Medizinethikerin über ungleiche Gesundheit: „Gerechtigkeit schwer abzubilden“
Die Medizinethikerin Julia Inthorn würde eine Impfoffensive in armen Stadtteilen begrüßen, wenn die verletzlichsten Gruppen durchgeimpft sind.
taz: Frau Inthorn, werden soziale Aspekte bei der medizinischen Versorgung – speziell bei den Impfungen – in Deutschland nicht ausreichend berücksichtigt?
Julia Inthorn: Ich glaube, da muss man erst einmal unterscheiden, auf welcher Ebene man guckt. Die sozialen Aspekte spielen bei den Kriterien ja durchaus eine Rolle. Also, wenn man ganz grundsätzlich darüber nachdenkt, was gerecht ist und welche vulnerablen Gruppen man im Blick behalten muss. Aber dann muss natürlich die Ständige Impfkommission (Stiko) – und auch andere Einrichtungen – einen Weg finden, das konkret werden zu lassen. Und da bleiben notgedrungen ganz viele Dinge auf der Strecke. Meine Wahrnehmung ist, dass das vor allem ein Umsetzungsproblem ist und nicht so sehr ein blinder Fleck oder so etwas.
Gibt es in Deutschland eine größere Scheu, das öffentlich zu thematisieren? In England oder in den USA ist früh darüber geredet worden, dass Schwarze oder Migranten stärker von der Pandemie betroffen sind. Als hier hingegen RKI-Chef Wieler über Intensivpatienten mit Migrationshintergrund sprach, gab es einen Aufschrei.
Ich glaube, dass da verschiedene aktuelle Diskussionsstränge ineinander verwoben gewesen sind. Also zum einen hat sich Wieler wirklich extrem unglücklich ausgedrückt. Tatsächlich haben wir ja mittlerweile Zahlen, die belegen, dass Covid nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich trifft. Manche sind einfach besser geschützt als andere. Damals vermischte sich das aber mit der Black-Lives-Matter-Debatte und dem Umgang mit Rassismus in Deutschland, wo auch noch einmal eine ganz andere Sensibilität für politisch korrektes Sprechen geweckt wurde. Da sind Dinge vermischt worden, die für die explizite Gerechtigkeitsfrage zum Beispiel beim Impfen nicht unbedingt hilfreich waren.
Es gibt also kein Tabu und auch keinen Mangel an Daten?
Man kann diese Dinge in Deutschland schon adressieren, sie sind aber – wenn man ein bisschen genauer hinguckt und sich nicht nur empören will – nicht ganz so einfach. Weil unser Gesundheitssystem von seiner Struktur her schon sehr stark auf Gleichheit ausgerichtet ist – ganz anders als in den USA oder England. Die USA haben kein gerechtes Gesundheitssystem und auch gar nicht diesen Anspruch. Da kann man natürlich solche Dinge viel schneller sehen und auch sagen – wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen überhaupt keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung haben. Hier haben wir eine Verpflichtung zur Krankenversicherung und also auch zumindest, was den Zugang angeht, ganz andere Bedingungen.
48, ist Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum. Inthorn hat Mathematik studiert und in München in Philosophie promoviert. Sie ist seit 2006 wissenschaftlich im Bereich der Medizinethik tätig.
Und wie ist das in Großbritannien?
Da ist es viel akzeptierter, Fragen danach zu stellen, welchen gesellschaftlichen Nutzen eigentlich bestimmte Ausgaben im Gesundheitssystem haben. Diese Frage stellen wir so nicht.
Trotzdem haben ja auch hier die allermeisten Menschen nicht den Eindruck, das System sei super gerecht.
Im Detail knirscht es natürlich immer, weil man Gerechtigkeit im Verfahren nicht zu 100 Prozent abbilden kann. Aber im Grundsatz würde man in Deutschland sagen, dass Gleichheit im Zugang zu medizinischer Versorgung gegeben ist. Also: Wenn ich mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus komme, werde ich behandelt, unabhängig davon, wie ich versichert bin oder was ich vorher geleistet habe. Die Ungleichheit entsteht hier eher auf dem Feld der Prävention. Habe ich Zugang zu Informationen und Wissen, zu Berufen, in denen ich keinen hohen Risiken und Belastungen ausgesetzt bin, zu den finanziellen Mitteln, um mich gesund zu ernähren und all diese Dinge. Da sehen wir dann eben, dass – im Ausgang, nicht im Zugang, und über die gesamte Lebensspanne betrachtet – Gesundheit extrem ungleich verteilt ist.
Aber auch beim Zugang sind die Hürden für manche doch höher als für andere.
Im Kontext der Pandemie sind natürlich auch noch einmal sprachliche Barrieren besonders ins Gewicht gefallen. Und zwar nicht nur bei der Aufklärung. Gerade kämpfen die Schulen damit sicherzustellen, dass diese Schnelltests zu Hause korrekt angewandt werden. Da sind die Beipackzettel nicht immer eine große Hilfe. Auch bei der Inanspruchnahme von Impfungen spielt das natürlich eine Rolle.
Glauben Sie denn, es wäre nötig und möglich, jetzt zum Beispiel in der Impfverordnung einen Ausgleich zu schaffen?
Also zunächst einmal stehe ich voll und ganz hinter dem, was die Stiko erarbeitet hat. Und trotzdem finde ich es wichtig und richtig, dass jetzt – wo die Impfung der vulnerabelsten Personengruppen weitgehend abgeschlossen ist – immer mehr auf Gruppen hingewiesen wird, die in hohem Maße schutzbedürftig sind. Sei es, weil sie zur Daseinsvorsorge gehören oder weil sie ein besonders hohes Infektionsrisiko haben. Die Frage ist jetzt, wie kann man das überhaupt adressieren. Die Hausärzte sind da sicher ein guter und wichtiger Schritt, fraglich ist aber, ob die alleine das jetzt leisten können.
In vielen besonders belasteten Stadtteilen ist die Hausarztdichte nicht so hoch. Gleichzeitig haben dort viele Menschen Schwierigkeiten, den Kampf mit der Impfhotline aufzunehmen oder den Weg ins Impfzentrum zu bewältigen. Muss man da noch anders rangehen?
Ja, möglicherweise muss man da noch einmal schauen, was man braucht, damit die bestehenden Strukturen das gut adressieren können. Das ist natürlich ein Problem, das wir im Gesundheitswesen an ganz vielen Stellen haben. Wie erreichen wir Gruppen, die sich nicht so gut selber kümmern können? Das ist dann auch ein Grundsatzproblem in so einem liberal denkenden Staatsgefüge, wo die Leute halt nicht irgendwo erfasst und registriert und mit einem Stempel versehen sind. Deshalb haben wir auch kaum Zugänge, wenn die sich nicht von selber zu Wort melden. Anders als Lobbygruppen, die zum Teil ja sehr gründliche Arbeit geleistet haben. Das ist sicherlich auch etwas, was das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen belastet.
In den Stiko-Empfehlungen sind bisher nur Menschen in Extremlagen berücksichtigt, richtig? Also vor allem solche, die in Gemeinschaftsunterkünften hohen Infektionsrisiken ausgesetzt sind: Geflüchtete, Obdachlose, Häftlinge und so weiter?
Ja, wobei die erste Runde der Stiko-Empfehlungen noch vor den Mutationen verfasst wurde. Jetzt haben wir plötzlich andere Risikoverläufe auch bei jüngeren Menschen. Die Lage ändert sich also permanent. Und um die Maßnahmen gut und evidenzbasiert aufzustellen, brauchen wir ständig neue Zahlen. Damit hinken wir dem aktuellen Verlauf aber auch zwangsläufig immer ein Stück hinterher. Damit muss man leben. Dieses ständige Nachjustieren ist kein Eingeständnis von Schwäche, sondern ein absolut notwendiger Lernprozess.
Können Sie mal ein konkretes Beispiel sagen, wo man diesen Lernprozess sehen kann?
Zum Beispiel bei der privaten Pflege. Das ist ja ein Bereich, den man anfangs schlicht komplett vergessen hatte. Der in Deutschland zahlenmäßig aber ziemlich groß ist. Da hat man dann eben nachgebessert.
Müsste man mit Blick auf die benachteiligten Stadtteile denn jetzt nicht eigentlich sagen: Okay, wir nehmen jetzt die mobilen Teams, die bisher in den Pflegeheimen unterwegs waren, die sollen jetzt dahin gehen und – unabhängig von der Priorisierung – alles impfen, was bei drei nicht auf dem Baum ist?
Na ja, den Grundsatz der Freiwilligkeit würde ich doch bitte unbedingt beibehalten. Wenn es die Kapazitäten gibt, wäre das ein guter Ansatz. Die Frage ist halt auch da wieder: Wie bekommt man das am besten hin? Geht man über die bewährten Strukturen der Nachbarschaftshilfe, Tafeln oder so etwas? Wen vergisst man dann da wieder? Deshalb ist es so wichtig, dass es immer wieder Modellprojekte gibt, die aber auch klug evaluiert werden müssen, um zu sehen, was funktioniert und was nicht.
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