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Matthew Herbert Album „The Horse“Einen vom Pferd erzählen

Ewiger Konzeptkünstler: Der britische Elektronikproduzent Matthew Herbert hat sich für sein aktuelles Album „The Horse“ von Pferden inspirieren lassen.

Die Kunst der Geräusche hat Matthew Herbert schon bei Kampfjets erforscht, jetzt also mit Pferden Foto: Eva Vermandel

Als der italienische Maler Luigi Russolo vor mehr als 100 Jahren sein Manifest „Die Kunst der Geräusche“ veröffentlichte und in lärmenden Konzerten mit selbstgebauten Instrumenten umsetzte, waren weder Publikum noch Kritiker von seinem Ansatz überzeugt. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, so glaubte der Futurist, müssten die alltäglichen Klänge von Fahrzeugen, Maschinen, Menschen und gar Kriegsgeräten zu Kunst werden und die althergebrachte harmonische Musik ablösen.

Es sollte noch einige Jahre dauern, bis Russolos Ästhetik des Geräuschs und die Begeisterung für neue Technologien Komponisten der Avantgarde beeinflussen würden.

Als Spurenelement ist Russolos radikale Geräuschhaftigkeit auch in den Alben des englischen Produzenten und Komponisten Matthew Herbert hörbar. Seine Anfänge im britischen House der 1990er Jahre immer mehr hinter sich lassend, wurde zum Markenzeichen Herberts die musikalische Collage selbst aufgenommener und bearbeiteter Geräusche.

Und – eine weitere Verbindung – auch vom 51-jährigen britischen Künstler gibt es ein Manifest, in dem er die Nutzung bereits vorhandener Musik und vorprogrammierter Sounds ablehnt und damit der im Pop ubiquitären Kulturtechnik des Samplings eine Absage erteilt.

Das Album

Matthew Herbert & London Contemporary Orchestra: „The Horse“ (Modern Recordings/BMG)

„Matthew Herbert’s Revolution“

Im Dokumentarfilm „A Symphony of Noise – Matthew Herbert’s Revolution“ kann man ihm bei der Puzzlearbeit zuschauen. Im Wald, unter Wasser, in der Fish-und-Chips-Braterei zeichnet er Unmengen an Aufnahmen auf, die im Studio dann von ihm zu Musik ausgearbeitet werden. Was in der eigenen Küche („Around the House“, 1998) und nah am menschlichen Körper begann („Bodily Functions“, 2001), wurde von Matthew Herbert ab Mitte der Nullerjahre zunehmend politisch aufgeladen. [438568]

Als wenig subtile Kritik an Massentierhaltung, Krieg und industrieller Massenproduktion verwendete der Brite für Konzeptalben etwa Fieldrecordings getöteter Küken („Plat du Jour“, 2005), eines libyschen Kampfjets beim Abwurf einer Bombe („The End of Silence“, 2013) und der Schlachtung eines Schweins („One Pig“, 2011).

Nun hat Herbert mit dem London Contemporary Orchestra ein neues Album eingespielt. Wer sich in der Diskografie des Produzenten auskennt, ahnt schon, die Klangquelle für „The Horse“ ist ein echtes Pferd. Ein vom Künstler online erstandenes Pferdeskelett wurde für die Aufnahmen zu Pfeifen, Flöten, Streichbögen und perkussiven Instrumenten verarbeitet und diente auch im übertragenen Sinn als inhaltliche Inspiration.

Geräusch mit Rennpferdsamen

Tausende Pferdegeräusche aus dem Internet, mit Pferdehaut bespannte Trommeln und ein extra hergestellter Shaker, gefüllt mit dem Samen eines Rennpferdes, sind laut Pressetext zu hören.

Nun ist es leicht, sich über Matthew Herberts betont verschrobene und zugleich dogmatisch daherkommende Sammelwut und Arbeitsethik lustig zu machen. Jedenfalls, seine bewährte Methode, an der verschwommenen Linie zwischen notwendiger Drastik und voyeuristisch angehauchtem Populismus entlangzukomponieren, funktioniert auch auf „The Horse“.

