Martin Schulz auf dem Kirchentag: Gottloser Gottkanzler
Kann der nichtgläubige SPD-Kanzlerkandidat Christen begeistern? Das Diskussionsthema auf dem Kirchentag lautet ausgerechnet: Glaubwürdigkeit.
Wahlniederlagen und sinkende Umfragewerte: Der Heiligenschein des vermeintlichen „Messias der SPD“ hat seinen Glanz verloren. Selbst die Präsentation des Wahlkampfprogramms geriet zu einem einzigen Desaster. Martin Schulz hat es nicht leicht dieser Tage. Jetzt auch noch ein Auftritt auf dem Evangelischen Kirchentag. Seine Konkurrentin ums Kanzleramt hatte zehntausende Zuschauer, Barack Obama und das Brandenburger Tor. Der Sozialdemokrat, den Anfang des Jahres ein Guerilla-Wahlkampf zum „Gottkanzler“ kürte, spricht mit dem Soziologen Armin Nassehi im Berliner Dom.
Immerhin sind ein paar Medien da. Sechs Fernsehkameras fangen Bewegtbilder ein. Links vor der Bühne übersetzt eine Frau in Gebärdensprache. 1.400 Menschen finden auf den Kirchenbänken Platz. Hunderte stehen zudem vor verschlossenen Türen und hören über Lautsprecher, was Schulz zu sagen hat. Unter ihnen das Ehepaar Duwe-Wähler aus Oldenburg. Beide können sich vorstellen SPD zu machen. „Doch bisher ist er einfach zu farblos.“ Am Donnerstag waren sie schon bei Obama und der Kanzlerin. „Da hat mich Merkel schon beeindruckt. Sie wirkte glaubwürdig“, sagt Birgitte Duwe-Wähler.
Glaubwürdigkeit ist das Thema der Diskussion am Freitag. Immer wieder kommen Schulz und Nassehi auf den Begriff des Vertrauens zu sprechen. Auch wenn die Moderatorin nicht müde wird zu betonen, dass „das hier keine Wahlkampfveranstaltung wird“, lässt sich Schulz die Chance nicht entgehen. Den Themenblock Religion umschifft er gekonnt. „Nicht nur bin ich kein Lutheraner, ich bin ein passiver Katholik“, sagt er. Wenige Jahre zuvor hatte er sich noch zum Atheismus bekannt. 2014 forderte er als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokratie die Verbannung christlicher Symbole von öffentlichen Orten. Die Christdemokraten konnten ihr Glück kaum fassen und warnten vor dem „Kreuz-Zug“ des Kandidaten. Und das im Endspurt des Europawahlkampfs.
Schulz hat aus diesem Fehler gelernt. Sein Vortrag gleicht einem Plädoyer für Toleranz und ein „neues Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Politikern“. Er will in den Wahlkampf ziehen und auch bei Christen für „die europäische Idee werben“. Zu gern würde er auf den Zug von Pulse of Europe aufspringen, das wird an diesem Freitag deutlich. Seine Rede ist eine Absage an den Populismus. Scharf kritisiert er Trump. „Ein Präsident der USA kann nicht wie gestern in Brüssel im Stile eines autokratischen Herrschers auftreten.“
„Mir ist nicht bange um die Zukunft“
Schulz wirkt gut vorbereitet, klagt etwa über „Drohnenbomben, die ohne parlamentarische Kontrolle über einer Hochzeitsfeier abgeworfen werden“. Das kommt gut an auf dem Kirchentag.
Die Sommersolidarität der deutschen Flüchtlingshelfer bezeichnet er gemeinsam mit dem Mauerfall als „Leuchttürme der Geschichte“. Auch in der anschließenden Zuschauerdebatte – die Gäste konnten ihre Fragen vorab einreichen – ist er stets souverän. „Mir ist nicht bange um die Zukunft, auch wenn ein Teil des Vertrauens verlorenen gegangen ist. Man kann es aber zurückgewinnen“, sagt Schulz.
Auch in diesem Jahr hat die taz Panterstiftung junge NachwuchsjournalistInnen eingeladen. Sie werden für uns und für Sie auf täglich vier Sonderseiten sowie bei taz.de aus Berlin berichten. Mit unverstelltem Blick, stets neugierig und das Geschehen ernstnehmend. Das Team besteht aus: Korede Amojo, Malina Günzel, David Gutensohn, Edda Kruse Rosset, Lara Kühnle, Sami Rauscher, Tasnim Rödder und Linda Rustemeier. Unterstützend mitwirken werden die taz-Redakteure Philipp Gessler und Susanne Memarnia. Die redaktionelle Leitung übernehmen die taz-Redakteure Annabelle Seubert und Paul Wrusch.
Die taz ist zudem mit eigenen Ständen auf dem Kirchentag vertreten.
In den nächsten Monaten wird er viel Zeit mit dieser Aufgabe verbringen. Bei Jonas Einck hat er gute Karten. Er ist Düsseldorfer, 17 Jahre und Juso-Mitglied. Er sticht aus der Masse heraus, trägt grün gefärbte Haare, Antifa- und Anti-Atomkraft-Sticker und einen schwarzen Pullover mit der Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“. Ob er als Erstwähler deshalb automatisch für Schulz stimmen wird? „Nicht unbedingt. Schulz ist bisher zu farblos für mich. Ich kann mir genauso vorstellen, linker zu wählen“, sagt er.
Am Ende wird das Programm entscheiden. Seine Begleiter, ein 15-jähriger Schüler und ein Sozialarbeiter nicken zustimmend. Auch das Ehepaar Duwe-Wähler ist nach der Veranstaltung im Berliner Dom gespannt auf „die tatsächlichen Inhalte“. Ein solider Auftritt auf dem Kirchentag wird nicht ausreichen, um sie zu begeistern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau