Mehr antisemitische Vorfälle: Das Sicherheitsgefühl schwindet
Rassismus und Antisemitismus grassieren in Deutschland. Nicht nur Opferberatungsstellen appellieren für den Ausbau von Beratungsangeboten.
Anlass für den Appell war die zunehmende Zahl antisemitischer Vorfälle seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel sowie die aktuellen Migrations- und Asyldebatten – und die wachsende Unterstützung für die AfD.
Allein für die vergangenen Wochen meldet RIAS insgesamt 202 verifizierte antisemitische Vorfälle in 11 Bundesländern. Dies entspreche einem Zuwachs von 240 Prozent im Vergleich zum Oktober des Vorjahres, betonte der Geschäftsführer des Verbands, Benjamin Steinitz, in seinem Appell. Außerdem seien bereits seit Ende letzter Woche 18 Wohnhäuser unter anderem mit Davidstern beschmiert und als jüdisch markiert worden.
„Das massive Auftauchen derartiger Markierungen ist eine neue Qualität“, sagte Steinitz. Markierungen dieser Art seien als Identifizierung potenzieller Angriffsziele zu verstehen und verschlimmerten das Sicherheitsgefühl der Betroffenen. Allerdings sei Antisemitismus kein importiertes Problem, betont der Verbandschef. „Es ist ein integraler Bestandteil rechtsextremer Ideologien und dient auch hier zu Begründung von extremer Gewalt, wie wir im Kontext des NSU oder auch des Anschlags auf die Synagoge in Halle festgestellt haben.“
Keine langfristige Planungssicherheit
In den letzten Jahren seien antisemitische und rassistische Positionen zunehmend normalisiert worden – durch das Erstarken der AfD und auch durch die Corona-Proteste.
So seien der Meldestelle allein in Bayern, wo die AfD mit 14,6 Prozent drittstärkste Partei wurde und die Freien Wähler mit 15,8 Prozent ihr höchstes Ergebnis erzielten, in diesem Jahr 105 antisemitische Vorfälle gemeldet worden, die sich „auf die Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus“ beziehen. Mit Blick auf die Landtagswahlen in Thüringen 2024 hat Steinitz „wirklich große Sorgen“, denn nach den aktuellen Prognosen könnte die AfD im nächsten Jahr stärkste Partei in Thüringen werden.
„In Thüringen zeigt sich, wie die hohen Zustimmungswerte für die rechtsextreme AfD zu einer massiven Bedrohung im Alltag für viele Betroffene von Rassismus und Antisemitismus führt“, betonte Franz Zobel, Projektleiter der Thüringer Gewaltopferberatungsstelle Ezra. „Insbesondere Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften sind mit rassistischen Angriffen direkt in den Unterkünften konfrontiert – dazu gehört das Eindringen von vermummten Angreifern in die Unterkünfte und körperliche Angriffe auf Frauen und Kinder.“
Einige der Vorfälle seien der Polizei gemeldet worden, „passiert ist bisher nichts, stattdessen sah sich die Familie mit rassistischen Aussagen durch die Beamten konfrontiert“, so Zobel.
Betroffene fühlen sich im Stich gelassen
Die Beratungsstellen fürchten, dass sie viele Betroffene in naher Zukunft nicht mehr unterstützen können, weil viele Projekte von Kürzungen bedroht sind. „Unsere Kolleginnen und Kollegen aus Schleswig-Holstein wissen heute im Oktober noch nicht, mit welchem Umfang sie ihre Stellen im nächsten Jahr eigentlich planen können“, kritisiert Steinitz, „wenn die Landesregierung hier nicht aufstocken und keine klare Politik der Planungssicherheit herstellen konnte, sich der Eindruck in der Öffentlichkeit durchsetzen, dass von einigen Landesregierungen die Bekämpfung des Antisemitismus als Teilzeitaufgabe verstanden wird.“
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Beratung von Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten in Brandenburg und Thüringen, die seit bis zu sieben Jahren auf eine rechtskräftige Verurteilung organisierter rechter Angreifer etwa im Gerichtsbezirk Cottbus (Brandenburg) warten, erlebten viele Menschen „eine große Diskrepanz zwischen den Versprechungen und der Realität des Rechtsstaates“, betonte Joschka Fröschner vom Verein Opferperspektive. „Die Betroffenen fühlen sich vom Rechtsstaat im Stich gelassen.“
Die Opferberatungsstellen warnen, dass die aktuellen Debatten sowohl Antisemitismus als auch Rassismus verschärfen und reproduzieren und Ausgangspunkt für eine weitere Eskalation von Gewalttaten und Bedrohungen werden könnten. Die Betroffenen dürften vom Rechtsstaat, Politik und Gesellschaft nicht im Stich gelassen werden. Die ohnehin schon überlasteten Beratungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sowie Meldestellen „müssen daher dringend langfristig ausgebaut und finanziell durch den Bund und die Landesregierungen unterstützt werden“, forderten sie.
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