Marokko: "Der Islam schafft Solidarität"
Mit der Demokratisierung der arabischen Welt wird es schnell gehen, meint die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi. Grund dafür ist die Medienrevolution in der Region.
taz: Frau Mernissi, bei den Wahlen in Marokko ist jüngst eine deutliche Mehrheit zu Hause geblieben. Warum?
Fatima Mernissi: Die Marokkaner sind nicht zur Wahl gegangen, weil sie es mit 30 verschiedenen Parteien zu tun hatten, die ihnen wie eine Ansammlung von Kleinunternehmen mit mafiosen Geschäftsinteressen vorkamen. Diesen Politikern fehlt jede Vision. Aber die Jugend, die heute die Mehrheit der Bevölkerung stellt, ist gut informiert und medienkompetent: Sie will Ergebnisse sehen.
Ist das nicht auch eine Absage an den König, der letztlich die Macht hält? Die islamistische Opposition verlangt, Marokko solle in eine Republik verwandelt werden
Der König ist ein Symbol für die Einheit des Landes. Marokko als einheitlichen Staat gibt es ja erst seit der französischen Kolonialzeit. Niemand will diese Einheit zerstören, doch dem König sollte künftig nur noch eine symbolische Rolle zukommen. Ergebnis wäre eine konstitutionelle Monarchie, so wie in Spanien oder Großbritannien.
Wer steht für einen demokratischen Wandel ein?
Ich denke, dass in der arabischen Welt gerade eine Revolution stattfindet, und das liegt an den Medien. Die digitale Revolution hat bislang 200 panarabische Satellitensender hervorgebracht und den Konsumenten sehr mündig gemacht. Das ist der Grund, warum ich glaube, dass es mit der Demokratisierung der arabischen Welt letztlich sehr schnell gehen wird: weil wir eine Demokratisierung von unten erleben. Was wir jetzt in Marokko gesehen haben, wird sich bald anderswo wiederholen, den Iran eingeschlossen.
Besitzen die autoritären Regimes in der arabischen Welt denn nicht eine erstaunliche Beharrungskraft?
Der Westen versteht nicht, was bei uns im Moment gerade passiert. Alles ändert sich und wird in Frage gestellt. Dass in Syrien, Jordanien und Marokko die Macht von den Vätern auf die Söhne überging, wird als Zeichen der Kontinuität und der Immobilität wahrgenommen. Man versteht nicht, wie fragil und flüchtig die Situation ist.
Diktaturen bleiben sie
Ja, aber selbst in Autokratien wie Libyen oder Tunesien kann man sehen: Zwang gegenüber den eigenen Bürgern funktioniert nicht mehr. Nehmen Sie Libyen: Gaddafi hat sich der amerikanischen Bedrohung entledigt, indem er sich kooperativ gezeigt hat. Aber er wird seine Macht nur behalten können, wenn er die Unterstützung seines Volks gewinnt. In Marokko ist al-Dschasira der populärste Fernsehsender, und der sendet vom Persischen Golf. Die Berater des Königs meinen nun, dass die einzige Möglichkeit, dem zu begegnen, in der Schaffung eines eigenen Fernsehmarkts besteht. Der Kampf zwischen lokalen und globalen Mächten spielt sich auf dem Feld der Massenkommunikation ab. Kein Herrscher in der arabischen Welt kann sich dem heute noch entziehen.
Gäbe es freie Wahlen in der arabischen Welt, würden vielerorts islamistische Parteien siegen: So war es 1991 in Algerien und zuletzt in Palästina. Haben Sie Angst vor Islamisten?
Eine konservative, antidemokratische Islamistenpartei hätte heute keine Chance, irgendwo in der arabischen Welt noch Wahlen zu gewinnen. Ich finde es hoch interessant, was gerade in der Türkei passiert. Die Islamisten dort haben sich entschieden, dass sie nicht länger als Islamisten bezeichnet werden wollen. Sich auf den Islam zu berufen, das reicht eben nicht mehr. Die Leute wollen Ergebnisse sehen. Auch in Marokko gibt es Städte wie Mèknes, die von Islamisten regiert werden. Die Frage ist, wie sie dort die Alltagsprobleme lösen - das ist das Einzige, was die Menschen interessiert. Und wenn es eine islamische Partei nicht bringt, dann wird sie eben abgewählt
Welche Rolle kann der Westen spielen?
In den Augen der meisten Araber hat sich der Westen völlig diskreditiert. Wie kann man von Demokratie sprechen und zugleich von Flugzeugen aus Bomben auf Zivilisten werfen, wie es im Irak oder in Palästina geschieht? Das ist pure Barbarei. Aber die Leute können unterscheiden zwischen der Politik westlicher Staaten und jenen humanistischen Intellektuellen, die auf unserer Seite stehen, für Menschenrechte und Demokratie.
In Marokko hat der König ein neues, fortschrittliches Familienrecht durchgesetzt. Könnten konservative Kräfte das Rad wieder zurückdrehen?
Der marokkanische König hat fantastische Berater: Einer davon ist Ahmad Tawfiq, er ist Minister für religiöse Angelegenheiten. Er hat ein Buch über eine Berberstadt im 19. Jahrhundert geschrieben, deren Bevölkerung zur Hälfte aus Juden und zur anderen Hälfte aus Muslimen bestanden hatte, und wie sie ihre Angelegenheiten damals organisierten. Er hat auch ein Buch über einen Imam aus dieser Zeit geschrieben, der im Atlasgebirge lebte und sich dort für die Rechte der Frauen eingesetzt hat. Es ging ihm darum zu zeigen, dass Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung nicht vom Westen importiert werden müssen, sondern in unserem Erbe verwurzelt sind.
Sie haben als Frauenrechtlerin keine grundsätzlichen Probleme mit dem Islam?
Die zentrale Frage ist, ob der Islam eine Antwort auf heutige Probleme geben kann. Als der Islam in die Welt kam, herrschte eine große Kluft zwischen Reich und Arm. Das wurde dadurch geregelt, dass die Wohlhabenden zehn Prozent ihres Einkommens als Abgabe an die Armen leisten sollten. Heute ist es so, dass die Weltbank dem marokkanischen Staat vorschreibt, er solle seine Gelder für Schulen und Krankenhäuser kürzen. Damit wird die gesellschaftliche Solidarität angetastet. Es ist kein Wunder, dass sich die Leute in einer solchen Situation wieder zur Religion hinwenden. Man muss verstehen, dass es bei Religion nicht ums Beten geht. Es geht um Solidarität.
Solidarität klingt gut. Aber religiöse Solidarität ist oft exklusiv und schließt andere aus: Nichtmuslime etwa.
Ja, sie kann auch Nachteile haben: Exklusion, Gruppendruck. Die Frage ist, wie man dies vermeidet. Darum dreht sich die Debatte gerade: Beschränkt sich das Konzept der Umma auf Muslime? Oder schließt es auch Christen, Juden und Atheisten ein?
Würde ein konservativer Fernsehprediger wie Yussuf al-Qaradawi solche Positionen auch vertreten?
Qaradawi ist ein Mann der Vergangenheit. Es gibt heute eine Vielzahl von jungen Qaradawis, die viel gebildeter und moderner sind als er. Die große Frage, um die sich die Debatte dreht, lautet: Wie lassen sich die Gewalt und der Fanatismus eindämmen? Innerhalb der religiösen Sphäre wird vieles überdacht, und Imame von Saudi-Arabien bis Marokko sagen: Wer im Namen des Islams tötet, der ist einfach ein Mörder und gehört ins Gefängnis. Die Medien haben eine zivilisierende Wirkung auf den öffentlichen Diskurs. Wenn jemand im Fernsehen heute noch Andersgläubige oder Atheisten beleidigt, dann wird das sofort unterbunden.
Es gibt aber auch Fernsehsender, die radikal islamistische und antiwestliche Propaganda verbreiten. Was ist denn mit denen?
Ja, es gibt solche Sender wie al-Manar oder TBS. Aber diese radikalislamischen Sender haben ein Problem: Sie finden keine Werbekunden. Das heißt, sie ziehen einfach nicht genug Publikum an, um für Werbekunden interessant zu sein. Ihr Einfluss ist begrenzt.
INTERVIEW: DANIEL BAX
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