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Medizinische Versorgung in BrandenburgKrankes Land

In vielen ländlichen Regionen fehlen Ärzt:innen. Gleichzeitig wächst die Zahl der Patient:innen. In Lübbenau setzt man auf ein besonderes Versorgungskonzept.

Medizinische Hilfe in vertrauter Umgebung: ein Hausbesuch einer Pflegerin bei einer pflegebedürftigen Seniorin Foto: Monika Skolimowska/picture alliance

Lübbenau taz | Es ist sieben Uhr an einem Dienstagmorgen, als sich Merve Metin mit Gabi Miemietz trifft. Beide arbeiten im Medizinischen Zentrum Lübbenau. Heute warten zehn Einsätze auf sie. Die Route ist bereits am Vorabend abgestimmt. Merve ist Ärztin in Weiterbildung. Gabi ist sogenannte agneszwei-Fachkraft, speziell geschult, um in der ambulanten Versorgung mitzuhelfen. Das Konzept steht für „arztentlastende, gemeindenahe, E-Health-gestützte systemische Versorgung“, und die gibt es in Lübbenau seit 2006. Die „zwei“ verweist auf die zweite Entwicklungsphase des Projekts.

Ihr erster Einsatz: ein Hausbesuch bei einem 78-jährigen Patienten mit multiplen Diagnosen. Der Mann lebt allein, seine Tochter wohnt in Nordrhein-Westfalen. Seit dem Tod seiner Frau ist er deutlich geschwächt, braucht Flüssigsauerstoff, kommt ohne Hilfe kaum noch aus der Wohnung. Ein Pflegegrad wurde bislang aber nicht beantragt. Gabi informiert die Nachbarin, die dem Patienten im Alltag hilft, dass sie vorbeikommt. Danach kontaktiert sie den Hausarzt und lässt sich den aktuellen Medikamentenplan durchgeben. Kurz vor Abfahrt packen sie Pflaster, ein Blutdruckmessgerät, Formulare und Anträge für Pflege- und Hilfsmittel zusammen. Die beiden steigen ins Auto. Hausbesuche dürfen nicht begleitet werden.

Gegen 11 Uhr kehrt Merve ins Zentrum zurück. Im Eingangsbereich ist viel los: Vor der Rezeption und den Türen der Facharztpraxen warten viele Patientinnen und Patienten, einige mit Rollator. Die Tür der Gynäkologie bleibt heute geschlossen – die Ärztin ist im Urlaub, eine Vertretung fehlt. Merve läuft durch den vollen Flur und setzt sich in einen ruhigen Besprechungsraum. Dort dokumentiert sie die Einsätze und bespricht sie später mit den Ärztinnen und Ärzten.

Im oberen Stockwerk des Zentrums sitzt Charlotte Bettina Boett­cher, die Geschäftsführerin. In einem großen, hellen Raum am Konferenztisch spricht sie ruhig, aber bestimmt: Über 20 Ärztinnen und Ärzte arbeiten hier, acht davon als Hausärzte – trotzdem decken sie nur rund 75 Prozent der Versorgung ab, so Boettcher. Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) verzeichnet Brandenburg mit 201,3 zugelassenen Me­di­zi­ne­r:in­nen pro 100.000 Menschen bundesweit die niedrigste Ärztedichte. Zum Vergleich: In Berlin sind es 299,1, in Hamburg sogar über 310. Diese Unterversorgung hängt auch mit den Nachwirkungen der Wende zusammen, als viele medizinische Strukturen zusammenbrachen und sich bis heute nicht vollständig erholt haben.

Dabei knüpft das Projekt an Traditionen der DDR-Zeit an, denn da waren Gemeindeschwestern fester Bestandteil der lokalen Gesundheitsversorgung. 2006 wurde es neu gedacht – als agneszwei. Initiiert wurde es vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, umgesetzt wird es von der Innovativen Gesundheitsversorgung in Brandenburg – einem Verbund aus der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg, der AOK Nordost, der Barmer und dem Brandenburger Gesundheitsministerium.

Ohne Fachkräfte reicht es dennoch nicht

Doch der Weg war nicht einfach: Neben finanziellen und rechtlichen Hürden gab es auch Skepsis von Ärz­t:in­nen und Krankenkassen. Können delegierte Aufgaben fachlichen Standards genügen? Wie wird Verantwortung verteilt? Mittlerweile gilt das Projekt als Vorreiter für wohnortnahe niedrigschwellige Versorgung.

Boettcher beschreibt, wie das agneszwei-Modell die Hausärzte entlasten soll: Hausbesuche übernehmen speziell geschulte Fachkräfte wie Gabi, Ärz­t:in­nen fahren nur ausnahmsweise mit, etwa zur Weiterbildung wie bei Merve. Die Fachkräfte dokumentieren Vitalwerte, koordinieren Nachsorge, sprechen mit Angehörigen, organisieren Hilfsmittel. Im Zentrum arbeiten derzeit nur zwei von ihnen. Bezahlt werden die Hausbesuche über eine Sonderregel der Krankenkassen: 45 Euro pro Besuch, bis zu acht Besuche im Jahr, bisher allerdings nur für Versicherte der AOK Nordost und der Barmer.

„Das Modell ist ein wichtiger Baustein“, sagt Boettcher. Doch ohne zusätzliche Fachkräfte werde es nicht reichen. Gerade für Menschen, die allein leben, sei die Betreuung im Alltag wichtig, weil die Fachkräfte auch auf Dinge achten, die sonst oft übersehen werden, wie zum Beispiel die Barrierefreiheit in der Wohnung. Für viele Pa­ti­en­t:in­nen ist der Besuch der agneszwei-Fachkräfte mehr als ein medizinischer Check: Es ist oft der einzige persönliche Kontakt in der Woche. „Das Feedback der Pa­ti­en­t:in­nen ist durchweg positiv“, sagt Boettcher. Das Vertrauen, das dabei entstehe, sei mit keinem digitalen System zu ersetzen.

Wie es weitergeht, zeigt ein Blick auf Boett­chers Schreibtisch: Dort liegen Notizen für das nächste Projekt. Künftig sollen Vitalwerte, Befunde und Medikationspläne digital und in Echtzeit in die elektronische Patientenakte fließen – für Hausarztpraxen, Pflegedienste oder Sanitätshäuser jederzeit sichtbar. Geplant sind mobile Geräte, mit denen Fachkräfte unterwegs ein EKG schreiben und direkt übermitteln können. Auch sogenannte Case- und Care-Manager sollen dabei helfen, Pa­ti­en­t:in­nen rund um Klinikaufenthalte besser zu betreuen.

Die Technik kann Abläufe erleichtern, Nähe und persönliche Gespräche aber nicht ersetzen

Boettcher atmet kurz durch: „Aber das Wichtigste bleibt das Vertrauen.“ Die Technik kann Abläufe erleichtern, Nähe und persönliche Gespräche aber nicht ersetzen.

Heute sind rund 140 dieser Fachkräfte in fast allen Landkreisen Brandenburgs im Einsatz. Auch außerhalb Brandenburgs wird das Konzept weiterentwickelt: So arbeitet das MVZ Oschersleben in Sachsen-Anhalt mit sechs sogenannten VERAHs – Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis. In Niedersachsen läuft das Projekt „MoNi“ (Modell Niedersachsen), das ebenfalls auf die Delegation ärztlicher Aufgaben setzt. Dort liegt der Schwerpunkt besonders auf praxisnaher Fortbildung, die auch ohne umfangreiche Zusatzqualifikationen funktioniert.

Diese Beispiele zeigen, dass das Modell Potenzial hat. In Lübbenau etwa funktioniert es – dank engagierter Fachkräfte, digitaler Unterstützung und klarer Aufgabenverteilung. Doch andernorts scheiterten ähnliche Projekte nach der Testphase an fehlender Finanzierung oder politischer Rückendeckung. Damit solche Ansätze langfristig Wirkung entfalten, braucht es vor allem eines: verlässliche Strukturen – und den Willen, neue Wege in der Versorgung zu gehen.

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5 Kommentare

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  • Tausende ausländische Ärztinnen und Ärzte warten auf ihre Approbation – das Verfahren dauert mindestens drei Jahre. Ich habe vier Jahren gewartet.

  • Ich arbeite als Arzt seit knapp 20 Jahren in einer Klinik in Brandenburg (Bundesland). Vor etwa 10 Jahren haben wir einen russischen Arzt eingestellt, hochkompetent, sehr guter Arzt. Bis er aber alle Zulassungen, Arbeitserlaubnis und den notwendigen Sprachnachweis hatte, sind beinahe 2 Jahre ins Land gegangen.







    Heute werden in den Brandenburger Kliniken immer mehr fremdsprachige Ärzte eingestellt, die Zulassungsverfahren für Ärzte aus dem Ausland wurden beschleunigt, weil es einfach kaum noch inländische Bewerber gibt. Anwerbeprogramme laufen wie im Pflegebereich.







    Während es im Pflegebereich die im Verhältnis zur schweren Arbeit im Schichtdienst in erster Linie die schlechte Bezahlung und die Arbeitsbedingungen sind, die den Notstand verursachen, sind es ärztlich einfach die am Bedarf vorbei zu geringen medizinischen Studienplätze.







    Lieber fertige Ärzte (die ich oft bei telefonischen Patientenanküngungen nicht verstehen kann) aus dem Ausland importieren (die dann dort fehlen), statt den NC mal vernünftigen Realitäten anpassen. Ich kenne kaum jemanden mit dem Abiturdurchschnitt von 1,0, aber das ist die geforderte Note, um einen Medizin-Studienplatz zu bekommen. Lächerlich.

  • Es fehen Ärzte?

    Kein Wunder bei einem NC zwischen 1,1 und 1,5 seit über 50 Jahren.

    Der hohe NC ist wiederum kein Wunder, da Medizinstudieplätze die kostenintensivsten überhaupt sind. Verweigert man den jungen Leuten hier über den NC den Studienplatz spart man viel Geld. Und nochmal viel Geld indem man Ärzte und entsprechendes medizinisches Fachpersonal aus günstigeren Ländern herholt.

  • Wenn dann im Osten auf dem Land auch noch zusätzlich viele Menschen AFD wählen, wird die Situation noch dramatischer. Welche Fachkraft zieht freiwillig zu den jammernden Rechtsnationalen in den Osten der Repuplik?

  • Alternativer Ansatz: Wer in Lübbenau in die herrlichen Spreewaldkähne steigen will, muss als Mediziner(in) noch mal Check-Ups vorher machen, bekommt dann aber einen Rabatt und eine Gurke extra.



    Ernsthafter: In DDR-Zeiten war die Infrastruktur anders, die klimafrevlerischen Betriebe in der Nähe gab es noch in Volllast und die Altersstruktur war eine andere. In Lübbenau wandert eine Altersgruppe gemeinsam durch - was aber kommt danach?