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Marathon der Zeichnung in OsnabrückAuf die Blätter, fertig, los!

Momentan ist der Kunstraum Hase29 ein Atelier: 14 KünstlerInnen nehmen am „Marathon der Zeichnung“ teil. Ende Dezember werden die Ergebnisse ausgestellt.

Blick in den Kunstraum als Marathon-Austragungsort Foto: Frank Gillich

Osnabrück taz | Beate Freier-Bongaertz will in den zehn Tagen 42 Bilder fertig haben. Sie hat Screenshots ihres Navigationsgeräts gemacht, ­zwischen Wanne-Eickel und ­ihrer neuen Heimat Borgholzhausen, jeden Kilometer eins. Die lädt sie nun mit künstlerischen Verortungen auf, vom ­architektonischen Detail bis zur emotionalen Erinnerung.

Die 42 ist keine zufällige Zahl. Ein Marathon ist 42 Kilometer lang, und Freier-Bongaertz arbeitet derzeit im Osnabrücker Kunstraum Hase29, einem der profiliertesten Schauplätze der Stadt für zeitgenössische Experimentalkunst, als Teilnehmerin des „Marathons der Zeichnung VI“ des örtlichen „Vereins für neue Kunst“, TOP.OS. Natürlich ist die Strecke von Wanne-­Eickel bis Borgholzhausen länger, über 150 Screenshots sind entstanden. „Aber so viele Motive werde ich so schnell nicht schaffen“, sagt Freier-Bongaertz und lacht. „Außerdem gelingt ja auch nicht jedes Blatt.“

Der Marathon, zehn Tage lang, ist ein Gemeinschafts­atelier: 14 KünstlerInnen kommen hier zusammen, arbeiten in einem Raum, jung und alt, hiesige und Gäste aus Städten wie Hamburg und Berlin. ­Galeriebesucher, die ihnen dabei zusehen möchten, sind willkommen.

Gebäckstangen stehen bereit, Kekse, Kaffeekannen. Auch eine Großpackung Haribo Color-Rado ist am Start. Das ist fast ein bisschen symbolhaft, denn auch der Marathon setzt auf Vielfalt. Und um Farbe geht es bei ihm natürlich auch.

Im Jahr 2015 sei der erste Marathon über die Bühne gegangen, erzählt Frank Gillich von TOP.OS, damals noch vier Tage kurz. Eine Ausgabe pro Jahr folgte. Dann erzwang Corona eine Pause. „Das Format ist sehr kommunikativ“, sagt Gillich. „Ein Gegensatz zum Rückzugsraum des eigenen Ateliers.“ Man schaut einander über die Schulter, bespricht sich.

Kommunikatives Format

Und es gibt schnell Resultate: „Die Zeichnung ist ja ein sehr spontanes Medium“, sagt Gillich. „Lebendig, niedrigschwellig, nah am Menschen“. Dann erzählt er von Kids, die sich nicht reintrauen, aber von draußen, durch die riesige Fensterfront zusehen: „Vielleicht gehen die danach nach Hause, nehmen sich einen Block und fangen auch an.“

Die Atmosphäre ist konzentriert. Manchmal ist es ganz still. Pinsel, Küchenrollen und Papierstapel liegen auf dem Boden. Überall Bleistifte und Scheren, Cuttermesser und Klebstoff, Pastellkreide und ­Tuschetöpfchen. Hier ein Karton mit Weingläsern, dort eine Thermoskanne voller Tee. Die meisten haben ihre eigenen ­Tische mitgebracht. Hinter einem davon steht ein Barhocker. Abstraktes ist zu sehen, Gegenständlichkeit. Fragiles ist zu sehen, Wildes. Miniaturen sind zu sehen, Arbeiten mutiger Monumentalität. Klassisches ist zu ­sehen, technisch Junges.

Robert Stieve, auch er bei TOP.OS, sitzt mit dem Rücken zum Raum. Vor ihm, an der Wand, hängen riesige Gesichter. Sie haben viele Konturen, dicht an dicht, ein Flimmern entsteht. „Da geht es um die Unbestimmtheit des Menschen“, sagt Stieve, „um innere Wandlungen“. Erschütterungen treten zutage, Fragen an das eigene Selbst.

Eva Preckwinkel, ebenfalls bei TOP.OS, hat einen Laptop vor sich, ruft Familienfotos auf. Nach ihnen zeichnet sie, als „intimes Arbeiten an der eigenen Vergangenheit“. Das sei „ein ziemlicher Fundus“, sagt sie. Verfremdungen zeigen sich, Mehrschichtigkeiten. Zwischendrin kommt eine Passantin rein, mittelalt, forsch, seltsam schnippisch, sieht sich kurz um. Sagt dann, ziemlich laut: „Das kann ich auch alles!“ Stieve lächelt, Preckwinkel auch. Sie sind Profis, wie alle hier. Die Passantin ist nach ihrem Spruch schnell wieder weg. „Eigentlich“, sagt Preckwinkel, „hätten wir ihr sagen sollen: Okay, dann mach mal!“

Manfred Heinze, der hinten rechts an seinen „Zellen“ zeichnet, biomorphen Formen, hat einen Stapel Kataloge vor sich, zum Mitnehmen. „Ich mache immer dasselbe!“, sagt er und blättert einen davon auf. „Seit 46 Jahren! Sehr meditativ!“ Er sagt es mit Hintersinn, als Kampfansage: „Das Einzige, mit dem Kunst noch schockieren kann, ist Langeweile!“ Heinze, schon seit der ersten Ausgabe des ­Marathons dabei, sagt das mit einem Schmunzeln, aber mit ernstem Nachdruck. Er ist Mitglied im Dull Men’s Club, dem Verein der Langweiler. Wer da mitmacht, muss ziemlich ­skurril sein.

Am Ende wird ausgestellt

Caro Enax sitzt vorne am Fenster, mit Blick in den Raum, auf die meisten ihrer KollegInnen. Hier ist die Heizung in der Nähe, auf der man gut eine Pause machen kann, und es fällt viel Tageslicht herein. Es ist ihr fünfter Zeichnungs-Marathon, und sie arbeitet an großformatigen „Strömungen“, die ein bisschen aussehen wie Implosionen, wie Magnetfelder. „Ich verlege einfach meine Atelierarbeit hierhin“, sagt sie. „Schön ist, dass hier so viel Platz ist, dass ich meine Blätter neben- und übereinander sehen kann, mit Abstand.“

Marathon der Zeichnung

Kunstraum Hase29, Osnabrück. Offenes Atelier bis 18.12.23, Ausstellung: ab 18.12.23, 19 Uhr (Vernissage). Bis 23.12.23

Die „Strömungen“ wecken Gedanken. Sind es Strömungen der Seele, der Gesellschaft? Enax lächelt, lässt das betont offen. „Ich weiß, das ist unbequem“, sagt sie. „Aber jeder muss selber herausfinden, was er darin sieht.“ Gut gedacht, und gut gesagt. Bequemlichkeiten sind im Kunstraum Hase29 ohnehin nicht zu haben.

Joost-H. Becker, der in Osnabrück Kunst studiert, verortet seine oft chiffrehaften, magisch-realistischen Motive „zwischen melancholisch und heiter-­fantastisch“, bezeichnet sie als „Ventil“. Es sind Blicke in ihn selbst hinein. Die Zeichnung, an der er gerade arbeitet, zeigt drei Gestalten, vom Betrachtenden durch eine tiefe Schlucht getrennt, in einer postapokalyptisch anmutenden Welt. „Ich probiere auch andere Medien aus“, sagt Becker. „Aber ich kehre immer wieder zur Zeichnung zurück.“ Sind alle Bleistifte und Pinsel fortgeräumt, werden die Ergebnisse zu einer Ausstellung. Aber die Arbeit geht weiter. „Vielleicht“, sagt Gillich, vor Dutzenden Booten, die zugleich Nussschalen sind, „wird daraus eine Skulptur.“

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