Mauerfall am 9. November 1989: Was wurde nur aus den Freudentränen?
35 Jahre nach dem Mauerfall trinkt niemand mehr Rotkäppchen auf die deutsche Einheit. 13 Gedanken zum sogenannten Einheitstaumel.
Die Jugendlichen in der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße stellen eine Frage immer wieder, wenn sie die Bilder vom Mauerfall sehen: Wieso weinen die Menschen auf den Fotos? Ich bin 1987 in der DDR geboren und habe, wie die fragenden Jugendlichen, keine eigene Erinnerung an den Mauerfall. Dennoch habe ich sofort eine Antwort.
Um die zu prüfen, stelle ich die Frage probehalber meiner Mutter. Sie schaut mich verwundert an, als hätte ich gefragt, wieso wir nicht auf dem Mond leben. Es gibt also zwei Fragen zu beantworten: Wieso die Menschen auf den Fotos weinen, und wieso das für die Nachgeborenen nicht selbsterklärend ist.
Erstens
Ich sehe mir die Aufnahmen nochmal an, sie erinnern mich an Bilder von Hochzeiten: innige Umarmungen, fliegende Sektkorken, lachende Gesichter. Dazwischen eher vereinzelt Tränen, die mir in ihrem Kontext aber eindeutig lesbar erscheinen. Na, es sind natürlich Freudentränen, sagt auch meine Mutter, als sie sich gefasst hat. Ehrlich gesagt stellt mich die Frage der Jugendlichen vor ein Rätsel.
Die Autorin ist Schriftstellerin. Im Februar erschien ihr Roman „Weltalltage“ (Kiepenheuer & Witsch).
Zweitens
Am Tag nach dem Mauerfall berichtet die Tagesschau, der Kurfürstendamm sei eine einzige Partyfläche: „So einen Taumel hat Berlin noch nicht erlebt.“ Das Gefühl dieser Zeit bekommt einen eigenen Namen: Einheitstaumel. Taumel bedeutet laut Duden a) Schwindel(gefühl), b) rauschhafter Gemütszustand, innere Erregung; Begeisterung, Überschwang.
Drittens
Vielleicht meint die Frage der Jugendlichen gar nicht, ob die Menschen vor Trauer oder Freude weinen. Das sieht man. Vielleicht meint die Frage eher, warum sich die Menschen so sehr freuen, dass sie weinen. Die Freude über den Mauerfall ist es, die 35 Jahre später nicht mehr selbsterklärend ist.
Viertens
Was wir Nachgeborenen als unmittelbaren Kontext zur Verfügung haben, ist eine Gegenwart, die Mauerfall und Einheit auf bestimmte Weise ritualisiert und tradiert. Die allherbstlichen Gedenkrituale sind eher bedrückter und staatstragender Art, der Bundespräsident hält seine Rede, der Jahresbericht stellt Mängel bei der Angleichung der Lebensverhältnisse fest.
Das bemängeln auch die Ostdeutschen selbst, es hat ihnen den Spitznamen Jammerossis eingebracht. Feierlich ist ihnen jedenfalls nicht zumute. Ich kenne niemanden, der auch nur die kleinste Tradition pflegt und zum Beispiel allherbstlich ein Gläschen Rotkäppchen trinkt. Keine Partystimmung nirgends.
Fünftens
Ich habe den Verdacht, dass die Frage eher westsozialisierte Jugendliche stellen. Wer am Küchentisch DDR-Geschichte erzählt bekommen hat, kann leichter vermuten, dass der Mauerfall ein emotionaler Moment gewesen ist. Dass die Jammerossis so überschwänglich und partylustig aussehen können, mag insbesondere für Besserwessis nicht ins Bild passen. Übrigens finde ich, dass Jammern und Besserwissen zu Unrecht einen so schlechten Ruf haben, aber das nur nebenbei bemerkt.
Sechstens
Was wir Nachgeborenen nicht zur Verfügung haben, ist zeithistorisches Kontextwissen. Wie jede Generation müssen wir uns die Vergangenheit erst erschließen. Um den Taumel zu verstehen, muss man sich klarmachen, was da zu Ende ging. Für die Generationen Erasmus und Jetset ist es vielleicht schwer vorstellbar, was Kalter Krieg und deutsche Teilung für das persönliche Leben bedeutet haben.
Dafür müssen Geschichten erzählt werden, zum Beispiel von der Ausreisehalle an der Friedrichstraße, in der Westverwandtschaft und Ausgebürgerte für ungewisse Zeit, oft für immer, verabschiedet wurden. Der Volksmund taufte sie Tränenpalast.
Siebtens
Um den Taumel zu verstehen, muss man sich auch klarmachen, wie unwahrscheinlich eine gewaltfreie Grenzöffnung war. Im Nachhinein tut die Historie ja immer so, als wäre ihr Ablauf logisch, zwingend, nahezu vorhersehbar. Aber als die Menschen im Herbst 89 in der DDR auf die Straße gingen, war der Ausgang völlig unklar. Das Attribut friedlich bekam die Revolution ja erst im Nachhinein, damals war die Angst groß, die Ordnungskräfte könnten den Aufstand genauso gewaltsam niederschlagen wie im Juni 1953 oder wie nur vier Monate zuvor auf dem Tian’anmen-Platz in Peking.
Mit der Losung „Wir sind ein Volk“ richteten sich die Demonstrierenden zunächst auch gar nicht an die Westdeutschen, sondern an die Volkspolizist*innen der DDR, es war ein Appell zur Gewaltfreiheit. An den Grenzanlagen waren in 28 Jahren 429 ihrer Landsleute bei Fluchtversuchen getötet worden. Am 9. November auf jene Mauer zu klettern, die Beziehungen und Menschenleben auf dem Gewissen hatte, ohne Gewalt zu befürchten, muss ein erhebender Moment gewesen sein. Vielleicht sind es gerade die Orte der Gewalt, an denen wir uns manchmal sehr lebendig fühlen.
Achtens
Wenn ich die Bilder des Mauerfalls sehe, denke ich auch an jene, die nicht darauf zu sehen sind und einen Taumel höchstens im Sinne der Wortbedeutung a) empfanden: ein Schwindelgefühl der bedrohlichen Art. Es sind jene nicht zu sehen, die ahnten, dass damit das Ende der DDR besiegelt war, denen es aber um Reformen gegangen war, nicht um die Abschaffung des Sozialismus. Auch in meiner Familie wird der 9. November 1989 eher mit einem Gefühl der Versteinerung verbunden. Auch nicht zu sehen sind jene, die ahnten, dass sie einer Zunahme rassistischer Gewalt ausgesetzt sein würden.
Neuntens
Es geht direkt richtig beschissen los mit der deutschen Einheit: In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 prügeln sich 1.500 bewaffnete Neonazis durchs frisch vereinte Deutschland. Angegriffen werden Vertragsarbeiter*innen, Persons of Colour, Linke und Hausbesetzer*innen. Die Einheit ist der Startschuss für eine Eskalation rechter Gewalt, die die nächsten Jahrzehnte prägt und bis heute fortwirkt.
Es ist auch eine Geschichte des Versagens von Polizei und Justiz, die die Nazis oft gewähren und straffrei davonkommen lassen. Die Angriffe werden als Einzelfälle betrachtet, die im Einheitstaumel passiert seien. Die gute Stimmung möchte man sich offenbar nicht von den Nazis kaputtmachen lassen, die also lediglich etwas einheitsduselig sind. Ganz nach dem Motto: Im Rausch und Überschwang der deutschen Einheit kann einem schon mal ein rechtes Parölchen aus dem Mund oder ein Baseballschläger aus der Hand rutschen.
