Medien in Europa: Das Monster lernt sprechen
Europa braucht gemeinsame Erzählungen, um endlich zusammenzuwachsen. Und dafür braucht Europa eine gemeinsame Medienanstalt.
Ein Riesendefizit der Europäischen Union ist ihre massenmediale Unsichtbarkeit. Es ist erstaunlich, ja gar töricht, dass eine Institution, die 500 Millionen Bürger repräsentiert und über ein Jahresbudget von 135 Milliarden Euro verfügt, keine gemeinsamen Kommunikationsnetzwerke hat.
Ohne den Zufluss an Informationen, schrieb Jürgen Habermas, und ohne die Belebung durch Argumente, würde die öffentliche Kommunikation ihre diskursive Vitalität einbüßen. „Die Öffentlichkeit würde,“ so Habermas, „den populistischen Tendenzen keinen Widerstand mehr entgegensetzen und könnte die Funktion nicht mehr erfüllen, die sie im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats erfüllen müsste.“ Habermas schrieb dies bezogen auf die durch die Wirtschaftskrise und das Internet bedrohte freie „Qualitätspresse“. Er bezog sich dabei auf nationale Medien- und Presselandschaften. Dies gilt indes auch für Europa, allein, es gibt gar keine transnationale Medienlandschaft in der EU.
Nationale Medien filtern – absichtlich oder unabsichtlich – ihre Informationen und Argumente im Rahmen von nationalen Interessen. In Athen, Madrid oder Lissabon bewertet man die Finanzkrise und die Sparpolitik anders als in Berlin oder in London. Bulgaren, Rumänen und Polen haben eine andere Sicht auf den europäischen Arbeitsmarkt als Briten oder Niederländer. Man könnte diese Liste endlos weiterführen und würde immer feststellen: Ein gemeinsamer Narrativ fehlt in Europa.
Was passiert, wenn Bionade-Eltern und Kopftuchmütter eine Schule retten wollen - allerdings nicht immer gemeinsam? Wie der Wunsch nach Integration wirklich Wirklichkeit wird, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 22./23. Februar 2014 . Außerdem: Was macht einen Pädophilen aus? Ein Interview mit dem Sexualwissenschaftler Peer Briken. Und: Wie die Westukraine gegen die Machthaber in Kiew kämpft. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat in seinem Buch „Die Erfindung der Nation“ dargelegt, dass es erst durch die Ausdehnung des Buch- und Druckmarktes für Menschen möglich wurde, sich über größere Räume hinweg als vorgestellte Gemeinschaften zu definieren. Nationen sind mediengeborene Kollektive, zusammengewachsen durch das, was man in Zeitungen lesen, im Radio hören, im Fernsehen sehen kann, worüber man gemeinsam chattet und spricht. Die Medien sind die moderne Agora, sie sind der zentrale Veranstaltungsort, auf dem sprachlich kommunizierte Werte ausgehandelt werden. Dies muss auf Europa weitergedacht werden.
Bisher jedoch wird die Bedeutung der Medien für die Erfindung und Legitimierung der transnationalen Gemeinschaft Europa maßlos unterschätzt. Um nicht weiterhin als „das sanfte Monster aus Brüssel“ wahrgenommen zu werden, braucht Europa ein gemeinsames Medium, eine öffentlich-rechtliche europäische Medienanstalt, die, angelehnt an die BBC, „European Broadcasting Corporation“ (EBC) heißen könnte. Die EBC wäre die Plattform für die Entstehung einer europäischen Identität und Öffentlichkeit.
Gemeinsame Erzählung
Ohne diese gemeinsame Plattform ist und bleibt die EU ein fragiles Gebilde. Der Erfolg der Anti-Zuwanderungs-Initiative in der Schweiz beflügelt momentan die europaskeptischen und national orientierten Rechtspopulisten in den europäischen Ländern. Marine Le Pen vom französischen Front National (FN) feiert das Schweizer Referendum als „Sieg des Volkes gegen die Eliten und die Technostruktur der EU“. Bernd Lucke von der euroskeptischen „Alternative für Deutschland“ (AfD) will Zuwanderer künftig auf „Qualifikation und Integrationsfähigkeit“ prüfen, um eine „Einwanderung in unsere Sozialsysteme“ (Copyright CSU) zu unterbinden. Und in den Niederlanden tönt der Rechtspopulist Geert Wilders: „Was die Schweizer können, das können wir auch: Zuwanderung beschränken und raus aus der EU! Eine Quote für Zuwanderer: Fantastisch.“ Anstatt über Grenzen hinweg zu denken, werden sie neu beschworen.
In einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) heißt es, dass die rechts- und nationalpopulistischen Parteien mit Europa, genauer der Europäischen Union und deren Institutionen, eine neue Mobilisierungsformel gefunden haben: „Zur Fremden- und Islamfeindlichkeit sowie der Elitenkritik ist als gleichberechtigtes Feindbild Europa hinzugekommen.“
Experten befürchten, dass bei der Europawahl Ende Mai jeder vierte Sitz im EU-Parlament an Parteien mit anti-islamischem oder antieuropäischem Programm gehen könnte. Die Studie stellt fest, dass die virtuose Bedienung von Vorurteilen durch die nationalpopulistischen Parteien bei den Bürgern auf fruchtbaren Boden falle. Und so lange Brüssel als abgehobenes „Bürokratiemonster“ wahrgenommen werde und die Eurokrise weiter schwele, „werden die Rechtspopulisten noch genügend Munition für ihre euroskeptische und sogar europafeindliche Propaganda finden.“
Zum Gegensteuern empfehlen die KAS-Forscher ein Bündel an Maßnahmen. Sie fordern, dass komplexe politische Zusammenhänge verständlich erklärt werden, dass die Vorteile der Europäischen Integration klar kommuniziert und die politischen Leerformeln der rechts- und nationalpopulistischen Parteien „entzaubert“ werden. Gewiss sind all diese Maßnahmen honorig, allein, es fehlt ihnen an Durchschlagskraft.
Die geforderte Entzauberung der rechts- und nationalpopulistischen Parteien wird misslingen, so lange es in Europa keinen zentralen Veranstaltungsort gibt, auf dem sprachlich kommunizierte Werte und Normen ausgehandelt werden können. Das „abgehobene Raumschiff Europa“ muss durch eine gemeinsame Medienanstalt, durch europäische Reportagen, Internetforen, Spielfilme, Radioprogramme, Unterhaltungssendungen, Dokus, Parlamentsübertragungen und Politik-Talk-Shows, in eine europäische Öffentlichkeit verwandelt werden. Europa braucht gemeinsame Diskurse, Bilder, Identifikationsfiguren und Erzählungen, um sich als Gemeinschaft zu definieren.
Zu teuer
Bisher ist europäische Medienpolitik – mit einigen Ausnahmen – nach wie vor nationale Medienpolitik. Die Europäische Rundfunkanstalt EBU (European Broadcasting Union), ein Zusammenschluss von derzeit 74 Rundfunkanstalten in 56 Staaten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens, tauscht ein paar Nachrichtenfilme aus und veranstaltet den Eurovision Song Contest. Aber einmal im Jahr ein paar Sänger auf die Bühne zu schicken, ist zu wenig.
Auf die Frage, ob in Zukunft die Bildung einer transeuropäischen Medienanstalt möglich ist, antwortete die zuständige Abteilung der EU für europäische Medienpolitik, dass solch ein Projekt zu teuer sei, da man sämtliche Programme täglich in alle europäischen Sprachen übersetzen müsse. Natürlich wären die Personalkosten der „European Broadcasting Corporation“ (EBC) hoch. Aber die Frage ist doch, ob man hier nicht am falschen Ende spart. Denn ohne europäische Öffentlichkeit ist und bleibt die EU eine blutleere Institution ohne Identität und gemeinsamen Diskurs.
Nein, Europa braucht eine eigene öffentlich-rechtliche Medienanstalt. In den Redaktionsräumen der EBC würden europäische Nachrichten entstehen, die sich jenseits der nationalen Machtcontainer bewegen und dadurch einen europäischen Meinungsbildungsprozess in Gang setzen würden. In ihren Sendungen müssten die EU-Bürokraten ihre Entscheidungen öffentlich vertreten.
Als vierte Gewalt würde die „European Broadcasting Corporation“ (EBC), ähnlich wie die nationalen Medienlandschaften, durch ihre Berichterstattung und Nachrichtenströme, das politische System in Brüssel zu mehr Transparenz und Veränderungen zwingen und erst dadurch, als ein gewichtiger Baustein unter vielen, die Mythen der Rechtspopulisten tatsächlich entzaubern.
Darüber hinaus hätte die EBC eine identitätsstiftende Wirkung. Vorstellbar wäre, um nur einige Beispiele zu nennen: EBC Online als multimediale europäische Nachrichten-Webseite; EBC Radio mit europäischen Informations- und Kulturprogrammen; eine europäische Tagesschau, die simultan in alle Sprachen übersetzt wird; ein europäischer Günther Jauch, der mit europäischen Gästen tagesaktuelle Themen diskutiert; eine europäische Sportschau und vielleicht auch ein europäischer Tatort, dessen Kommissare in Bukarest, Rom, Wien oder Lissabon auf Verbrecherjagd gehen. All diese Programme würden zu mehr Empathie zwischen den Nationen führen und ein transeuropäisches Gemeinschaftsgefühl erzeugen.
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