Meduza-Auswahl 20. – 26. Juni: Selbstzensur gegen Repression
Russische Zensur nimmt zu, doch Nachwuchsjournalisten schreiben weiter über den Krieg. Wer ist der Anti-Putin-Aktivist Charitonenko? Texte aus dem Exil.
Das russisch- und englischsprachige Portal Meduza zählt zu den wichtigsten unabhängigen russischen Medien. Im Januar 2023 wurde Meduza in Russland komplett verboten. Doch Meduza erhebt weiterhin seine Stimme gegen den Krieg – aus dem Exil. Die taz präsentiert seit 1. März 2023 unter taz.de/meduza immer mittwochs in einer wöchentlichen Auswahl, worüber Meduza aktuell berichtet. Das Projekt wird von der taz Panter Stiftung gefördert.
In der Woche vom 20. bis zum 26. Juni 2024 berichtete Meduza unter anderem über folgende Themen:
Selbstzensur, um Repression zu vermeiden
Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat der Kreml sein Vorgehen gegen unabhängige Medien und die Zensur im ganzen Land verschärft. Dennoch gelingt es einigen russischen Journalismusstudenten, in ihren Abschlussarbeiten über den Krieg, die Proteste und die sogenannten „ausländischen Agenten“ zu schreiben. Meduza hat eine gekürzte Fassung eines russischsprachigen Berichtes in englischer Übersetzung des Sankt Petersburger Magazins Bumaga veröffentlicht. Sie zeigt, wie die Studenten die Themen wählen, wie sie und ihre akademischen Berater mit der Zensur umgehen und welche Risiken die Studierenden eingehen, wenn sie ihre Arbeiten vor Ausschussmitgliedern verteidigen.
Den Studenten ist es zwar nicht gänzlich verboten, Themen zu wählen, die mit der russischen Opposition und den Antikriegs-Narrativen zu tun haben, aber sie werden subtil gewarnt, dass dies zu Problemen führen könnte. „Mein Freund wollte analysieren, wie politische Persönlichkeiten ihre Konten in den sozialen Medien verwalten, und entschied sich zunächst für Oppositions-Figuren, aber man riet ihm davon ab“, berichtete ein Absolvent. Die meisten entscheiden sich für neutrale Themen.
Im Jahr 2024 können Journalismusstudenten immer noch Veröffentlichungen von Medien analysieren, die als „ausländische Agenten“ bezeichnet werden. Beispiele: Absolventen berichten, dass es in diesem Jahr immer noch Arbeiten gibt, die Material von Meduza, Dozhd (TV Rain) und Bumaga zitieren. Jedoch: „ausländische Agenten“ dürfen nicht mehr in den Titeln von Diplomarbeiten erwähnt werden. Im Jahr 2023 protestierten Studenten des Fachbereichs Journalismus der Sankt Petersburger Universität (SPbGU) während ihrer Abschlussfeier für die Journalistin der Nowaja Gaseta, Elena Milashina, die kurz zuvor in Tschetschenien schwer misshandelt worden war. Einem der Demonstranten wurde später die Zulassung zum Masterstudiengang der Hochschule verweigert.
Anti-Putin-Aktivist und seine pro-demokratische Plattform
Pavel Charitonenko ist seit Langem ein offener Kritiker des Putin-Regimes. Seit 2019 hat der Aktivist zahlreiche Demonstrationen und Mahnwachen in seiner Heimatstadt Irkutsk, der Hauptstadt der russischen Oblast Irkutsk am Abfluss des Baikalsees, organisiert. Sein Ziel: gegen die Korruption der Behörden und gegen die Inhaftierung von Oppositionspolitikern in Russland zu protestieren. Nach dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 entschied er sich, in Russland zu bleiben. Mitte Juni 2024 kündigte der 38-Jährige seine Kandidatur für die Wahlen zur Stadtduma von Irkutsk an, die für September geplant sind. Die in Sibirien ansässige unabhängige Zeitung People of Baikal sprach mit Charitonenko, Meduza hat das Interview auf Englisch veröffentlicht.
„Meine Hauptunterstützer sind demokratisch gesinnte, junge, aktive Menschen, die Veränderungen in ihrem Land wollen“, sagte Charitonenko. „Aber ich werde versuchen, alle zu mobilisieren, denn auf lokaler Ebene stehen wir alle vor den gleichen Problemen, unabhängig von Ideologie und politischer Präferenz.“ Falls er im September gewählt wird, verspricht Charitonenko, sich für eine Umschichtung der Ausgaben zur Verbesserung der lokalen Infrastruktur und zum Ausbau der öffentlichen Dienstleistungen in der Region Irkutsk einzusetzen.
Stets hat er Korruption bei den bisherigen Duma-Abgeordneten der Region Irkutsk offen kritisiert: „patriotische“ Landschaftsbauprojekte wurden vor unterfinanzierten Kindergärten oder überlasteten medizinischen Kliniken bevorzugt. Im vergangenen November musste Charitonenko seinen Job als Kellner aufgeben, nachdem er in einem Interview mit dem Schweizer Sender SRF Putins Regime mit einer „Diktatur“ verglichen hatte.
Zwei Soldaten, ein Dorf: Beerdigung und Abschiedsparty
In den fast zweieinhalb Jahren des Ukraine-Krieges sind schätzungsweise mehr als 75.000 russische Soldaten auf dem Schlachtfeld gestorben. Soldatenbegräbnisse sind in allen Regionen Russlands an der Tagesordnung, auch in kleinen Dörfern, in denen viele Einwohner die Einberufung als eine relativ schnelle Möglichkeit sehen, Geld zu verdienen, das sie sonst nicht hätten. In einem kleinen Dorf in der russischen Republik Tatarstan wurden neulich die Spannungen unter der Bevölkerung aufgrund des Krieges deutlicher: Die Beerdigung eines lokalen Soldaten fand zur gleichen Zeit wie eine Abschiedsfeier für einen neuen Rekruten statt. Die beiden Veranstaltungen lagen so dicht beieinander, dass sie fast ineinander übergingen. Ein Meduza-Korrespondent besuchte das Dorf und berichtete darüber (englischer Text).
„Er hat so viele Schulden – fast 150.000 Rubel (etwa 1.600 Euro). So viel Geld würde er hier nie verdienen können. In den Krieg zu ziehen war seine einzige Wahl“, flüsterte eine Frau nah an der Abschiedsfeier. Bei der Beerdigung unterhielten sich die Nachbarinnen darüber, wie lange nach der Leiche des örtlichen Soldaten gesucht wurde. „Es ist gut, dass sie ihn gefunden haben“, sagte eine Frau“, „besser tot gefunden als nie gefunden“. Die Familie des verstorbenen Soldaten hatte darum gebeten, die Abschiedsfeier etwas weiter vom Friedhof entfernt abzuhalten. Sie bekamen jedoch eine Absage, und zwar mit dem Argument, er sei „noch ein lebender Soldat“ und müsse „respektiert werden“. Die Mutter des verstorbenen Soldaten hatte keine Kraft, weiter zu argumentieren, sie sei „einfach nicht in der Lage, für das zu kämpfen, was sie will“.
Rechtlosigkeit in den Universitäten der besetzten Gebiete
Im März 2023 wurden 29 Universitäten in den besetzten ukrainischen Gebieten in das Eigentum der Russischen Föderation überführt und dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Russischen Föderation sowie den zuständigen Bundesbehörden unterstellt. Die große Mehrheit von ihnen setzt heute ihre Arbeit fort. Meist auf Kosten des russischen Haushalts studieren hunderttausende Studenten an diesen Universitäten, bekommen Diplome nach russischem Vorbild und erhalten Zuschüsse aus Moskau für wissenschaftliche Forschung. Aber die Regeln des russischen Bildungswesens gelten dort nicht in vollem Umfang: So gibt es beispielsweise kein transparentes System der staatlichen Auftragsvergabe und kein obligatorisches Staatsexamen für die Zulassung.
In einer Studie der unabhängigen russischen Initiative T-invariant-Projekt wurden zum ersten Mal Daten über die Leitung dieser Universitäten veröffentlicht. Meduza durfte die Ergebnisse veröffentlichen (russischer Text). Die Informationen wurden Stück für Stück anhand von Universitäts-Website, sozialen Netzwerken und sogar aus strafrechtlichen Datenbanken der ukrainischen Staatsanwaltschaft rekonstruiert. Die überwiegende Mehrheit der russischen Universitäten in den besetzten Gebieten sind ukrainische Universitäten, die entweder 2014 oder bereits 2022 beschlagnahmt wurden.
Es gibt nur fünf Ausnahmen. Dabei handelt es sich um die Staatliche Universität Melitopol, die 2022 auf der Grundlage mehrerer ukrainischer Universitäten (darunter einer privaten) gegründet wurde, die Donbass-Agrarakademie (die 2016 in den Mauern eines privaten wirtschaftlichen und humanitären Instituts mit einem eigenen Rektor an der Spitze gegründet wurde) und spezialisierte Hochschulen der Strafverfolgungsbehörden. Nach Berechnungen der ukrainischen Regierung wurden seit 2014 allein aus dem Donbass und der Krim 40.000 Studenten und 3.500 Lehrkräfte entführt. Fast alle rechtmäßigen ukrainischen Rektoren dieser Universitäten weigerten sich, mit den Besatzungsbehörden zusammenzuarbeiten. Die einzige Ausnahme ist der Rektor der Staatlichen Akademie für Kultur und Kunst in Luhansk, der diese Universität gegründet hat und seit 2002 leitet.
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