Zehntens
Die Einheit löst nicht nur bei gewalttätigen Nazis patriotische Hochgefühle aus. Klaus Landowsky, Politiker der Berliner CDU, beschreibt die 90er als euphorische Entwicklung in einer patriotischen Stimmung. Und er macht auch klar, wer damit nicht gemeint war: „Natürlich gab es Prioritäten. Die patriotische Aufgabe war: Integration des Ostens, nicht die der zugewanderten Arbeitnehmer.“
Denn infolge der Vereinigung werden nicht nur die Ostdeutschen massenhaft erwerbslos. Im Westberliner Bezirk Kreuzberg steigt die Jugenderwerbslosigkeit in den 90ern stark, jeder zweite Jugendliche mit Migrationshintergrund ist dort erwerbslos. Die Wendeverlierer*innen im Westen sind ein weiteres unterbelichtetes Kapitel der deutschen Einheit. Es sind also nicht nur die Vertragsarbeiter*innen der DDR, sondern auch die Gastarbeiter*innen der alten BRD, ihre Kinder und alle Persons of Colour von der Einheitsparty ausgeladen.
Die Revolution verläuft friedlich, die ihr folgende deutsche Einheit nicht. Das Nichteingreifen der Ordnungskräfte ist im Herbst 89 ein großes Glück und danach eine andauernde Schande.
Elftens
Die Spur des freudentränenreichen Einheitstaumels führt also über ein patriotisches Hochgefühl zur rechtsextremen Gewalt der 90er und 00er Jahre bis in die Gegenwart zu den Erfolgen der AfD. Die Jugendlichen blicken aus einer Gegenwart auf die Fotos in der Gedenkstätte, die das unter dem Stichwort Baseballschlägerjahre seit wenigen Jahren erst in einer breiteren Öffentlichkeit aufarbeitet.
Wenn ich ihre Frage nicht als Verständnisfrage begreife, sondern als Infragestellung, dann haben sie vollkommen recht, dann ist fragwürdig für die Freudentränen sogar noch eine gelinde Formulierung. Und weil an dieser Stelle immer irgendjemand deutelt, ich wolle die DDR zurück, sei dazugesagt: Natürlich gelten die Freudentränen dem gewaltfreien Ende einer Diktatur – und das vollkommen zurecht. Es geht mir nicht darum, diese Freude infrage zu stellen, sondern den patriotischen Einheitstaumel, in den sie umschlug und der eine neue Stufe einer altbekannten Gewalt bedeutete.
Zwölftens
Wann immer man an einer ehemaligen innerdeutschen Grenze vorbeifährt, steht auf einer Tafel: „Hier waren Deutschland und die Welt geteilt.“ Der Mauerfall hat nicht nur Deutschland verändert, sondern die ganze Welt. Das ist eine oft gehörte Plattitüde, die meistens aber eine leere Worthülse bleibt. Die anhaltenden Ost-West-Diskussionen blicken selten über den deutsch-deutschen Tellerrand hinaus.
Der Blick in andere postsozialistische Staaten zeigt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion vielerorts mit Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden war. Aus dem Ende des Kalten Kriegs sind heiße Kriege entstanden. Mir scheint, dass es hierzulande erst seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zu dämmern beginnt, dass das 1989 ausgerufene Ende der Geschichte gar nicht das Ende der Geschichte war. 35 Jahre nach dem Mauerfall kommt uns die Euphorie von damals vielleicht auch deshalb fragwürdig vor, weil wir gerade erst zu verstehen beginnen, dass der Kalte Krieg weniger vorbei ist, als wir lange dachten.
Dreizehntens
Die Freudentränen von damals stehen heute im Kontrast zur Erinnerungskultur der Gegenwart, zur ihnen folgenden rechten Gewalt und zur Verlängerung der Dynamiken des Kalten Kriegs. Da erstaunt es wenig, dass die Kinder dieser Gegenwart den Einheitstaumel von damals kaum nachvollziehen können. Auch ich empfinde vor diesem Hintergrund das Gefühl, dass die Jahrestage von Mauerfall und Einheit eher eine erinnerungskulturelle und politische To-Do-Liste sind als ein Grund für Schulterklopfen und Sekt.
Neben der immer noch notwendigen Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West steht für mich ganz oben auf der To-Do-Liste, den Zusammenhang von Einheit und rechter Gewalt zu verstehen und der Perspektive jener einen Platz im Gedenken einzuräumen, für die die friedliche Revolution nicht friedlich blieb.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs