Mein Vormieter Max Anschel (1): Mein Vormieter, ermordet im KZ Stutthof 1944
In der Nazizeit lebte die Familie Anschel in der Elisabethkirchstraße in Berlin-Mitte, im Haus, in dem heute unser Autor wohnt. Eine Spurensuche, die nahe geht.
Inhaltsverzeichnis
D iese Geschichte beginnt mit einem Text. Ende Februar 2023 berichtete Sabine Seifert in der taz über Menschen, die sich in Berlin auf die Spuren einer jüdischen Familie begeben haben, die einst in dem Haus wohnten, in dem sie heute leben. Und sie erwähnt dabei auch das noch recht neue Internetprojekt „Mapping the Lives“, in dem die einstigen Wohnorte von Verfolgten des Nazi-Regimes auf einem Stadtplan eingetragen sind.
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Noch am selben Abend schaue ich mir die Seite im Netz an – prüfe meine eigene Adresse. Und plötzlich stehen fünf Namen vor meinen Augen. Fünf Menschen, die einst dort lebten, wo ich jetzt zuhause bin.
Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie unter taz.de/maxanschel.
Alle Texte kann man sich dort auch als Podcast vorlesen lassen.
Teil 1: Mein Vormieter Max Anschel, ermordet im KZ Stutthof 1944
Teil 5: „Mutti, ich habe eine sehr, sehr grosse Bitte an Dich!“ – Die Geschichte der Tochter Ruth Anschel
Teil 6: Der Verrat im Luftschutzkeller und das Leben im Nazinest nach dem Krieg
Max Anschel. Seine Frau Anna. Ihre Tochter Ruth. Dazu Heinz Hans Geissler und Erwin Thiel.
Seit über 25 Jahren schon wohne ich in einem alten Mietshaus in Berlin-Mitte. Ich weiß seit vielen Jahren, dass es bis in die 1930er Jahre einen jüdischen Eigentümer hatte, der aber nicht in Berlin, sondern in Amsterdam lebte.
Stolpersteine, die an einstige jüdische Anwohner:innen erinnern, liegen vor vielen Häusern in unserem Kiez. Bei uns aber nicht. Es ist wahrscheinlich, dass auch in „meinem“ Haus Verfolgte gewohnt haben. Schon vor Jahren habe ich nach Ansatzpunkten dafür in alten Adressbrüchern gesucht, die man im Internet findet, aber ohne Ergebnis.
Ich habe auch mal im Berliner Gedenkbuch gesucht, das man in der Bibliothek in der Breiten Straße einsehen kann. Darin sind die Berliner Opfer des Nationalsozialismus nach Namen geordnet. Mehr als 6.000 Menschen, ermordet. Es ist erdückend, darin zu lesen. Bei meiner Suche nach ehemaligen Bewohnern meines Hauses aber war es keine Hilfe. Dank Mapping the Lives kenne ich nun die Namen.
In einer Schnellrecherche im Netz finde ich wenig zu Heinz Hans Geissler und Erwin Thiel. Zur Familie Anschel finde ich dafür umso mehr. Und so wird mir klar: ich habe eine Aufgabe. Sie vor dem Vergessen zu retten.
„Gestorben an den Folgen der NS-Verfolgung“
Max Anschel wurde am 28. 4. 1888 in Schermbeck am Niederrhein geboren. Wann er nach Berlin kam, ist unklar. Alle seine vier Großeltern waren Juden, das geht aus den Nazi-Akten hevor, die Mapping the Lives verarbeitet hat. Seine Frau Anna kam am 10. Januar 1901 in Berlin zur Welt, die gemeinsame Tochter Ruth am 5. Januar 1931. Anna Anschel hatte keine jüdischen Großeltern. „Verfolgungsgrund: kollektiv“ heißt es auf „Mapping the Lives“. Sie wurde also bedrängt, weil sie mit einem Juden verheiratet war.
Was aus ihr und ihrer Tochter wurde, lässt die Datenbank offen. Bei Max Anschel aber gibt es keinen Zweifel. „Gestorben an den Folgen der NS-Verfolgung“, heißt es auf Mapping the Lives, am 22. November 1944. Und dass er zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Auschwitz deportiert worden war.
„Mapping the Lives“ hat bei ihm auch noch das „Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945“ verlinkt, das das Bundesarchiv online gestellt hat. Dort finde ich den Todesort von Max Anschel: das Konzentrationslager Stutthof.
Einmal angefixt von der Geschichte, braucht es nur ein paar Klicks, bis ich im Netz noch mehr über Max Anschel gefunden habe. Auf den Seiten des United States Holocaust Memorial Museums gibt es eine Datenbank mit Namen von Opfern und Überlebenden des Holocaust. Dort kann man sogar Dokumente zu ihnen anfordern.
Das United States Holocaust Memorial Museum mit Sitz in Washington verfügt über eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten zur Shoah. Viele von ihnen können online eingesehen oder auch bestellt werden. Auf der Webseite findet man gute Anleitungen zur Recherche in den Dokumenten. In einer Datenbank kann gezielt nach den Namen von Opfer und Überlebenden des Holocaust gesucht werden – und nach den dazu jeweils vorhandenen Dokumenten.
Wenige Stunden später habe ich sie per Mail vorliegen: darunter seine „Todesbescheinigung“, unterschrieben vom Lagerarzt des KZ Stutthof, einem „SS-Obersturmführer“ mit unleserlicher Unterschrift, der angibt, dass „Max Israel Anschel“ am 22. 11. 44 um 12.30 Uhr an „Herzmuskelschwäche“ gestorben sei. „Israel“ war nicht der Zweitname von Max Anschel – er wurde alle Juden von den Nazis zwangweise aufgedrückt.
Dazu die „Häftlings-Personal-Karte“ des KZ, aus der hervorgeht, dass Max Anschel am 28. Oktober 1944 von Auschwitz nach Stutthof gebracht wurde. Dass er ein Kind hat. Und dass seine Ehefrau Anna damals immer noch unter der alten Adresse wohnte: Es ist das Haus, in dem ich heute lebe.
Das trifft mich. Wenn all dies offenbar seit vielen Jahren bekannt ist, warum liegt dann noch kein Stolperstein vor dem Haus?
Tatsächlich gibt es in Berlin bereits einen Stolperstein, der an Max Anschel erinnert. Er liegt am heutigen Platz der Vereinten Nationen. Aber es ist nur ein Namensvetter, der ein paar Monate später am 10. November 1888 in Rogasen geboren wurde. Wie ich aus alten Adressbüchern erfahre, war er offenbar Schuhmacher. Auch er wurde 1943 deportiert und kam in Auschwitz ums Leben. Genau wie seine Frau und sein Sohn. Aber der Max Anschel, der in meinem Haus wohnte, ist offenbar vergessen. Das will ich ändern.
Zuerst wende ich mich an die lokal Zuständige für die Verlegung von Stolpersteinen. Sie schreibt mir, dass die Verlegung der Steine auch auseinandergerissene Familien wieder zusammenbringen soll. Wenigstens symbolisch.
Die Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Mitte der 1990 verlegte er erstmals die goldenen Steine im Gehwegpflaster vor den letzten Wohnorte einiger NS-Opfer. Inzwischen liegen rund 100.000 Stolpersteine in 1.265 Kommunen Deutschlands und in einundzwanzig Ländern Europas.
Auf der Webseite stopersteine.eu findet sich nicht nur eine ausführliche Dokumentation des Projektes, sondern auch eine Anleitung, was man tun muss, wenn man selbst die Verlegung weiterer Steine initiieren will.
Dazu sollte man sich zunächst an eine der lokalen Stolperstein-Initiativen wenden und die Verlegung mit Recherchen begründen. Erinnert wird nicht nur an Menschen, die durch den Holocaust ums Leben kamen, sondern auch an NS-Verfolgte, die überlebt haben.
Wer die Verlegung eines Steines anregen will, braucht zudem Geduld. Da Demnig bis heute die meisten der Steine persönlich verlegt, muss man zudem Geduld mitbringen, bis das Projekt umgesetzt werden kann.
Die Verlegung eines Steines kostet 120 Euro.
