschen Bank für seine Tochter deponiert hatte. Hier schreibt die Deutsche Bank Ende 1955, dass ein Anspruch von 1.000 Reichsmark bereits 1951 eingelöst worden sei. „Der Gegenwert in Höhe von DM 77,65 wurde bei der Berliner Disconto Bank A.G. gutgeschrieben, die ihn abzüglich DM 1,50 Gebühren“ für die Einholung einer Genehmigung an Anna Anschel ausgezahlt habe.

Dass es Anna Anschel nicht gut ging, lassen weitere Papiere aus dem Landesarchiv erkennen. Immehin wurde sie in der Sowjetischen Besatzungszone schnell als Opfer des Faschismus anerkannt und mit einem entsprechenden ODF-Ausweis ausgestattet. Das aber hatte Neid und Missgunst bei den Nach­ba­r:in­nen zufolge – und heftigste Anschuldigungen.

Die erneute Denunziation durch die Nachbarn

In einem Schreiben vom 5. August 1946 mit dem Betreff „Sachen Anschel“ fasst der damalige Straßenobmann der Elisabethkirchstraße, Wilhelm Gädheimer, die Vorwürfe zusammen. Demnach sollen nicht die Luftschutzwarte Klatt und Krüger an der Deportation von Max Anschel schuld gewesen sein, sondern seine Ehefrau Anna.

„Anschel stand bei seiner Frau unter dem Pantoffel, und hatte nur das auszuführen, was seine Frau sagte“, schreibt Gädheimer. Nur deswegen habe Max Anschel die Anweisungen der Luftschutzwarte zurückgewiesen.

„Krüger machte daraufhin Anzeige bei der Polizei Gartenstrasse, welche zur Folge hatte, dass Anschel zu RM 80,- Geldstrafe verurteilt wurde. Auch hier hat sich Frau Anschel geweigert, dass Geld zu bezahlen. Daraufhin wurde Anschel von der Gestapo nach dem Lager Theresienstaat abgeholt“, schreibt Gädheimer weiter.

Er fasst damit die Aussagen von Anschels Nach­ba­r:in­nen zusammen, die diese mit mehreren eidesstattlichen Erklärungen untermauern.

Unter den Nachbar:innen, die Anna Anschel beschuldigen, ist auch die Frau von P.G. Klatt, der – so Gädheimer – im August 1945 abgeholt worden sei und sich seitdem in Sachsenhausen befinde. Dort hatten die Nazis ein KZ betrieben, das die Sowjets nach der Befreiung selbst als rüdes Gefangenenlager nutzten.

Aufgrund des Schreibens von Gädheimer lädt der „Hauptausschuss Opfer des Faschismus“ zahlreiche Nachbarn ein. Ein Fritz Neumann bestätigt, dass Anna Anschel selbst schuld daran sei, dass ihr Mann ins Lager kam. Das Nachbarpaar Max und Klara Krause unterstellt Anna Anschel, sie habe ihren Mann als „Judenschwein und Stinkjude“ bezeichnet. Mehrere Nachbarn kreiden Anna Anschel an, dass ihr Mann, der zu der Zeit einem Arbeitsverbot unterlag, „die gewöhnlichsten Hausarbeiten verrichten“ musste, „die große Wäsche“. Auch wird ihr zum Vorwurf gemacht, dass ihr „Mädel“ im BDM gewesen sei.

Die Konsequenz ist hart: Anna Anschel wird tatsächlich der Ausweis „Opfer des Faschismus“ abgenommen.

Tatsachenverdrehung im Nazi-Nest

Doch zum Glück hat sie nicht nur feindlich gesinnte Menschen in ihrem Umfeld. Unter ihren Schreiben an den „Hauptausschuss“ nennt Anna Anschel gleich 20 mögliche Zeugen für ihre Sichtweise – darunter viele Freunde aus dem Kiez, aber auch fünf Mie­te­r:in­nen ihres Hauses, die ebenfalls im Luftschutzkeller waren. Von einigen finden sich Bericht und eidesstattliche Erklärungen in den Akten.

So schreibt Alfred Jarre, der am Arkonaplatz wohnte, dass er die Familie seit 20 Jahren kenne: Zu den Denunziationen (…) über Frau Anschel zugegangen sind, möchte ich bemerken, dass ich im Hause der Frau Anschel eine für die Gesinnung der dortigen Hausbewohner bezeichnende Erfahrung gemacht habe: Im Januar 1941 wollte ich als Soldat die Familie Anschel besuchen. Ich traf aber niemand an. Da öffnete die Nachbarin, Frau Krause, ihre Türe und sagte zu mir: „Wissen Sie auch, dass die Anschels Juden sind?“ Ich antwortete „Das macht doch nichts, es sind meine Bekannten.“ Darauf Frau Krause: „Schämen Sie sich nicht als deutscher Soldat bei solchem Judenpack zu verkehren!“

Auch Frau Küstermeier vom Katholischen Hilfswerk schaltet sich in den Streit ein. Sie berichtet, dass ein Herr Wenske bei ihr erschienen sei, der seit vielen Jahren mit Anschels in Geschäftsverbindung gestanden habe. Der bezeuge, „dass er, als er als Händler die Anschels besuchen musste, im Haus sehr oft angepöbelt wurde, was er bei diesem Judenpack zu suchen hätte“.

Und Helene Arndt, eine Bekannte aus der Krausnickstraße, schreibt, dass „mir Frau Anschel für den Fall, dass mein Mann, der ja Sternträger war, abgeholt würde, ihre Hilfe angeboten“ habe. Sie wollte ihn sogar bei sich verstecken.

Am 21.10.46 stellt ein Herr Wolff in einem zusammenfassenden Schreiben an den Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ fest, dass die Anschuldigungen der Nachbarn „vollständig den Tatbestand“ verdrehen. Es gebe eine eidesstattlichen Aussage, „dass das Haus, in dem Frau Anschel wohnt, ein richtiges Nazi-Nest war“. Und weiter: „Ich habe das Gefühl, als ob in dieser Angelegenheit ein Kesseltreiben gegen Frau Anschel gemacht wird von denselben Leuten, die nichts dazu beigetragen haben, dass Herr Anschel nicht in's KZ kam.“

Der Autor des Schreibens verbürgt sich auch persönlich für Anna und Max Anschel:

„Ich selbst sowie 25 meiner Kameraden, die mit Anschel im Lager Wartenberg waren, können jederzeit bezeugen, dass Herr Anschel die Schuld an seiner Haft dem Luftschutzwart resp. dem Luftschutz-Kontrolleur gab. Die 25 Kameraden von ihm haben Herrn Anschel als einen sehr freundlichen Menschen kennengelernt, der immer sich lobend über seine Frau aussprach.“

Hinter welchem Fenster wohnten Nazis, hinter welchem die Anschels? Das Haus in der Elisabethkirchstraße Foto: Sophie Kirchner

Er kommt daher zu dem Urteil: „Die Wirklichkeit ist đoch so, dass Herr Anschel nicht auf Veranlassung seiner abgeholt wurde und in's KZ kam, sondern durch die Anzeige des Luftschutzwartes, der durch die Russen abgeholt worden ist, gemacht hat.“

Wolffs Brief endet mit dem Satz: „Meine persönliche Meinung ist, dass Frau Anschel aus der Gegend herauszieht und ihr der Ausweis wiedergegeben wird.“

Zehn Tage später wird Anna Anschel der Ausweis „Opfer des Faschismus“ wieder ausgehändigt – in Gegenwart mehrerer Zeugen, darunter der spätere Präsident des Zentralrat der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, der sich in den Nachkriegsjahren an den OdF-Ausschüssen beteiligt hatte.

Ruhe geben die Nach­ba­r:in­nen dennoch nicht. 1947 erstattet die Nachbarin Else Selchow Anzeige gegen Anna Anschel. Selchow, so geht aus den Unterlagen hervor, war anfangs selber mit einem Juden verheiratet, ließ sich aber von ihm scheiden, bevor er offenbar deportiert wurde. „Auf Grund der Haltlosigkeit der Anschuldigung der Frau Selchow wurde die Sache zu den Akten gelegt. Der kleine Zettel, den Frau Selchow geschrieben hatte, wurde von uns in den Papierkorb geworfen“, gibt der Bezirksauschuss Opfer des Faschismus daraufhin zu Protokoll.

Ende 1949 geht ein weiteres Schreiben an den Hauptausschuss Opfer des Faschismus ein, wieder von einer Nachbarin, die sich auf die Aussagen von Krause, Klatt, Selchow und anderen beruft. In einem Vermerk des Ausschusses dazu heißt es, man habe Anna Anschel deswegen zwar vorgeladen, aber „von einer erneuerlichen Vernehmung Abstand genommen, da die Anschuldigungen dieselben sind, wie bereits im Jahre 1946 erhoben worden“. Und weiter: „Frau Anschel macht einen nervösen Eindruck, ist etwas impulsiv und wird dadurch immer wieder in Kollusionen mit den Mietern geraten.“

Und erneut wird als gangbarer Ausweg aus dem „Nazi-Nest“ ein Umzug nahegelegt. „Wir haben Frau Anschel gebeten, wenn es ihr möglich ist, die Wohnung zu wechseln.“

Sie ist dennoch geblieben. Noch fast 20 Jahre.

Spuren, überall Spuren

Je mehr man sich mit so einer Geschichte befasst, desto mehr Spuren findet man. Hinweise, Details, die die Zeit der Schoah lebendig werden lassen. Sie sind überall. Gerade in Berlin. Das wissen um das Schicksal der Familie Anschel verändert meinen Blick auf sie. Aber nicht alle Spuren führen auch zum Ziel. Manche führen weit weg, in manchen verliert man sich.

Einmal suche ich im Deutschen Zeitungsportal, das viele Printprodukte bis zurück ins 19. Jahrhundert digitalisiert hat, nach Artikeln über die Elisabethkirchstraße. Ich finde einen Bericht über einen großen Gerichtsprozess, in dem es um die Ermordung des Nachtwächters der Elisabethkirche geht, der offenbar zwei Diebe ertappt hatte, die ihn kurzerhand im Garten der Kirche aufgeknüpft haben. Aber die Geschichte spielt schon im Jahr 1891.

Einmal stoße ich auf der Webseite des Berlin-Mitte-Archivs auf alte Fotos, die zeigen, dass es einst mehrere Kneipen in der Straße gab, wie die Löwen-Bier-Schwemme in den 1920er Jahren, den Engelhardt-Spezial-Ausschank im Jahr 1938 oder eine Niederlassung des Lauchstädter Heilbrunnens 1950. Aber weiterführend für meine Recherchen ist das auch nicht.

Einmal meldet sich die Historikerin Alejandra Ciro bei mir, eine Kolumbianerin, die seit Jahren bei uns im Kiez wohnt – und bei einem Spaziergang die hölzerne Gedenktafel für Max Anschel entdeckt hat, die ich vor dem Haus aufgestellt hatte. Ciro hat die Vertreibung und Ermordung vieler jüdischer Nachbarn im Viertel rund um den Rosenthaler Platz recherchiert. Darunter neben vielen anderen die Geschichte des Parfumhändlers Winter, der bis 1938 ein Geschäft an der Brunnenstraße hatte und der 1942 nach Auschwitz deportiert wurde. Sie hat das alles – bisher nur auf Spanisch – in einem langen Text für die kolumbianische Zeitung El Espectador veröffentlicht. Man müsste es mal übersetzen.

