Massenproteste gegen „Agentengesetz“: Georgischer Alptraum
Die antiwestliche Regierung in Tbilissi geht brutal gegen Protestierende vor. Die Menschen kämpfen um nichts weniger als um ihre Freiheit.
E in Mann liegt auf dem Boden vor dem Parlamentsgebäude in der Rustaveli-Avenue im Zentrum der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Er ist groß und stämmig. Sein rechtes Auge ist blau und geschwollen. Er blutet. Sein Name, wie sich später herausstellt: Guram Adamija, wohnhaft im Altstadtviertel Vera mit seinem Hund Freij. Adamija bewegt sich nicht mehr.
Bereits seit fast zwei Monaten ist die Südkaukasusrepublik Georgien Schauplatz einer gnadenlosen Konfrontation zwischen Sicherheitskräften und Demonstrant*innen. Die Polizei setzt Pfefferspray und Wasserwerfer ein. Sie prügelt wie enthemmt auf Menschen ein, die friedlich demonstrieren. Diese Taktik vergleichen viele mit autoritären Methoden, die an Moskau erinnern, und nicht an ein Land, das, wie Georgien, der EU beitreten will.
Tag für Tag gehen Tausende Georgier*innen auf die Straßen, auf dem Höhepunkt der Proteste waren es schätzungsweise bis zu 150.000. Sie machen sich von unterschiedlichen Stadtteilen in Tbilissi aus auf den Weg – vereint in ihrem Widerstand gegen ein Gesetz über „ausländische Agenten“. Dieses ist für sie gleichbedeutend mit dem Anfang vom Ende der Demokratie und Freiheit in Georgien.
Das Gesetz – ein Instrument, um Andersdenkende zu unterdrücken und Georgien in eine Autokratie russischen Typs zu verwandeln – hat eine Welle der Empörung ausgelöst, die es so lange nicht gegeben hat. Dieses Gesetz hat Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten mobilisiert, die alle ein und dasselbe Ziel haben: ihre Demokratie, ihre Chance auf eine Zukunft in Freiheit, zu schützen.
Auf die Regierungspartei Georgischer Traum, die seit 2012 an der Macht ist, scheinen die Massenproteste im Land und die eindrücklichen Warnungen westlicher Verbündeter allerdings bisher keinen Eindruck zu machen. In der vergangenen Woche wurde das „Agentengesetz“ in dritter und letzter Lesung durchs Parlament gepeitscht.
Es sind immer wieder die gleichen Bilder, die in diesen Tagen durch die Medien gehen: Tausende Demonstrant*innen umringen das Parlamentsgebäude. Die Situation eskaliert, wenn eine Kette schwarz gekleideter Polizisten sie zurückdrängt. Die Sicherheitskräfte gehen auf die Menschen los und kesseln sie ein.
Guram Adamija meldet sich am Telefon. Er nehme nicht oft an Kundgebungen teil. Doch jetzt fühle er sich verpflichtet, jeden Tag dabei zu sein. Denn auch nach der Verabschiedung des Gesetzes kommen die Proteste nicht zur Ruhe: Beinahe täglich kommen Menschen, mal sind es nur eine Handvoll, mal Tausende, auf zwei zentralen Plätzen in der Hauptstadt zusammen. Eine Magistrale verbindet diese beiden Plätze, in der Mitte befindet sich das Parlamentsgebäude, wo sich die Menschen dann sammeln.
Adamija erinnert sich daran, wie er am Rande eines Protests von der Polizei misshandelt wurde. „Zehn Männer schlugen mir ins Gesicht, auf die Nase und den Oberkörper – dahin, wo die Leber ist. Dann drehten sie mich auf den Bauch und stellten ihre Füße auf meinen Rücken. Ich glaube, dass ich wohl einige Male das Bewusstsein verloren haben muss, denn an viele Dinge kann ich mich nur noch vage erinnern“, sagt Adamija. „Als mir klar wurde, dass ich in der Lache meines eigenen Blutes saß, schoss mir kurzzeitig der Gedanke durch den Kopf, dass sie mich umbringen könnten. Das sind russische faschistische Methoden“, sagt er.
Adamija hat schwere Verletzungen im Gesicht und am Rücken erlitten. Trotz einer Empfehlung seines Arztes, sich ein wenig auszuruhen, hat er sich entschieden, so bald wie möglich wieder zu demonstrieren. Warum? Aus Wut auf Russland. „Die Russen waren hier immer omnipräsent“, sagt er.
Der 40-Jährige ist IT-Spezialist und ein Flüchtling aus Abchasien. Der von Tbilissi abtrünnigen Region kehrte er während des Krieges in den 90er Jahren den Rücken und ließ sich in der Hauptstadt nieder. Damals standen sich von Russland unterstützte Separatisten und georgische Truppen gegenüber. Da ein Teil seiner Familie aus der Republik Moldau stammt, kam er auch mit dem Konflikt in Transnistrien in Berührung. Der Krieg 2008 zwischen Russland und Georgien um die Region Südossetien bestärkte ihn in seiner ablehnenden Haltung gegenüber Moskau. „Die Russen waren hier immer omnipräsent“, sagt er.
Anrufe von unbekannten Nummern
Seine Abneigung gegenüber Russland teilen hier viele. Und sie zahlen dafür einen Preis. Die Demonstrant*innen, die gegen die Politik der Regierung aufbegehren, werden dabei nicht nur Opfer physischer Gewalt. Belästigungen durch Drohanrufe von unbekannten Nummern sind an der Tagesordnung. In der Nähe von den Häusern einiger Aktivist*innen hängen Plakate, die die Bewohner*innen als Agent*innen und Verräter*innen verunglimpfen. Die Behörden, die Polizei, schreitet nicht ein.
Und doch: Weder die Einschüchterungsversuche durch die Regierungspartei noch die Verabschiedung des Gesetzes hat die Menschen bisher entmutigt. Auch Eto Arsanidze steht bei den Protesten vor dem Parlament. Die junge Frau mit kurzen, rosa gefärbten Haaren, in Turnschuhen und Jeans, trägt ein Sweatshirt mit der Aufschrift: „Wir retten den Wald von Ratscha.“ Sie gehört zu einer Gruppe von Aktivist*innen, die sich gegen die Abholzung eines Waldes engagieren. Er befindet sich in Swanetien – einer der ärmeren Regionen Georgiens. Eto kümmert sich dort auch um Workshops zum Thema Menschenrechte, die sich speziell an Jugendliche und Frauen wenden.
Arsanidze sagt, sie sei bereits mehrmals unter Druck gesetzt worden, weil sie sich öffentlich gegen Korruption in der örtlichen Verwaltung ausgesprochen habe. „Das Agenten-Gesetz ist ein Instrument, um Kritiker*innen zum Schweigen zu bringen. Das alles führt zu einer Situation wie in Belarus, wo kritische Meinungen unterdrückt werden. Aber das werden wir nicht zulassen“, sagt die 35-Jährige, die extra nach Tbilissi gekommen ist, um bei den Protesten dabei zu sein.
An der Spitze dieser Bewegung stehen aufgebrachte junge Georgier*innen, ihre Waffen sind Pfefferspray und eine unerschütterliche Entschlossenheit. Sie alle sind Vertreter*innen der Generation Z, die, in den 90ern und nuller Jahren geboren, zu einem echten Machtfaktor in der georgischen Politik geworden sind. Liberale NGOs und Online-Medien, die in der Regel auf westliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind, sind für viele junge Menschen in Georgien die Hauptinformationsquelle und spielen eine Schlüsselrolle bei der Meinungsbildung. Angesichts eines tief sitzenden Misstrauens gegenüber der politischen Elite befürworten sie einen dezentralen Ansatz und lehnen daher die Idee eines Anführers oder einer Anführerin der Proteste ab. „Wir sind Georgien!“, „Georgien gehört uns“!, skandieren sie bei den täglichen Protestmärschen.
Die jungen Leute sind anpassungsfähig, kreativ und gut gerüstet, um den Taktiken und dem Tränengas der Polizei etwas entgegenzusetzen. Gegen das Gas haben sie Gegenmittel dabei, das dessen Wirkung mildert.
Wenn keine Polizeikräfte in unmittelbarer Nähe sind, wird auf den Protesten gesungen, traditionelles georgisches Liedgut; oder der Khorumi erklingt – ein georgischer Kriegstanz, der aus der südwestlichen Region Gurien/Adscharien stammt. Sogar Techno ist zu hören, der in Tbilissis Musikszene gerade recht populär ist.
„Unsere Kinder wissen schon lange um die Nöte und Probleme Georgiens. Und eines Tages sind diese jungen Leute aufgewacht. Damals war ich sehr glücklich, aber als sie dann geschlagen wurden, hat mich das sehr wütend gemacht“, erzählt Lado Abchasawa der taz am Rande eines Protests. Abchasawa ist ein berühmter Pädagoge und Träger einer wichtigen georgischen Auszeichnung für Lehrkräfte. Er hat sich auf dem Ersten-Republik-Platz am westlichen Ende der Rustaveli-Avenue eingefunden, in deren Mitte das Parlamentsgebäude liegt.
Vor wenigen Stunden, erzählt Abchasawa, habe er um sein Leben gefürchtet. Irgendwelche „Banditen“ hätten versucht, ihn mit einem Baseballschläger zu attackieren, aber er habe dem Angriff gerade noch einmal entkommen können. „Wir haben keine Angst, im Gegenteil. Das spornt uns nur noch mehr an“, sagt er und zeigt auf eine Gruppe von Lehrer*innen, die hinter ihm stehen und ein großes Transparent in die Höhe halten. Darauf steht: „Lehrer*innen für eine demokratische Zukunft!“
Abchasawa sagt, dass die Lehrkräfte schon lange auf diese Proteste gewartet hätten, denn sie brächten Kindern bei, was eine Demokratie sei und was Meinungsfreiheit sowie faire Wahlen bedeuteten. Und offensichtlich hätten ihre Bemühungen in jüngster Zeit ja Früchte getragen: Zehntausende junge Menschen seien schließlich auf die Straße gegangen, um sich für ihre Rechte einzusetzen, für die Freiheit, selbst zu entscheiden, auch über die Zukunft ihres Landes.
Nur einige Meter von den Lehrer*innen entfernt beobachtet Mariam Rigvava das Geschehen. Die Videofilmerin mit gepierctem Nasenflügel und kurzem, gelockten schwarzem Haar scheint schier überwältigt zu sein. „Ich hatte noch nie ein solches Gefühl des Zusammenhalts. Das ist etwas ganz Einzigartiges und Beispielloses“, sagt die 22-Jährige.
Mariam hat bereits in ihrer Schulzeit häufig an Protesten teilgenommen, aber eine solche allgemeine aufgeladene Stimmung habe sie noch nie erlebt. „Ich verstehe, dass es in diesem Spiel auf Ausdauer ankommt. Je häufiger ich auf die Straße gehe, desto näher komme ich meinem Ziel. Was mich stärker macht, ist der Umstand, dass ich nicht allein bin und Hundertausende Menschen an meiner Seite stehen“, sagt sie.
Doch die Musik spielt derzeit nicht nur auf der Straße. Auch soziale Medien sind zu einem zentralen Anlaufpunkt geworden, um Unterstützung für die Protestierenden zu organisieren. Die Facebook-Gruppe HOST mit bis zu 190.000 Mitgliedern bietet Unterkünfte und Hilfe aller Art an. „Gestern wurden meine Freundin und ich in Tbilissi von einer sehr netten jungen Frau beherbergt“, schreibt ein Nutzer. „Wir konnten bei ihr duschen und sie gab uns saubere Kleidung. Am Morgen fanden wir einen Brief auf dem Tisch: „Ich habe die Kleinen in den Kindergarten gebracht und eure Kleidung ist gewaschen.“ Am Morgen machte sie dann noch Chachapuri (georgisches, mit Käse gefülltes Brot, Anm. d. Red.) für uns. Ich liebe Sie, Ma'am.“
Einige leisten ihren Beitrag, indem sie Transportmöglichkeiten oder Kinderbetreuung anbieten. „Ich werde Ihrem Sohn genauso viel Aufmerksamkeit schenken wie meinem eigenen“, schreibt jemand. „Wir werden spielen, Bücher lesen, Musik hören, tanzen und singen.“
Georgier*innen, die im Ausland leben, fragen, wohin sie Geld überweisen können. Diese Mittel werden für Dinge verwendet, die jetzt am nötigsten gebraucht werden. Der Admin einer Gruppe schreibt: „Wir haben 10.000 Regenmäntel, Atemschutzgeräte und Trinkwasserflaschen sowie 1.000 Decken, 150 professionelle Masken und 2.000 Schutzbrillen gekauft.“
Einen Teil davon verteilen Freiwillige gerade vor dem Parlament an Protestierende: Lebensmittel, Wasser, Süßigkeiten, Schutzausrüstungen und Regenmäntel.
Die Freiwilligen machen sich auch anderweitig nützlich. Sie leisten Verletzten Erste Hilfe, bringen sie zu Krankenwagen und stellen ihre Fahrzeuge großzügig denjenigen zur Verfügung, die bis spät in die Nacht bleiben. Sie backen Kuchen für Demonstrationen und sammeln bei Kundgebungen den Müll ein, um sicherzustellen, dass das Gelände sauber bleibt.
Ketewan Karkaschadze und ihre Freund*innen versorgen Teilnehmer*innen der Kundgebungen mit georgischen Lobiani-Bohnenkuchen. Die 19-Jährige hat mit einem Stipendium der Europäischen Union ein privates Gymnasium in Tbilissi absolviert und studiert seit zwei Jahren Jura in New York. Ketevan ist eigens aus den USA angereist, um an den Demonstrationen teilzunehmen. „Ich nehme das alles sehr persönlich, weil es mich und mein Leben betrifft. Ich möchte einfach, dass alle um mich herum die gleichen Möglichkeiten haben wie ich, das heißt, die Chance auf westliche Bildung zu bekommen und etwas über demokratische Werte zu lernen. Dafür stehen wir hier und dafür kämpfen wir“, sagt sie.
Der Ausgang der Machtprobe: ungewiss
Während sich die politische Pattsituation zwischen der georgischen Regierung und den Protestierenden verschärft, bleibt der Ausgang dieser Machtprobe ungewiss. Trotz der Verabschiedung des „Agenten“-Gesetzes, trotz Drohungen, Einschüchterungsversuchen und Polizeibrutalität leisten viele Georgier*innen weiterhin Widerstand und sind bereit, den Kampf fortzusetzen.
Wie Luka Potschchua, ein 18-jähriger Student. Er geht oft mit seinem Vater, dem 47-jährigen Batscho, zu den Demos. Luka hat sich eine georgische Flagge über die Schultern gehängt, sein Vater hat eine EU-Flagge dabei. Beide sind mit Gasmasken ausgestattet und auf einen möglichen Polizeieingriff vorbereitet. „Anfangs waren wir nur gegen das Gesetz, jetzt sind wir gegen die Regierung. Wir werden diese Gewalt nicht dulden“, sagt Luka. Und sein Vater ergänzt: „Dieser Protest ist eine ganz natürliche Reaktion. Doch „Agenten-Gesetz“ hin oder her, der Georgische Traum wird verlieren.“
Besser protestieren als schweigen
Andere sind da wesentlich pessimistischer. Es ist offensichtlich, dass die Regierung unsere Proteste ignoriert“, sagt die 29-jährige Lika, die sich unter einem Schirm vor dem Regen zu schützen versucht. „Aber es ist besser zu protestieren, solange wir das noch können, als zu schweigen.“
Ende Oktober stehen Parlamentswahlen an. Es gibt, zumal unter den Protestierenden, eine Mehrheit für eine Koalitionsregierung aus prowestlichen Kräften. Kritiker*innen argumentieren jedoch, dass die Garantien für freie und faire Wahlen erheblich eingeschränkt werden, wenn das Gesetz über ausländische „Agenten“ tatsächlich in Kraft tritt. „Meiner Meinung nach wird das definitiv zu einer Konfrontation führen, denn weder die Regierung noch das Volk werden nachgeben“, sagt Lika.
Dass die Auseinandersetzungen noch härter werden könnten, glaubt auch Guram Adamija. Deren Ergebnis sei für ihn jedoch zweitrangig. „Ich weiß nur, dass ich meine Position vertreten werde und dafür tun muss, was ich kann. Dann kommt es eben, wie es kommt. Zumindest werde ich wissen, dass ich versucht habe, alles zu tun“, sagt Guram Adamija.
Für den kommenden Freitag sind erneut Demonstrationen in Tbilissi angekündigt. Adamija will wieder dabei sein.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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