Aber erst einmal muss ich die grundlegenden Fragen selbst beantworten: Wer waren die Anschels? Was wurde aus ihnen? Und warum?
Die Suche in den Adressbüchern
Die historischen Adressbücher Berlins sind ein faszinierendes Dokument. Man findet sie auf den Seiten der Landesbibliothek, sie bieten einen Rückblick bis ins 18. Jahrhundert. Sie sind als PDF einsehbar und lassen sich nach Schlagworten durchsuchen.
In vielen aus der Zeit vor 1945 findet man die Bewohner:innen der Stadt zudem nach Adressen sortiert. Neben den Namen steht häufig auch der Beruf. So lassen sich kleine Familiengeschichten ablesen. Etwa wenn ein Mann erst als Schuhmacher verzeichnet ist, Jahre später als Renter auftaucht und nochmal Jahre später eine Frau gleichen Namens eingetragen ist – als Witwe.
Durch diese Adressbücher weiß ich schon seit Langem, dass im Jahr 1933 in meinem Haus ein Postschaffner, ein Fleischermeister, ein Kaufmann, ein Lagerverwalter, eine Spritzerin, ein Bäcker und drei Witwen als Haushaltsvorstände lebten. Und dass der jüdische Eigentümer schon damals in Holland lebte, also nicht erst vor den Nazis geflohen war.
Die Zentrale Landesbibliothek Berlin hat die Adress- und Telefonbücher der Stadt digitalisiert ins Netz gestellt. Unter https://digital.zlb.de/viewer/berliner-adress-telefon-branchenbuecher/ kann man alle vorhandenen Adressbücher der Stadt ab 1799 einsehen und durchsuchen. Hier finden sich die Telefonbücher, teils getrennt in den West- und Ostteil der Stadt, Branchenbücher, sowie Adressbücher und -kalender bis zurück ins Jahr 1707.
Besonders interessant sind die Adressbücher bis 1945. Dort sind jeweils im hinteren Teil die Haushaltsvorstände jedes einzelnen Wohnhauses sortiert nach Adressen zu finden. Das ermöglicht zum Beispiel nachzuschauen, wer damals alles an einer bestimmten Adresse gewohnt hat.
Nur bei meiner Suche nach eventuellen Opfern des Nationalsozialismus half mir diese Datenbank nicht weiter. Bis jetzt. Doch wenn man weiß, was man finden will, stößt man auf ganze Lebenläufe. Oder zumindest auf Fragmente davon.
Die Anschels tauchen in den Berliner Adressbüchern im Jahr 1932 auf. Da wird ein Max Anschel in der Bergstraße 17 aufgeführt mit dem Zusatz „Biergebäck“. Das Haus liegt wenige hundert Meter von seiner späteren, letzten Adresse entfernt. Anhand der Berufsangabe lässt sich aber erkennen, dass es sich um „meinen“ Max Anschel handelt. Denn auch nach dem Umzug bleibt der Geschäftsbereich, wenn auch mit stetig sich leicht ändernden Bezeichnungen. 1933 wird Max Anschel als „Weinbäckvertrieb“ genannt. Zwei Jahre später, im Jahr 1935, gibt es in der Bergstraße 17 eine „Backwarengroßhandlung“ – allerdings nicht mehr unter Max Anschel, sondern unter dem Namen seiner Frau Anna, die im Branchenverzeichnis nun auch unter „Bäcker“ gelistet ist. Ich kann nur ahnen, wie das damals ausgesehen hat. Das Haus wurde offenbar im Krieg zerstört. Heute steht dort ein Neubau.
Spätestens 1938 sind die Anschels an ihre neue Adresse gezogen, in das Haus, in dem ich heute wohne. Anna Anschel wird nun mit dem Zusatz „Gebäck“ erwähnt. Ein Jahr später heißt es, sie habe dort eine „Konfitürengroßhandlung“. Ihr Mann Max wird unter der gleichen Adresse als „Kaufmann“ geführt. 1940 ist Max aus dem Adressbuch verschwunden, nur noch Anna taucht unter der Adresse auf. 1942 ist auch Anna nicht mehr zu finden.
Auch 1943, im letzten vorhandenen Adressbuch aus Kriegszeiten, gibt es keinen Eintrag zu der Familie – aber ein anderes Detail gibt einen Hinweis auf die Nazi-Diktatur. Als Eigentümer des Hauses taucht anders als in den Vorjahren nicht mehr der in Amsterdam lebende Kaufmann Steinberger auf. Offenbar wurden die jüdischen Besitzer enteignet. Ihre dann in New York lebenden Erben bekamen das Haus erst um das Jahr 2000 herum rückübertragen.
Von der Familie Anschel verliert sich zunächst jede Spur. Erst im Ostberliner Telefonbuch des Jahres 1961 taucht sie wieder auf. Die mittlerweile erwachsene Tochter Ruth ist jetzt als „Dr. med“ verzeichnet – unter der alten Adresse ihrer Eltern. Sie bleibt dort bis mindestens 1967 wohnen.
Anfang der 70er Jahre zieht sie in eine der neuen Plattenbauten unweit des Berliner Alexanderplatzes, wo sie jahrzehntelang wohnen bleibt – auch nach dem Mauerfall. Geheiratet hat sie offenbar nie.
Kurz habe ich die Hoffnung, mit Ruth Anschel noch reden zu können. Sie wäre heute knapp über 90 Jahre alt. Aber eine Anfrage ans Einwohnermeldeamt ergibt: sie ist bereits im Jahr 2000 gestorben. Auch ihre Mutter, erfahre ich so, hat den Nationalsozialismus überlebt. Sie starb 1992 im Alter von 91 Jahren.
Das Haus, in dem ich wohne
Das Haus, in dem ich seit 25 Jahren wohne, ist unscheinbar. Ein Mietshaus mit acht Wohnungen. Kein Gewerbe. Keine Erker, keine Balkone, kein Stuck. Wie bei fast allen Häusern in der Rosenthaler Vorstadt hat sich auch hier die Bewohnerschaft radikal geändert seit dem Mauerfall. Mehrere Familien zogen fort, weil es ihnen mit den Kindern zu eng geworden war. Und weil sie sich eine größere Wohnung im Kiez, der einst die Vorstadt der Armen war, nicht mehr leisten können.
Einst lebte hier ein Karikaturist. Nach einer Vernissage mit seinen Arbeiten saß die Crème der deutschen Zeichnerszene kurz bei uns im Wohnzimmer, weil der Gastgeber gerade seinen Schlüssel nicht fand und wir die Leute nicht vor der Tür stehen lassen wollten. Ein Restaurantbetreiber, der hier wohnte, starb nach heftigen Drogenproblemen. Länger als ich wohnt heute nur Wolfgang im Haus. Der dafür aber eigentlich schon immer. Er zog als junger Mann in den 70er Jahren ein. Ein Metzger, der allein seinen Sohn großzog. Heute ist er längst Rentner. Er öffnet gern laut brummend die Wohnungstür, wenn die Kinder die Treppe runtertrampeln – und schenkt ihnen dann Schokoriegel.
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Hat er vielleicht die Anschels noch in unserem Haus erlebt? Ich drehe an der alten Klingel an seiner Wohnungstür. Er kommt auf Krücken an. Anschel?, fragt er. Da habe es doch dieses Ehepaar unter ihm gegeben, meint er. Aber Ehepaar, das kann ja nicht sein. Der Mann, Max Anschel, war ja schon seit 1944 tot. Und Juden? Nein, das sagt ihm gar nichts. Dafür erzählt er noch jede Menge anderer Geschichten, von quietschenden Betten in diesem hellhörigen Haus, von Nachbarn, die er „gefressen hatte“, von den vielen Kindern, die immer hier gelebt hätten. Und von dem Zeichner, der ihm noch heute jedes Jahr einen Kalender schicke. Nur bei meiner Suche kann er mir nicht weiterhelfen.
Aber vielleicht die WBM? Zu DDR-Zeiten wurde das Haus von der kommunalen Wohnungsverwaltung geführt, aus der nach der Wende die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) hervorging. Von der hatte ich 1999 noch meinen Mietvetrag bekommen – kurz bevor das Haus an die Alteigentümer übertragen wurde. Ob die WBM vielleicht noch das alte Hausbuch hat, in dem zu DDR-Zeiten alle Bewohner akribisch gelistet wurden? Ich frage bei der Pressestelle an. Aber sie kann mir nicht weiterhelfen.
Ich stochere im Nebel. Also versuche ich meine Suche systematischer anzugehen. Mit den wichtigsten Lebensdaten von Max Anschel.
Geboren in Schermbeck an der Lippe
In Schermbeck war ich noch nie. Ich wusste bisher nicht einmal, dass ein Ort mit diesem Namen existiert. In der Gemeinde im Kreis Wesel nahe der holländischen Grenze leben heute rund 13.000 Menschen. Hier wurde Max Anschel 1888 geboren. Mindestens seit Mitte des 17. Jahunderts gab es dort eine kleine jüdische Gemeinde. Laut Wikipedia stellte sie um 1855 rund 10 Prozent aller Einwohner.
Im Netz stoße ich auf einen Bericht über eine Aktion der dortigen Gesamtschule. Die Schüler:innen hatten 2017 in einem Projekt zur jüdischen Geschichte des Ortes geforscht und am Jahrestag der Reichsprogramnacht daran erinnert. „Hanna Wegner, Alicia Theis und Joline Rosendahl erinnerten an Mitglieder der jüdischen Familien Anschel, Schönbach, Marchand, Adelsheimer, Hoffmann und Sternberg“, heißt es in dem Text, in dem auch die Geschichtslehrerin genannt wird, die das Projekt geleitet hat. Wissen die Schüler:innen mehr über die Familie Anschel und über Max? Ich maile die Schule an – und bekomme Antwort von ganz anderer Stelle.
Andrea Kammeier-Nebel, die lange zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Schermbeck geforscht hat, hat meine Anfrage von der Geschichtslehrerin weitergeleitet bekommen. Sie schreibt mir, dass Max Anschel in den Schermbecker Quellen leider nicht erwähnt werde. Das heißt aber nicht, dass er dort nicht zur Welt kam.
Die Informationen über die jüdischen Familien in Schermbeck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schreibt Kammeier-Nebel, basieren weitgehend auf den preußischen Volkszählungen. Standesamtliche Unterlagen sind nicht erhalten. Die Volkszählungen führen die Familien pro Haus mit bürgerlichem Namen, Geburtsdatum, Stand und Beruf auf.
Das Arolsen-Archiv verfügt über eine der größten Datenbanken mit Dokumenten zum Holocaust. Fast alle der 30 Millionen Original-Dokumente sind nach Angaben des Archivs bereits online verfügbar. Hier kann man, ähnlich wie beim United States Holocaust Memorial Museum auch die Akten zu Max Anschel aus dem KZ Stutthof einsehen.
Hervorgegangen ist das Archiv aus einer Sammlung von Dokumenten über die Situation der Inhaftierten, Zwangsarbeiter und Flüchtlinge in Mitteleuropa, die die Allierten bereits bei ihrem Vormarsch auf Deutschland ab 1943 angelegt hatten. Seit 1946 hat das Archiv seinen Sitz in der hessischen Stadt Bad Arolsen, nach der es benannt wurde.
Eine besondere Initiative ist das Projekt #everynamecounts (jeder Name zählt). „Die Nazis verfolgten und ermordeten Millionen Menschen. Hilf mit, an die Opfer zu erinnern“, heißt es auf der dazugehörigen Webseite.
Hier kann sich jeder und jede an der Digitalisierung alter Akten beteiligen. Das Arolsen Archiv stellt dort Foto alter Dokumente online und bittet darum, die dortigen Angaben zu den Opfern in leicht zu verstehende Formular übertragen. Damit werden die Akten in Datenbanken durchsuchbar – eine unschätzbare Hilfe für alle, die nach Dokumenten zu einzelnen Personen suchen.
Aufgrund der ihr vorliegenden Akten mutmaßt sie, dass Albert Anschel (*4. 9. 1851) sein Vater war, seine Frau Laura, geborene Hasendahl (*26. 1. 1850 in Wesseling) seine Mutter. In der Volkszählung von 1885 wird ein Sohn mit Namen Adolf Anschel (*31. 8. 1885) aufgeführt. Das Paar sei zwischen 1890 und 1895 aus Schermbeck fortgezogen, vermutlich nach Krefeld.
Laura Anschel sei 1912 in Krefeld beerdigt worden. Ein Ingenieur namens Adolf Anschel sei im Krefelder Adressbuch 1931/32 verzeichnet. Er wurde 1938 inhaftiert und war vom 17. November bis 1. Dezember 1938 im Konzentrationslager Dachau. Am 26. April 1939 emigrierte er nach Belgien und wurde am 10. Mai 1940 in dem kleinen französichen Ort Le Vigeant interniert. Dort befand sich ein Lager, in dem überwiegend deutsche und österreichische Emigranten interniert wurden, die vor den Nazis Zuflucht in Belgien gesucht hatten. Am 10. August 1942 wurde Adolf Anschel nach Ausschwitz deportiert.
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Kammeier-Nebel rät mir, beim Stadtarchiv Krefeld nachzuforschen. Von der dortigen NS-Dokumentationsstelle antwortet mir Fabian Schmitz: „In unserer Datenbank ist nur das Ehepaar Adolf und Erna mit dem Sohn Günter (geb. 1924 in Bremen, ermordet 1943 vermutlich in Auschwitz) verzeichnet. Informationen zu Eltern und Geschwistern der beiden Eheleute fehlen leider“. Aber Geburtsort und –tag von Adolf Anschel stimmen. Er war offensichtlich der Bruder von Max. „Er wurde in Schermbeck geboren, war Ingenieur und Inhaber eines Photogeschäftes.“
Schmitz weiß noch mehr über den Leidensweg von Adolf Anschel und seiner Familie: Er „wurde vermutlich im Rahmen der Novemberpogrome in ‚Schutzhaft‘ genommen und vom 17. November bis zum 1. Dezember in Dachau festgehalten, bis er zwecks „Arisierung“ seines Vermögens und Auswanderung entlassen wurde. Im April 1939 floh die Familie nach Belgien. Adolf wurde 1942 von Drancy, Frankreich, aus nach Auschwitz deportiert, wo er vermutlich am 10. August 1943 ermordet wurde. Erna wurde am 31. Juli 1943 ab Mechelen, Belgien, nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich bei Ankunft ermordet. Günter wurde am 7. Oktober 1943 von Drancy aus nach Auschwitz deportiert. Auch er wurde vermutlich bei Ankunft ermordet.“
In der Zeit, in der Max Anschel geboren wurde, kamen noch weitere Kinder mit dem Nachnamen Anschel in Schermbeck auf die Welt.
Zum Beispiel Hedwig Anschel, verheiratete Frankfort, geboren am 3. April 1897. Ermordet in Auschwitz am 29. Oktober 1942. Am gleichen Tag wie ihr Mann Joseph, ein Metzger aus Deventer, und ihre Tochter Brunetta. Ihr Sohn Emanuel starb am 28. Februar 1943, ebenfalls in Auschwitz.
Oder Hedwig Anschel, verheiratete Snatager, geborene am 14. Dezember 1889. Ermordet in Auschwitz am 27. November 1942. Von ihr findet man auf der holländischen Seite www.joodsmonument.nl sogar ein Foto.
Foto: joodsmonument.nl
Je tiefer man einsteigt in die Geschichte, desto mehr offenbart sich das Grauen.
Erst recht, wenn man nicht nach dem Lebensanfang von Max Anschel sucht, sondern nach dem Ende im Konzentrationslager Stutthof. Dazu frage ich die Gedenkstättenleiterin in Stutthof. Ihre Antwort kommt prompt. Und sie ist hart.
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Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie unter taz.de/maxanschel.
Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie unter taz.de/maxanschel.
Teil 5: „Mutti, ich habe eine sehr, sehr grosse Bitte an Dich!“ – Die Geschichte der Tochter Ruth Anschel
Teil 6: Der Verrat im Luftschutzkeller und das Leben im Nazinest nach dem Krieg
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