Die Darstellbarkeit des Holocaust

Einmal besuche ich an einem freien Tag nach langer Zeit mal wieder die Neue Nationalgalerie am Potsdamer Platz. Dort ist seit 2023 die Ausstellung „Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin“ zu sehen. Ich mag seine Bilder, die fast fotorealistischen, aber noch mehr diese abstrakten Farbspratzer, die die Augen öffnen. Ohne groß vorher was über diese spezielle Sammlung zu lesen, stehe ich schließlich in einem großen Raum. Vier fast deckenhohe Farbexplosionen auf der rechten, vier gleich große Spiegel auf der linken Seite. Als Besucher wird man so zum Teil der Kunst. An den schmalen Stirnseiten hängen neben den Durchgängen vier kleine Fotografien. Schwarz-Weiß, stark verwischt. Wenn man nichts über sie weiß, erkennt man eigentlich gar nichts.

Zwei zeigen Menschen vor Rauch. Eins zeigt Bäume, leicht gekippt, darunter erkennt man, wenn man genau hinschaut, wieder Menschen. Erst wenn man noch direkter hinsieht, ist zu erkennen, dass sie offenbar nackt sind. Das vierte Foto ist nahezu pure Abstraktion. Die Bilder wurden offenbar 1944 im KZ Auschwitz aufgenommen und herausgeschmuggelt.

Der Birkenau-Zyklus von Gerhard Richter in der Neuen Nationalgalerie Foto: Gereon Asmuth

Gerhard Richter ging es bei seinem Birkenau-Zyklus um die Darstellbarkeit des Holocaust. Er hat die vier Fotos groß auf Leinwand gezogen. Mit Farbe übermalt. Wieder und wieder. Bis vom ursprünglichen Bild nichts mehr zu sehen ist.

Aber ich sehe den Ort, an dem Max Anschel 1944 eingesperrt war, bevor er weiter nach Stutthof deportiert wurde. Und plötzlich ist Gerhard Richters Arbeit viel mehr als ein Meisterwerk der Abstraktion. Es betrifft mich ganz konkret.

Der Panzer an der Kreuzung

Einmal entdecke ich auf Facebook in der Gruppe „Berlin 1945“ das Foto eines Panzers. Er steht auf der Invalidenstraße in Berlin-Mitte, auf der großen Kreuzung bei mir ums Eck, aufgenommen offenbar in den letzten Kriegstagen. Aber es ist weniger die Nähe zu meinem heutigen Wohnort, die mich berührt. Sondern die Frage: Haben die Anschels ihn damals gesehen?

Einmal finde ich in den Akten ein Schreiben des Finanzamts Moabit-West an den Oberfinanzpräsidenten von Berlin, in dem am 14. März 1941 vorgeschlagen wird, die inländischen Vermögenswerte „der ausgebürgerten Judenleute Adolf Israel Anschel“, wahrscheinlich der Bruder von Max, ein Guthaben bei der Deutschen Bank in Höhe von 7.544,03 Reichsmark, als „dem Reich verfallen“ zu erklären, was nicht einmal zwei Monate später mit Schreiben vom 9. Mai genehmigt wird. Was die jahrelange Dauer der Rückerstattungsverfahren, die Anna und Ruth Anschel in den Nachkriegsjahren führen mussten, in einem noch absurderem Licht erscheinen lässt.

NS-Geschichte auf Mirkofiche im Berliner Landesarchiv Foto: Gereon Asmuth

Einmal stoße ich im Findbuch des Landesarchivs auf den Namen Klatt und lasse mir die Akten heraussuchen, in der Hoffnung, etwas über „P.G. Klatt“ herauszufinden, der laut Anna Anschel verantwortlich dafür war, dass ihr Mann ins KZ kam. Aber in diesen Akten geht es nicht um einen Täter, sondern um weitere Opfer mit gleichem Familiennamen. Da wurde im November 1940 der „Billetabreißer Horst Klatt“ zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten verurteilt – wegen „Arbeitsuntreue“. Das Schreiben findet sich auf einem Mikrofilm, auf dem reihenweise Verfahren wegen Unzucht und belegter oder vermuteter Homosexualität dokumentiert sind. Ein weitere Horror der NS-Zeit, der mich aber nicht weiterbringt.

Einmal sehe ich, dass es Anna und Ruth Anschel gut geht. Sie spazieren durch einen Wald. Aber dann wache ich auf und stelle fest, dass es nur ein Traum war. Wieder einmal brauche ich eine Pause, Abstand von dieser mir nahegehenden Geschichte.

Die offenen Fragen

So bleiben auch nach anderthalb Jahren Recherche viele Fragen offen.

Wer war der Verräter P.G. Klatt? Steht P.G., wie ich mittlerweile vermute, für Parteigenosse? Wurde er, wie es in den Akten an einer Stelle angedeutet wird, tatsächlich wegen seine NS-Taten verhaftet? Ich habe bei der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten nachgefragt, die für die Gedenkstätte Sachsenhausen zuständig ist. Ihr Sprecher Horst Seferens bedauert, dass er meine Fragen nur unbefriedigend beantworten könne, „da es mehrere Inhaftierte des Speziallagers gibt, die den Namen Klatt tragen und in Berlin verhaftet wurden“. Insgesamt sind es vier. Aber auf den ersten Blick passend erscheint keiner davon.

Wie kam Max Anschel von Schermbeck nach Berlin? Wo hat er als Prokurist gearbeitet?

Yad Vashem und die Halle der Namen

Die Gedenkstätte Yad Vashem ist einer der eindrucksvollsten Orte des Gedenkens an die Shoah weltweit. Wer das Glück hat, eine Reise nach Jerusalem zu machen, sollte unbedingt einen Besuch einplanen. Yad Vashem versammelt neben einem Museum mehrere Gedenkorte, darunter die Allee der Gerechten unter den Völkern, mit der an Menschen erinnert wird, die sich für von den Nazis verfolgte Juden eingesetzt hatten. Dort wird zum Beispiel auch an Margarete Sommer, die Leiterin des in dieser Recherche erwähnten katholischen Hilfswerks, geehrt.

Für alle, die sich mit der Geschichte des Holocaust auseinandersetzen, biete Yad Vashem zudem über weitreichende Datenbanken Zugang zu Dokumenten, Fotos, Zeitzeugenvideos etc. Die „Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer“ bietet schnellen Zugriff auf alle vorhandenen und bekannten Unterlagen der NS-Opfer.

Teil der Ausstellung von Yad Vashem ist die Halle der Namen, in der die Schicksale der NS-Opfer dokumentiert werden. Wer Informationen über Opfer hat, die dort noch nicht registriert wurden, wird gebeten, ein sogenanntes Gedenkblatt mit den wichtigsten Daten einzureichen. Das können Familienangehörige, Nach­ba­r:in­nen oder Freun­d:in­nen sein oder einfach jeder, der die Daten eines Menschen bezeugen kann.

Für Max Anschel fehlte bisher ein solches Gedenkblatt in der Halle der Namen. Ich habe es eingereicht, es kann mittlerweile über die Datenbank eingesehen werden.

Wie haben sich Anna und Max Anschel kennengelernt? Und warum ist sie, anders als gewünscht, nach dem Krieg nicht in die USA ausgewandert?

Wo hat Ruth Anschel als Ärztin gearbeitet? In Spätschichten, wie es an einer Stelle heißt? Und vor allem: Ist es wirklich wichtig, das zu wissen?

Was war die Geschichte der ebenfalls ermordeten Cousinen von Max, die Anna einmal erwähnt hatte?

Was wäre herauszufinden über den in Amsterdam lebenden jüdischen Kaufmann Sternberg und seine Familie, der das Haus seit mindestens 1930 gehört hatte? Der um das Jahr 1942 enteignet wurde. Dessen Nachfahren das Haus erst nach der Jahrtausendwende rückübertragen bekamen.

Wer waren Heinz Hans Geisler und Erwin Thiel, die andern beiden Verfolgten des Naziregimes, die laut mappingthelives.org in meinem Haus wohnten, die ganz am Anfang dieser Recherche standen, zu denen ich aber nichts gefunden habe?

Wann werden die von mir beantragten Stolpersteine für die Familie Anschel verlegt? Klappt es wirklich schon im kommenden Jahr, wie mit die lokale Initiative vor kurzem schrieb?

Eine meiner vielen Fragen aber klärt sich dann doch. Und die Antwort geht nahe. Näher geht es nicht.

Die Streit mit den neuen Nachbarn von unten

Ich finde sie beim nochmaligen Durchlesen der Papiere aus dem Landesarchiv, in denen auch die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen von Anna Anschel mit ihren Nachbarn dokumentiert wurde. Dort liegt ein dreiseitiger Brief von ihr an die Kreisleitung Mitte der Sozialistischen Einheitspartei vom Juni 1963. Gleich zu Beginn erinnert sie daran, dass ihr Mann „auf Grund einer Denunzierung von Mietern im KZ Auschwitz vergast wurde. Die Hetze gegen uns ging aber weiter bis in die jüngste Zeit.“

Dann berichtet sie von einem Streit mit Nachbarn. Als sie und ihre Tochter ein paar Tage abwesend waren, sei mal wieder die Toilette in ihrer Wohnung wegen Verstopfung übergelaufen. Die braune Brühe ist dann in die Wohnung darunter gesuppt. Statt wie üblich das Wasser im Keller abzudrehen, habe der Herr M., der unter ihr wohne, gleich die Volkspolizei gerufen, um ihre Wohnung aufbrechen zu lassen.

„Diese Verhalten sowie die Überschwemmung meiner Toilette und des Korridors löste in mir einen Schock aus, so dass ich anfing auf die Schweinerei zu schimpfen“, schreibt Anna Anschel. Man kann sie verstehen. Es muss sie an das Trauma der aufgebrochenen Wohnung in den letzten Kriegstagen erinnert haben.

Kurz darauf habe Herr M. erneut bei ihr geklingelt und sich beschwert, sie habe seine Frau beschuldigt, an der Verstopfung schuld zu sein. Der Streit eskaliert. „Darauf gab mit Herr M. zu verstehen, dass er verschiedenes über mich gehört habe“, schreibt Anna Anschel weiter – was sie offensichtlich stark empörte. „Welches Interesse haben die M.'s und was wollen sie bezwecken, indem sie an diesem Hausklatsch teilnehmen? Was sollen die Worte, dass er verschiedenes über mich gehört habe?“, fragt Anna Anschel am Ende des Briefes.

Für Anna Anschel war das offensichtlich die fortgesetzte Form antisemitischer Hetze – selbst von Menschen, die in der NS-Zeit noch gar nicht im Haus lebten. Denn M. und seine Frau wohnen erst seit kurzem im Haus. „Kaum waren M. 1962 in die unter uns liegende Wohnung eingezogen, ließen sie das Radio laut spielen“, schreibt Anna Anschel in dem Brief.

Und plötzlich wird mir vieles klar.

Ich habe das Ehepaar M. selbst kennengelernt. Es wohnte noch im Haus, als ich Jahrzehnte später eingezogen bin. Sie ließen nicht mehr das Radio laut laufen, es war der Fernseher, der in der Wohnung unter uns lärmte. Es war das alte Paar, das gern am offenen Fenster rauchte, so dass der Rauch eins höher bei uns in die Wohnung zog. Es war die Geschichte, die der damals noch ein Stockwerk tiefer wohnende Karikaturist Beck für eine seiner Zeichnungen nutzte.

Ich schreibe ihn an, er antwortet prompt: „Klar habe ich den Cartoon noch. Die Zeichnung ist von 2003 und hat die Ordnungsnummer 42.“

Dann sitze ich da, die Zeichnung auf dem Bildschirm, in der Wohnung, unter der einst die M.‘s wohnten. Und ich weiß jetzt, dass genau hier auch Anna Anschel und ihre Tochter Ruth lebten. Und 20 Jahre davor auch ihr Mann Max, der im KZ Stutthof ermordet wurde.

Die Tapete an der Küchenwand

Bei uns in der Küche hängt an der Wand ein kleiner Tapetenrest. Ein einfaches bräunliches Blumenmuster auf ockergelbem Grund. Er kam zum Vorschein, als wir vor vielen Jahren mal die Ikea-Hängeschränke abgenommen hatten, die unsere unmittelbaren Vormieter dort angebracht haben.

Die Wand drumherum hatten wir neu gestrichen, mehrfach inzwischen. Aber das Stückchen Blumentapete ließen wir unberührt. Es sah so schön alt aus. Sehr alt. Ein Stück Geschichte, das man nicht einfach übermalt. Welche Geschichte damit verbunden ist, wusste ich damals noch nicht.

Wie alt die Tapete tatsächlich ist? Ich habe Astrid Wegener vom Deutschen Tapetenmuseum in Kassel gefragt. Die Tapete weise leider keine eindeutigen stilgeschichtlichen Merkmale auf, antwortet sie umgehend. Sie könne sich eine Entstehungszeit in den 1950er oder 1960er Jahren vorstellen. Aber auch eine Herkunft aus früherer Zeit will sie nicht ausschließen.

Es ist also gut möglich, dass Max, Anna und Ruth Anschel schon vor der gleichen Tapete gesessen haben wie ich jetzt. Es ist sicher, dass sie mit dem Kachelofen, der heute noch in einer Ecke des Wohnzimmers verstaubt, geheizt haben. Die Klinken der alten Zimmertüren in ihren Händen hielten. Die Dielen im Flur knarren ließen. Das Geländer im Treppenhaus entlanggingen. In der Nachbarwohnung hat wohl Frau Krause gelebt, die über das „Judenpack“ hergezogen ist.

Ein Zeitzeugnis: Die Tapete an der Küchenwand Foto: Sophie Kirchner

Im Nachbarhaus lebten der P.G. Klatt und seine Frau, der mit seiner Anzeige die Deportation einleitete.

Über den Hof blicke ich auf die Rückseite der Brunnenstraße 169. Das Haus, unter dem der Luftschutzkeller war.

Und es ist klar, dass ich genau deshalb diese Geschichte aufschreiben muss. Die Geschichte meiner Vormieter. Damit sie nicht vergessen bleibt.

„Nur aus Liebe zu meinem Mann konnte ich ja all das Leid und die Entbehrungen ertragen“, schreibt Anna Anschel an einer Stelle. „Ich habe gekämpft gegen das Nazitum, wo ich nur konnte.“

Danksagung

Diese Projekt wäre ohne die Hilfe von vielen nicht möglich gewesen. Deshalb muss und möchte ich mich bedanken.

Für die Unterstützung bei der Recherche:

Christian Anslinger; Beck; Danuta Drywa, Leiterin der Gedenkstätte Stutthof; Jutta Faehndrich; Urich Gutmair; Klaus Hillenbrand; Andrea Kammeier-Nebel; Gotthard Klein, Leiter des Dioezesanarchivs Berlin; Horst Seferens, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; Sabine Seifert; Fabian Schmitz, NS-Dokumentationsstelle Stadtarchiv Krefeld; Maximilian Strnad, Koordinierungsstelle Erinnerungszeichen für Opfer des NS-Regimes in München; Astrid Wegener, Deutsches Tapetenmuseum

Für Redigat und Anregung zu den Texten:

Sean-Elias Ansa; Daniel Bax; Raoul Spada

Fotos:

Sophie Kirchner

Für die Umsetzung als Podcast:

Canset Icpinar, Podcastverantwortliche der taz; Phillip Grosse Siestrup, Schnitt und Nachproduktion; Stella Lueneberg, für das spontane Einlesen

Musik:

Der kurze Jingle in der Podcastversion wurde dem Song „Liebesfragmente“ der Band grimo entnommen.

.......

Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie unter taz.de/maxanschel.

Teil 1: Mein Vormieter Max Anschel, ermordet im KZ Stutthof 1944

Teil 2: Vier Tage und ein halbes Brot – Das KZ Stutthof, in dem Max Anschel starb, galt unter Häftlingen als schlimmstes Lager.

Teil 3: Die gnadenlose Kirche gegenüber – Die jüdisch-katholische Famlie Anschel lebte direkt gegenüber einer NS-dominierten Kirche.

Teil 4: Der Riss in der Tür – Ein Mordversuch, ein Einbruch, eine zertrümmerte Tür: Auf den Spuren meiner Vormieterin Anna Anschel

Teil 5: „Mutti, ich habe eine sehr, sehr grosse Bitte an Dich!“ – Die Geschichte der Tochter Ruth Anschel

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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Herzlichen Dank, dass sie dran geblieben sind und die aufwendigen Recherchen mit uns geteilt haben. Wieder ein mal widerlegt es, dass nur wenige im Nazideutschland mitgemacht haben sollen.



    Furchtbar, dass sie nach dem Krieg mit den Nazinachbarn zusammen leben mussten. Eine starke Frau.

  • Vielen Dank für die Veröffentlichung dieser weitreichenden Recherche. Insbesondere danke für den Hinweis auf "Mapping the Lives", ein Anstoß für hoffentlich viele Menschen, sich mit der Geschichte, die sie umgibt, zu beschäftigen.

    www.mappingthelives.org/

  • Eine bewegende Geschichte. Aber trotzdem ein problematischer Punkt.

    >Eine meiner vielen Fragen aber klärt sich dann doch. Und die Antwort geht nahe. Näher geht es nicht.

    >Und plötzlich wird mir vieles klar.

    > Ich habe das Ehepaar M. selbst kennengelernt. Es wohnte noch im Haus, als ich Jahrzehnte später eingezogen bin. [...] Es war das alte Paar, das gern am offenen Fenster rauchte, so dass der Rauch eins höher bei uns in die Wohnung zog. .[...] Und ich weiß jetzt, dass genau hier auch Anna Anschel und ihre Tochter Ruth lebten.

    Was, wenn die Familie M. zwischen dem Vorfall Anfang der 60er Jahre und dem Einzug Gereon Asmuths in den 90er Jahren einmal innerhalb des Hauses umgezogen ist? Dann wäre es nicht dieselbe Wohnung, die über der M.'schen Wohnung damals und heute lag.

    • Gereon Asmuth , Autor des Artikels, Ressortleiter taz-Regie
      @Martin August:

      Das lässt sich nicht ausschließen. Aber laut Berichten eines Anwohners lebten die M.s seit Anfang der 70er in der gleichen Wohnung. Ein Umzug ist somit unwahrscheinlich.

  • Wundervolles, berührendes Bild einer Familiengeschichte und fokussierte Beleuchtung der Nazizeit. Ich habe schon lange nicht mehr einen so gut beschrieben Artikel gelesen, der einen von Kapitel zu Kapitel mitreißt.



    Der Schreibstil gefällt mir sehr gut und erinnert an eine Zeit, in der Journalisten noch bewegende Geschichten erzählt haben.



    Vielen Dank dafür!

  • Vielen Dank für diesen Bericht.