piwik no script img

Mehr Rassismus und AntisemitismusBremens Nazis werden kartiert

Das Projekt „Keine Randnotiz“ dokumentiert seit 2019 rechte Gewalt im Land Bremen auf einem interaktiven Stadtplan. Die Tendenz: stark zunehmend.

Die Landkarte zeigt Schwerpunkte rechter Gewalt im Land Bremen Foto: taz

Bremen taz | Seit einem Jahr recherchiert, dokumentiert und lokalisiert das Dokumentationsprojekt „Keine Randnotiz“ Vorfälle rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Land Bremen. Die erste Bilanz: Bis Ende Juli gab es bereits fast so viele Einträge in den Stadtplan – nämlich 56 – wie das ganze letzte Jahr zusammen; 2019 waren es insgesamt 60. Die Zahl der Beleidigungen und der Propagandadelikte in dieser Zeit hat um rund zehn Prozent zugenommen, die der Bedrohungen aber um 87,5 Prozent.

In der Öffentlichkeit besonders präsent ist dabei die „Pulverbrief-Serie“: In über 30 Fällen hat dabei ein unbekannter Täter seit Januar Briefe mit einem unbekannten Pulver an Parteibüros und Politiker*innen verschickt, die immer wieder Großeinsätze der Polizei auslösten. Bislang erwies sich die Substanz stets als harmlos.

André Aden vom Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Bremen und Bremerhaven spricht den Taten gleichwohl ein „planmäßiges Vorgehen“ und eine „operative Intelligenz“ zu, die an den Rechtsterrorismus anknüpfe, zumal „Schockeffekte“ Teil des Tatplans seien. Die Polizei geht davon aus, dass es derselbe Täter war, der wiederholt offene Messerklingen auf Kinderspielplätzen deponiert hat.

Das zivilgesellschaftliche, mit Landes- und Bundesmitteln finanzierte Projekt „Keine Randnotiz“ macht nach eigenen Angaben erstmals die Strukturen und Schwerpunkte rechtsmotivierter Gewalt in Bremen und umzu auch auf einer digitalen Landkarte für die Öffentlichkeit sichtbar.

„Das Besondere ist, dass die Chronik auch solche Angriffe veröffentlicht, die medial wenig Aufmerksamkeit erfahren“, sagt die Redaktion, die aus Angst um ihre Sicherheit nicht namentlich genannt werden will. „Das hat es in der Form, bisher nicht gegeben.“ Dem Projekt geht es vor allem darum, die Alltäglichkeit rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt herauszustellen. Auch nach den Attentaten von Hanau und Halle, bei denen insgesamt zwölf Menschen starben, gebe es eine Kultur der „Verharmlosung“, und zwar auch in Bremen, sagt eine Sprecherin von soliport, einer Beratungsstelle, die sich für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt einsetzt. Es gebe eine Haltung, die sagt: „Das gibt es bei uns nicht.“ Dabei seien rechtsmotivierte Vorfälle „an der Tagesordnung“. Und „das Dunkelfeld“, das auch dieses Projekt nicht ausleuchten könne, werde „riesig bleiben“. Die Redaktion geht davon aus, dass zu den hier erfassten in etwa noch einmal so viele Fälle hinzukommen, die in keiner Statistik auftauchen.

Mehr antisemitische Vorfälle

Bei der Zahl der antisemitisch motivierten Vorfälle etwa verzeichnet die Karte von „Keine Randnotiz“ seit dem Jahresbeginn 2019 eine Zunahme von vier auf 30 Fälle bis August dieses Jahres im Land Bremen. Wie viele davon womöglich einen linken oder muslimischen Hintergrund haben, ist zunächst unklar. „Die größte antisemitische Bedrohung geht von rechts aus“, sagt die Sprecherin von soliport. Allerdings nähmen die Berichte über verschwörungsmythische und zugleich antisemitische Vorfälle zu, so Aden.

Mit Blick auf das Land Bremen spricht „Keine Randnotiz“ vor allem von „gewachsenen Strukturen“ beim Rechtsrock, der Hooligan- oder auch der Kameradschaftsszene und von einem „gewaltigen Fundament“ bei Kampfsportveranstaltungen der rechten Szene in Bremen. Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) indes betonte bei der jüngsten Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes im Juli, dass Bremen „keine Hochburg der Rechtsextremisten“ sei.

Bremen sei früh gegen die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative, die Identitäre Bewegung oder die Gruppe „Phalanx 18“ vorgegangen und habe sie unter Beobachtung gestellt, so Mäurer. Die Zahl politisch motivierter Kriminalität von rechts sei von 152 Fällen in 2018 auf 134 in 2019 gesunken, sagte er – doch die Qualität der Straftaten habe sich verändert: „Die Hemmschwelle zur Begehung schwerer Gewalttaten nimmt immer weiter ab“. Auch schwere Verletzungen oder der Tod von Menschen würden in Kauf genommen. Die Bedrohungen durch rechte Extremist*innen bleibe deshalb „größte Gefahr für die Gesellschaft“.

Den direkten Kontakt zu den Sicherheitsbehörden meidet das Projekt, auch habe man „keine politische Agenda“, sagt Aden. Ihnen gehe es darum, der Zivilgesellschaft ein möglichst barrierearmes und jederzeit abrufbares „Werkzeug“ an die Hand zu geben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • "Seit einem Jahr recherchiert, dokumentiert und lokalisiert das Dokumentationsprojekt „Keine Randnotiz“ Vorfälle rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Land Bremen. "

    Laut Weser Kurier listet das Portal solche Vorfälle seit 2017 auf: www.weser-kurier.d..._arid,1848887.html

    Oder bedeutet der Titel des Weser-Kuriers "Neues Portal für Vorfälle rechter Gewalt in Bremen" das das Portal erst seit Juli 2019 besteht? Dann macht aber der andere Satz im Artikel "Bis Ende Juli gab es bereits fast so viele Einträge in den Stadtplan – nämlich 56 – wie das ganze letzte Jahr zusammen" keinen Sinn. Das wären für die Vergleichszeiträume (5 Mon 2019 vs. 8 Mon 2020] dieses Jahr dann weniger Vorfälle.

  • Nein die rechte und linke Gewalt sind nicht das größte Problem.