Mehr aktivistischer Journalismus: Sagen, was besser sein muss
In der Pandemie hätte der Journalismus beweisen können, dass er Gesellschaft von unten denken kann. Daran sind wir gescheitert.
Journalismus scheint mir nicht so sehr ein Modus zu sein, der sagt, was ist; vielmehr sagt er, was passiert. Im Journalismus sind Akteure immer um einiges interessanter als passiv Erduldende. Für Letztere gibt es zwar auch Platz in vielen Zeitungen; die Seite drei etwa oder Reportageformate im Gesellschaftsteil. Das sind mitfühlende Stücke, die von Leid und Ungerechtigkeit erzählen; von Themen vor allem, die es selten auf die Titelseite schaffen.
Das wurde während der Pandemie zum Problem, weil plötzlich ein großer Teil der Bevölkerung potenzielles Opfer wurde – Opfer einer menschlich induzierten Naturkatastrophe. Denn es gab bis dato wenig Sensibilität für Behinderung, Gebrechlichkeit, Vulnerabilität, überhaupt für die meisten Themen, die mit Pflege und sozialer Arbeit zusammenhängen. Natürlich gibt es einzelne Journalist*innen, die sich damit sehr gut auskennen, aber es gilt und wird behandelt als Spezialthema – ganz im Gegensatz etwa zu Wahlkämpfen und Parteipolitik.
Die Akteur*innen aus Pflege und aus dem sozialen Bereich kamen in den Nachrichten selten zu Wort. Zur Einordnung der Krise wurden Virolog*innen und Ärzt*innen befragt, und wenn überhaupt Pflegende sprachen, dann häufig jene von den Intensivstationen. Diese tendenziell unkritische Haltung hat sich bis in Details gezeigt, bis hin zur sprachkritischen Ebene: Konzepte wie die „Risikogruppen“ wurden meistens unhinterfragt übernommen, ohne zu benennen, was dieses Wort tatsächlich bedeutet: Segregation. Eine Analyse allein dieses Konzeptes hätte zum Ergebnis haben können (wenn nicht müssen), dass diese Gesellschaft eine grundlegend behindertenfeindliche ist und dass sich dieser Ableismus in Zeiten einer Krise und damit einhergehender Appelle an Solidarität und Zusammenhalt noch deutlich verschärft.
Unabhängig von einer grundsätzlichen ideologischen Kritik hat sich diese mangelnde Sensibilität auch en détail gezeigt. Es hat immer wieder Anlässe gegeben, politische Entscheidungen zu thematisieren und zu skandalisieren. Zum Beispiel der Eiertanz um die Priorisierungen: als Zugeständnis an die „Normalen“, also jene, die sich irgendwie dafür halten, hat man ganze Branchen vorgezogen, auf Kosten derjenigen, die sich ein Jahr lang komplett aus allem herausgenommen hatten. NRW hat lieber ausgewählte Berufsgruppen durchgeimpft, bevor alle sogenannten Risikogruppenmitglieder dran waren, ist das zu fassen? Da kommt nach Willen der Union der nächste Kanzler her. Trotzdem gab es dazu keine großen Titel. Stattdessen war die Meldung im Mai, dass ungenutzte Impfdosen herumlagen: Anlass für viele Kommentare, doch endlich die Impfpriorisierung aufzuheben.
Wie verändert die Coronakrise Medien und Publikum? Welche Chancen ergeben sich für den Journalismus nach der Pandemie? Wir schauen zurück und nach vorne, für einen Monat jeden Mittwoch auf der Medienseite und unter taz.de/Medien.
Nöte und die Herausforderungen
Das systematische Bevorzugen von Berufsgruppen, von sogenannten und selbsternannten Leistungsträger*innen ist nicht polemisch gegeißelt worden. Diese Zurückhaltung ist das Resultat einer Vernachlässigung Marginalisierter durch alle anderen.
Es ist ein Problem einer Politik, die sich sicher sein kann, bessere Beliebtheitswerte zu haben, wenn sie die Interessen der sogenannten Mitte über die der Marginalisierten stellt; sie ist aber auch ein Problem eines Journalismus, der marginalisierte Menschen in erster Linie als Reportagethema sieht und nicht als Titelseitenmaterial. Und das betrifft sehr viele Bereiche. Als Alleinerziehende ihre 300 Euro Coronabonus mit dem abwesenden Elternteil teilen mussten, hat das auch kaum jemanden interessiert. Die Alleinerziehenden sind eben nicht sonderlich laut.
Es gab immerhin zarte Versuche, die Pflege detaillierter darzustellen, ihre Nöte und die Herausforderungen. Pro7 hat eine ganze Nacht lang den Arbeitsalltag auf einer Normalstation gezeigt. Trotzdem zeigte sich ein deutliches Ungleichgewicht in den Berichten über Pflegende: Es ging fast immer um Krankenhäuser, insbesondere um Intensivstationen. Die aber haben zum Teil fundamental andere Interessen als Altenpfleger*innen oder ambulante Dienste. Das wird den wenigsten beim Medienkonsum klargeworden sein. Man sah Pflege und Soziales als große, homogene, diffuse Bereiche. Das Informationsdefizit ist derart groß, dass der einzelne Artikel es auch gar nicht beheben kann. Der ganze Bereich soziale Arbeit und Care Arbeit ist nach 17 Monaten Pandemie immer noch so an den Rand gedrängt wie vorher, obwohl ihn doch alle inzwischen systemrelevant finden. Vergeblich sucht man Kommentar- oder Kolumnenplätze für Beschäftigte aus diesen Bereichen.
Fixierung auf die Falschen
Stattdessen gab es einerseits eine ungesunde Fixierung auf „Querdenker*innen“ und Impfverweigerer. Die waren ja auch gutes Material, schrill, bunt, Hippies Hand in Hand mit Nazis. Mir schien es, als bräuchte man in den Redaktionen diese irgendwie als skurril, verwirrt und lachhaft wahrgenommenen Gestalten, weil sich so eine eindeutige Position beziehen ließ: Im Kontrast zu „Querdenken“ war es einfach, vernünftig und humanistisch zu sein.
Und andererseits gab es eine Fixierung auf Zahlen: Intensivbettenauslastung, Inzidenzen, R-Wert. Der Blick darauf hat oft weltanschauliche Kritik überdeckt: es war ein Wettlauf, wer die genauesten Zahlen hat und wer sie am besten lesen kann. Es gab eine sich selbst absichernde Wissenschaftlichkeit, die dazu führte, dass viel aus einer entrückten Position heraus diskutiert wurde. Als ginge es nicht auch für einige um Leben und Tod. Aber das klingt halt zu dramatisch. Damit macht man sich unglaubwürdig, und man kann auch nicht mehr den edlen, über den Dingen schwebenden Stil einer vermittelnden Instanz einnehmen. Das journalistische Homeoffice wurde so teilweise zum Elfenbeinturm, Statistiken verkamen zu einer Form der Selbstvergewisserung.
Journalismus hat den Anspruch, objektiv zu sein; es scheint aber zu wenig Bereitschaft gegeben zu haben, sicheres Terrain zu verlassen. Es hätte eines Journalismus bedurft, der jenen eine Stimme gibt, die keine Pressekonferenzen abhalten, kurzum: eines engagierten, auch aktivistischen Journalismus. Sagen, was ist, heißt auch: sagen, was besser sein muss.
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