Mauerpark-Karaoke: Sonne, Bier, Sinatra
Im Mauerpark trifft sich sonntags eine Gemeinde zum kollektiven Karaoke. Ein Querschnitt aus Touristen und Berlinern. Organisator ist ein Fahrradkurier, der sagt: Ums Geld geht es nicht.
Die Sonne brennt, aber René aus Mariendorf bleibt ganz cool. "Wenn er kommt, bin ich bereit", sagt der junge Mann im knallroten Shirt und lächelt. Geduldig sitzt René seit einer Stunde auf der untersten Steinstufe des Amphitheaters im Mauerpark. Mit ihm warten ungefähr 500 andere darauf, dass Joe Hatchiban sein Karaoke-Fahrrad auf der kreisrunden Bühnenfläche parkt und die Party eröffnet. Dass der Mann, der seit Frühling letzten Jahres jeden Sonntag die Massen rockt, kommt, darüber macht sich hier niemand Sorgen. Weder das überwiegend junge Publikum auf der Tribüne noch die vielen fliegenden Händler, die den Karaokefreunden gekühltes Bier und Snacks verkaufen. "Der kommt immer", sagen zwei Freundinnen aus Mitte, die sich mit Wassermelonen und Limonade in den Schatten verzogen haben. Auch sie lassen kaum einen Sonntag aus: "Es ist die geilste Freiluftparty der Stadt".
Um 15.05 Uhr ist es dann so weit. Jubel brandet auf, als Joe Hatchiban von seinem orangefarbenen Lastenfahrrad steigt und zwei Bassboxen herunterwuchtet. Joe trägt einen weißen Sonnenhut, Dreitagebart und viel Sonnencreme auf der Haut. Routiniert schließt er einen Laptop an die ins Fahrrad eingebauten Akkus an, mehr Technik braucht er nicht. Die mobile Karaoke-Station hat er sich von einer Berliner Firma maßanfertigen lassen. Joe, der in Wirklichkeit anders heißt, ist eigentlich Fahrradkurier. Nach sechs Jahren Strampeln brachte er seine Liebe zum Fahrrad und zu Karaokepartys zusammen und erfand die rollende Show "Bear Pit Karaoke". Damit trat er auch schon an der Siegessäule auf, doch im Mauerpark zwischen Wedding und Mitte fand er ein enthusiastisches und unermüdliches Publikum. Selbstdarsteller aller Altersgruppen und Nationen verbreiten eine Riesenstimmung, jede Woche werden es mehr. Dafür sorgen nicht zuletzt die Reiseführer, die "Beer Pit" zusammen mit dem angrenzenden Flohmarkt zum ultimativen Berlin-Tipp gekürt haben.
Lohnen sich die Partys, die nach Absprache mit dem Ordnungsamt um halb acht beendet sein müssen? "Es geht nicht ums Geld", sagt Joe, der nach der Show mit dem Hut herumgeht, und dreht die Anlage auf: "Remmidemmi" von Deichkind. Die Menge tobt. Joe grinst, seine Assistentin notiert derweil die Sangeswünsche der Wartenden auf einem Zettel.
René hat sich gleich als Erstes angemeldet. Drei Songs will er singen, "so oft, wie ich darf". Vor der Zuschauermenge, die mittlerweile auf knapp 1000 angewachsen ist, hat er keine Angst. Auch vom Computermonitor muss er nicht ablesen - den Text kennt er auswendig.
"Ich weiß, dass ich gut bin", sagt er selbstbewusst. Der 20-jährige Sicherheitsmann ist schon beim Gesangswettberb "Die Stimme Berlin-Brandenburg" und im Fernsehen aufgetreten. Sein Ziel: ganz nach oben kommen. "Unten war ich schon", sagt René, obdachlos. Mit seiner Stimme will er irgendwann einmal seine Familie ernähren. Jetzt ist Joe mit dem Eröffnungssong dran. Lässig intoniert er einen Stray-Cats-Song, Ausfallschritt inklusive. René lässt es ruhiger angehen, er gurrt "Shes like the wind". Ein Schmachtfetzen aus den 80er Jahren, vorgetragen mit voller Stimme. "How beautiful", sagt Joe.
Es folgen "Frank from Vienna" mit einem quäkig vorgetragenen R.E.M.-Song und Rebecca aus Luzern mit einer kaum hörbar gehauchten Ballade. Das Publikum tobt und schreit an den richtigen Stellen "Rebel Yell". "Gewinnt da eigentlich einer?", fragt eine Frau mittleren Alters. Die Frankfurterin ist zu Besuch bei ihrer Tochter in Prenzlauer Berg, die fast jeden Sonntag nach Frühstück und Parkspaziergang hier zuschaut. "Ich würd ja nie im Leben singen, aber die jungen Leute trauen sich einiges zu", sagt sie diplomatisch, während sich Kassandra aus den USA an einer Lady-Gaga-Version müht.