Ob der Samenshaker dafür notwendig war, oder ob Herbert wirklich an genau der Stelle Aufnahmen machen musste, an der die Sufragette Emily Davidson 1913 von einem Rennpferd der britischen Royals tödlich verletzt wurde? Die Frage ist müßig, Herbert vertraut ohnehin auf seine selbstverordnete Glaubwürdigkeit, bleibt auf seinem neuen Album aber stets sanfter Chronist einer von Geistern bewohnten Welt.

Ein bisschen Grusel schwingt zwar mit, aber „The Horse“ tut beim Hören auch dann nicht weh, wenn man sich fragt, ob gerade die über das Pferdebecken gespannte Darmsaite des Online-Skeletts erklingt oder ein anderes Streichinstrument. Dramaturgisch erinnert „The Horse“ wiederum an Russolos im Manifest „Die Kunst der Geräusche“ skizzierte Geschichte der Musik.

Erklingt da die über das Pferdebecken gespannte Darmsaite des Pferdeskeletts? Etwas Grusel schwingt mit

Nonstop-Lärmkulisse

Der Italiener lässt sie in der stillen Natur beginnen und sich über Einzelgeräusche, später Instrumente und Polyphonie entwickeln, bis sie schließlich in der Nonstop-Lärmkulisse des industriellen Zeitalters mündet.

„The Horse’s Bones Are In A Cave“, der Auftakt von „The Horse“, klappert und raschelt, bis sich einzelne heisere Flöten zu einem ekstatischen Trillern steigern. Über das Sound­scape „The Horse’s Hair and Skin Are Stretched“ bis hin zum klimpernden „The Horse’s Pelvis is A Lyre“ wird entlang des sezierten Pferdekörpers eine historische Entwicklung vom Geräuschhaften hin zur Musik vollzogen.

Es ist auch die charmant sachliche Benennung der Titel, die „The Horse“ weniger skandalanfällig macht als das artverwandte „One Pig“, denn seine Verweise auf die ritualistischen Ursprünge von Musik erscheinen weniger als politische Geste denn als nachvollziehbarer Ideen­geber für ein abwechslungsreiches, in Klangvielfalt schwelgendes Album.

London Contemporary Orchestra

Hochkarätige Gäste, darunter die britischen Jazzmusiker Shabaka Hutchings, Evan Parker und Theon Cross, tragen zu dieser Vielschichtigkeit bei. Für die Orchesterarrangements arbeitete Herbert mit dem für seine Zusammenarbeit mit Bands wie Radiohead bekannten London Contemporary Orchestra. Spätestens beim fünften Stück, dem Desertblues „The Horse Is Prepared“, kippt die Atmosphäre vom Geräuschhaften ins Musikalische.

Simple Loops werden zu Beats und die zunehmend verhallter werdenden Klänge lassen das titelgebende Pferd in den Hintergrund rücken. Mit „The Horse is Put to Work“ und „The Rider (Not The Horse“) kehrt Herbert an seine Anfänge als Dancefloorproduzent zurück.

Letzterer ist ein fluffiger Dance-Track, der Herberts Erfahrungen als vielbeschäftigter Remixer voll ausspielt. Die Kombination aus klassischen und elektronischen Elementen ist charakteristisch für Herberts Stil und stellt den gut gelaunten, überraschend unverkopften Höhepunkt des Albums dar, ehe das Pferd sich seinen weniger harmonisch klingenden Abgründen stellen muss.

Etwas brav geraten sind in diesem abschließenden Kapitel die Ausflüge in die zeitgenössische Klassik. „The Truck That Follows The Horses“ und das stakkatohafte „The Horse Remembers“ verlieren sich in hallgetränkter Wiederholung und gewollter Dramatik. Wenn das London Contemporary Orchestra hingegen sperriger aufspielt, ergeben sich jene spannenden Reibungen aus Geräusch und Musik, denen Matthew Herbert auf „The Horse“ nachspürt.

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