Marokkos Erfolg bei der WM: Vielstimmiger Stolz

Gegen Frankreich könnte Marokko sensationell ins WM-Finale einziehen. Aus Europa gab es schnell politische Narrative, vor Ort sind sie diverser.

Das marokkanische Nationalteam jubelt auf dem Platz vor der Fankurve

Ein Team, viele Interpretationen: Die marokkanische Nationalelf beim Jubel Foto: imago

Am Abend des Einzugs ins Halbfinale sind die Straßen von Marrakesch in ein einziges Rot gehüllt. Pyrofackeln, Raketen, rot leuchtende Gebäude, während sich ein Meer rotgewandeter Menschen in den Ausnahmezustand tanzt. Ein Land rastet aus; selbst Fischer auf dem Meer tanzen mit Nationalflagge.

Die Geschichte Marokkos, das nun in ein WM-Finale einziehen könnte, gilt als Märchen dieses Turniers. Aber zugleich ist es eines, für das deutsche Be­ob­ach­te­r:in­nen schnell Narrative gefunden hatten. Panarabismus, Antisemitismus oder postkolonialer Widerstand, nachdem die Ex-Kolonialmächte Belgien, Spanien, Portugal – und jetzt vielleicht Frankreich – unterlagen. Zumeist friedliche Exil-Feiern wurden als Krawalle geframt. Doch was lesen Menschen vor Ort in die Geschichte?

Youssef ist dort gewesen, in Marrakesch auf dem Hauptplatz Djemaa el Fna beim Public Viewing. Er lebt in einem Dorf am Rand des Atlas-Gebirges, die Reise nach Marrakesch war etwas Besonderes. In die Großstadt, wo alle gemeinsam gucken; nicht wie in seinem Heimatdorf, wo nur die Männer im Café schauen dürfen und die Frauen am Radio hören.

Story der politischen Vereinigung

Youssef ist noch Schüler. Und wie so viele Marokkaner träumt er davon, es eines Tages nach Europa zu schaffen. Anders als viele seiner Freunde, die illegal flüchten, hofft er auf den teuren legalen Bildungsweg: Neben der Schule arbeitet Youssef auf dem Bau oder als Erntehelfer. Er gehört zu einer desillusionierten Generation, die sich hier nichts mehr erwartet. Aber der Erfolg Marokkos beim Turnier macht ihn überglücklich.

„Für mich ist es einfach Staunen und Gänsehaut und Freude und Tränen.“ Eine panarabische Botschaft oder einen politischen Sieg aber feiert er nicht, im Gegenteil. „Wir lieben das Land, aber nicht die Politik. Wir lieben Marokko, aber nicht, darin zu leben. In den arabischen Staaten dienen die Politiker nur sich selbst, nicht den Bürgern, nicht wie in Europa.“ Der Sieg gegen Ex-Kolonialmächte taugt ihm ebenso wenig als Narrativ, davon rede hier niemand.

„Wir sehen das als schwarzes Zeitalter. Wir haben es hinter uns gelassen und wollen unsere Träume erfüllen.“ Youssef schaut nach vorn. Die vielen marokkanischen Spieler, die in Europa aufwuchsen, sind für ihn Symptom seiner Analyse. „Wären sie in Marokko aufgewachsen, wären sie jetzt nicht dort, wo sie sind. Hier unterstützt niemand die Jugend.“ Er tippt auf einen Sieg gegen Frankreich, auch wenn er fürchtet, dass sie verlieren.

Auch Mohammed räumt Marokko nur Außenseiterchancen ein, aber seine Deutung der Ereignisse ist eine völlig andere. Mohammed lebt in Marrakesch, stammt aus einem Ort in der Wüstenprovinz Erachidia und betreibt die Touareg Morocco Tours. In der Tourismusbranche hatte er es zuletzt schwer wegen der Pandemie, einen früheren Job verlor er. „Niemand hat mit diesem Erfolg gerechnet“, sagt Mohammed. Für ihn ist er eine große Story der politischen Vereinigung. „Wir haben dafür gesorgt, dass die Herzen der Afrikaner und Araber als eines schlagen, und die arabischen Muslime vereint, sodass sie die angespannten Beziehungen der Vergangenheit überwunden haben.“

Auch Katar als Ausrichter spielt für ihn eine wichtige Rolle. „Dieses Turnier verbreitet die Wahrheit des Islam, und ich bin sehr glücklich, was Katar dafür getan hat.“ Für Mohammed ist das Turnier ein panarabischer, panislamischer Aufbruch. Das Thema Kolonialmacht sei dagegen nicht wichtig hier. Und überhaupt habe Frankreich doch auch eine Menge Gutes getan.

Innere Teilhabe

Und dann gibt es noch die, für die die WM eine innere Teilhabe ist. Noureddine stammt aus einem kleinen Wüstenort nahe der algerischen Grenze, seine Vorfahren waren No­ma­d:in­nen beidseits der Grenze. Er gehört zur diskriminierten Minderheit der Imazighen. Aktuell hat er keine Arbeit. Er schlägt sich in verschiedenen Städten mit Gelegenheitsjobs durch. Auch Noureddine sieht eine Zukunft nur in Europa, aber der einzige Weg für ihn dorthin wäre wohl der illegale. Die WM verfolgt er wie fast alle Männer in den Cafés, und über den Erfolg ist er sehr stolz.

„Er bedeutet mir viel. Jetzt kennt uns die ganze Welt. Und wir zeigen ihnen, dass wir Helden haben, und machen Afrika stolz.“ Er nennt Afrika zuerst. Noureddine, der sonst sagt, er fühle sich zuerst als Amazigh, dann als Marokkaner, findet den Erfolg so wichtig wie alle anderen. Das Team sei bunt. „Es sind viele Imazighen im Team, auch der Trainer. Aber sie spielen für Marokko, wir sind jetzt Marokkaner.“ Er ist sich sicher, dass Marokko ins Finale einzieht, nach einem 2:0-Sieg.

Marokkos Triumph ist entgegen der äußeren Wahrnehmung nicht eine Geschichte, sondern vereint viele verschiedene Erzählungen. Zumindest für den Moment.

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