Ovationen für Detlef
An Selbstbewusstsein mangelt es keinem der Gesangsdarsteller. Egal wie dünn oder schief die Stimme, wie unbeholfen die Bewegungen - alle bringen ihren Song zu Ende und bekommen am Ende großzügigen Applaus. Spott und Häme gibt es nicht, dafür viel Selbstironie. Und jeder bringt seinen Song zu Ende, abgebrochen wird nicht. Das ist die einzige Bedingung von Showmaster Joe, sie ist ganz im Sinne des Erfinders Daisuke Inoue, der vor 40 Jahren in Japan die Karaoke-Maschine erfand und dafür 2004 den Spaßnobelpreis der Firma lg in der Kategorie "Frieden" erhielt. Das gemeinschaftliche Nachsingen bekannter Popsongs bringe den Menschen bei, sich gegenseitig zu tolerieren, hieß in der Laudatio.
Joe Hatchiban versteht sich als Nachfahre im Geiste des glücklosen Inoue, der sich seine Erfindung nie hatte patentieren lassen. "Hatchiban" bedeutet 18 auf Japanisch. Eine Glückszahl. "Jeder Karaokesänger hat seine 18 - es ist der Song, der ihm am besten gelingt", sagt Joe. Die 18 des Rauschebarts, der unter frenetischem Jubel ans Mikro tritt, ist offensichtlich "My Way". Detlef, den alle hier kennen, tritt jeden Sonntag auf. Der Mann, der die Karaoke-Show nutzt, um seine christliche Botschaft zu verbreiten, hat einen Deal mit Joe gemacht. Ein Song, nicht mehr. Die eingedeutschte und christlich umgearbeitete Sinatra-Version schmettert er mit Inbrunst. Dafür bekommt er stehende Ovationen. Performance ist alles im Mauerpark, die Botschaft interessiert weniger.
Auch René kennt den christlichen Sänger - aus einer Bowling Lounge in Schöneberg, wo man sich Sonntagabend zum Karaoke trifft. "Ein Original", sagt er anerkennend. Beide, der Rauschebart und der aufstrebende Sänger aus Mariendorf, gehen - sie haben ihre Mission erfüllt. René darf nicht noch mal singen, die Anmeldeliste ist voll, jeder soll drankommen. Trotzdem wird er wiederkommen: "Einfach hammermäßig, die Stimmung."
Das findet auch ein älteres Ehepaar aus Sachsen, die ihr Reiseführer in den Mauerpark geführt hat. "Ganz toll spontan", staunt die Frau, während ihr Mann mit der Videokamera draufhält. Genau wie Joe, der noch am Abend die Höhepunkte auf YouTube stellen wird. Die Sonne hat sich noch nicht gesenkt über den Park - gelohnt hat sich die Show aber bereits für alle: Sänger und Publikum haben rote Backen vor Enthusiasmus. Auch vom Biergenuss, der den Getränkeverkäufern satte Einnahmen beschert. Eine Eisdiele aus Prenzlauer Berg gibt gratis Bio-Eis für alle aus, dafür erwähnt Joe sie mehrfach namentlich.
Etwas abseits vom Karaoke-Rummel liegen zwei junge Mädchen im halbvertrockneten Heidekraut und erzählen sich Liebeskummergeschichten, auf einer der Schaukeln sitzt ein blasser junger Mann und liest."Ich finde das als Hintergrund schön", sagt Michael aus London, "aber nicht alle Interpreten sind gleich gut." Der Kreisch-Performance einer vierköpfigen Mädelsgruppe, die "I will survive" brüllt, zieht er seinen Roman vor. Sich der Partystimmung am Fuß des Hügels zu entziehen, fällt trotzdem schwer. Nach viel Hitze und viel Bier schaukelt sich die Stimmung auf dem Amphitheater ins Hysterische. Da kommen Stadionstampfer wie "Satisfaction" gerade recht. 1.000 Kehlen brüllen mit Martin aus Amsterdam "hey, hey, hey", das Heidekraut zittert, die liebeskummergeplagten Mädchen seufzen: "Wahnsinn".
Zwei Punks aus Israel befeuern die Stimmung mit billigen, selbst zusammengeschütteten Cocktails aus einem Handwagen. "Drink and sing", brüllen sie und trinken selbst. Der Kolumbianer, der zusammen mit seiner Mutter Maisfladen anbietet, freut sich über den einsetzenden Hunger der Alkoholkonsumenten. Eine Roma-Familie wiederum späht unter dem Schatten eines Baumes nach liegen gebliebenen Pfandflaschen, für Vater und Oma hat es bereits zu kühlen "Sternburg"-Bieren und einem Päckchen Zigaretten gereicht.
Als sich spätnachmittags der Flohmarkt seinem Ende nähert und die Hitze etwas nachlässt, spült es noch einmal eine Welle frischer Schaulustiger zu den vollbesetzten Steinstufen. Joe Hatchiban sieht nach drei Stunden immer noch kein bisschen erschöpft aus. Die Party geht weiter - bis alle ihren Auftritt hatten und die Kunde von der unglaublichen Freiluftparty auf dem ehemaligen Berliner Todesstreifen weitertragen nach Mariendorf, Amsterdam und Rio.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung