Meduza-Auswahl 16 – 22. Oktober: Jagd auf Anderdenkende in Russlands Straßen
Immer häufiger verfolgen Privatpersonen ihre Mitmenschen als „Feinde im Inneren“. Sie veröffentlichen Namen, schreiben Denunziationen und fordern die Staatsanwalt zu Ermittlungen auf.
Das russisch- und englischsprachige Portal Meduza zählt zu den wichtigsten unabhängigen russischen Medien. Im Januar 2023 wurde Meduza in Russland komplett verboten. Doch Meduza erhebt weiterhin seine Stimme gegen den Krieg – aus dem Exil. Die taz präsentiert seit 1. März 2023 unter taz.de/meduza immer mittwochs in einer wöchentlichen Auswahl, worüber Meduza aktuell berichtet. Das Projekt wird von der taz Panter Stiftung gefördert.
In der Zeit vom 16. bis 22. Oktober 2025 berichtete Meduza unter anderem über folgende Themen:
Die Suche nach dem Feind im Inneren
In den letzten Jahren suchen „engagierte Bürger“ – regierungsfreundliche Aktivisten, Z-Blogger, „Militärkorrespondenten“ und Abgeordnete – vermehrt nach „inneren Feinden“ in Russland. Sie verfolgen aufmerksam die Äußerungen von Nutzern in sozialen Netzwerken, beschweren sich über Beiträge, die ihnen „staatsfeindlich“ erscheinen, schreiben öffentliche Denunziationen und fordern Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaft und die Polizei. Oft gehen ihre „Enthüllungen“ mit Mobbing einher. Und persönliche Daten, Telefonnummern, Privatadressen und Namen von Verwandten werden im Internet veröffentlicht. Meduza berichtet auf Russisch. Die russischen Behörden gehen auch gegen Personen vor, die mit Menschenrechts-, sozialen und kulturellen Organisationen in Verbindung stehen. Eine weitere Gruppe von Menschen, denen die Behörden und Z-Aktivisten besondere Aufmerksamkeit schenken, sind Umweltaktivisten.
Im Knast für öffentlichen Gesang
Letzte Woche hat ein Gericht in St. Petersburg drei Mitglieder der Band „Stoptime“ in Verwaltungshaft genommen. Der Grund: Sie hatten auf den Straßen der Stadt Lieder von Musikern gespielt hatten, die als „ausländische Agenten“ gelten. Die Sängerin, der Gitarrist und der Schlagzeuger von „Stoptime“ werden der „Organisation einer Kundgebung“ beschuldigt. Die Geschichte der jungen Straßenmusiker aus St. Petersburg, die wegen des Spielens „falscher Lieder“ verfolgt werden, hat enorme Resonanz gefunden. Meduza berichtet auf Russisch. In mehreren russischen Städten fanden Aktionen zu ihrer Unterstützung statt. In St. Petersburg, Moskau und Jekaterinburg tauchten Flugblätter und Plakate mit der Forderung nach Freilassung der Musiker auf.
Wer braucht schon Schutz vor Gewalt?
Das Hilfszentrum für Opfer häuslicher Gewalt „Nasiliyu.net“ (Nein zu Gewalt) wird geschlossen. Im November dieses Jahres hätte „Nasiliyu.net“ sein 10-jähriges Jubiläum feiern sollen. „Wir hätten dieses Jubiläum sehr gerne gemeinsam mit Ihnen gefeiert, um uns daran zu erinnern, wie viel wir erreicht haben, und um neue Kraft zu schöpfen, um weiterzumachen: zu sprechen, zu helfen, da zu sein. Aber leider haben wir diese Möglichkeit nicht mehr. „Nasiliyu.net wird geschlossen“, sagt Anna Rivina, die Gründerin der Organisation. Laut Rivina ist der Grund dafür die Verschärfung der Gesetzgebung zu „ausländischen Agenten“. Im Jahr 2020 wurde das Zentrum in das Register der „ausländischen Agenten“ aufgenommen, Rivina selbst wurde 2023 zur „ausländischen Agentin“ erklärt.
Meduza berichtet auf Russisch. „Wir haben den Status ‚ausländischer Agent‘ überstanden, wir haben den 24. Februar überstanden, wir haben die ständige Verschärfung der Gesetze ausgehalten. Aber das Gesetz über ‚ausländischer Agenten‘ hat uns nach und nach nicht nur unsere Ressourcen genommen. Zuerst wurde uns verboten, Veranstaltungen durchzuführen. Dann wurde uns verboten, Aufklärungsarbeit zu leisten. Immer mehr Menschen hatten Angst, sich uns zu nähern, immer mehr Dienste verweigerten ihre Hilfe und versperrten den Betroffenen den Zugang zu Unterstützung. Der Kreis um unsere Zukunft wurde immer kleiner, kleiner, kleiner – und schließlich gab es keinen Raum mehr für unsere Arbeit“, erklärt Rivina.
Wie der Krieg in Russland salonfähig wurde
Der Verlag Meduza hat das Buch „Der Tempel des Krieges. Menschen und ihre Ideen, die den russischen Einmarsch in die Ukraine ermöglicht haben“ herausgebracht. Es erscheint auf Russisch.
Das Buch wurde von Ilja Wenjawkin verfasst, einem Historiker und Mitbegründer des Projekts Russian Independent Media Archive (RIMA), das das Erbe russischsprachiger Medien bewahrt. Das Buch „Der Tempel des Krieges“ beschäftigt sich mit neun sehr unterschiedliche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – von der Ökonomin Elvira Nabiullina bis zum Blogger und „Militärkorrespondenten“ Andrej „Murza“ Morosow.
Wenyawkin untersucht anhand öffentlich zugänglicher Quellen diese Menschen – die aktiv daran beteiligt waren, das Bild eines äußeren Feindes zu schüren, der angeblich Russland bedrohe. Auch wenn der Befehl zum Beginn der Invasion persönlich vom Präsidenten Wladimir Putin gegeben wurde, haben die Helden des „Tempels des Krieges“ mit ihren Erwartungen, Ideen und Handlungen die öffentliche Nachfrage geprägt, die diesen Krieg möglich gemacht hat.
„Auf der Suche nach einer Antwort habe ich mich den Geschichten von neun Personen zugewandt, die verschiedene Schichten der russischen Gesellschaft repräsentieren: einen Militärangehörigen, einen Beamten, einen Priester, einen Satiriker, einen Philosophen, einen Journalisten, einen Politologen, einen Vertreter der Sicherheitskräfte und einen Blogger. Jeder von ihnen hat die Invasion der Ukraine auf seine Weise unterstützt“, sagt Wenjawkin.
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