Maori-Gebeine zurückgegeben: Berührt vom kältesten aller Winde
Bremens Übersee-Museum hat Überreste von Moriori und Maori an Neuseeland restituiert, die der Gründungsdirektor vor 120 Jahren mitnahm.
Selten ist es so still, wenn die Stadtgesellschaft Bremens versammelt ist. Die circa 80 Personen tragen dunkle Kleidung und stehen starr vor einfachen Holzstühlen, den Blick streng geradeaus. Plötzlich zerschneidet ein Horn die Stille. Es ist ein Putatara, ein maorisches Schneckenhorn. Eindringliche Rufe folgen, sie erfüllen den Raum: ein Geschrei aus hunderten kurzen Silben – laut und doch undeutlich. Die Rufe hallen nach im riesigen Lichthof des Übersee-Museums. Die Anwesenden hören alles, aber verstehen tun sie es nicht.
Das sollen sie auch nicht. Es sind Gebete eines Maori-Ältesten, und seine Rufe richten sich nicht an die Lebenden. Der Älteste, sein Name ist Taki Turner, steht im hinteren Teil des Lichthofs und trägt einen schwarzen Anzug, das Sakko ist zugeknöpft. „Es ist eine Beschwörung, die nur ich und die Toten verstehen können“, sagt er später, „es ist wie ein ganz normales Gespräch zwischen Ihnen und mir, bloß anders.“
Das Horn und die Stoßgebete sind der Anfang der Maori-Zeremonie. Die menschlichen Überreste von bis zu 44 Maori und Moriori lagerten fast 120 Jahre lang im Bremer Übersee-Museum. Nun kehren sie zurück in ihre Heimat. Das neuseeländisch-maorische Te Papa Museum hatte 2013 ein Rückgabeersuchen nach Bremen geschickt. Das bikulturelle Museum in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington setzt sich weltweit für die Rückführung menschlicher Überreste der Maori und Moriori ein. Seit 1990 läuft in Neuseeland ein staatlich unterstütztes Programm zur Repatriation.
Das Programm trägt den Namen „Karanga Aotearoa“. „Karanga“ bezeichnet einen spirituellen Dialog der Lebenden mit den Vorfahren und das beidseitige Verlangen, ins Heimatland, Aotearoa, zurückzukehren. 400 menschliche Überreste wurden so in den vergangenen 27 Jahren zurückgeführt. 600 weitere vermutet die Te-Papa-Delegation in westlichen Museen, vor allem in jenen mit kolonialem Kontext.
Überprüfungen des Übersee-Museums in Bremen ergaben, dass tatsächlich kein unerheblicher Teil seiner Sammlung menschliche Überreste von Neuseelands indigener Bevölkerung enthielt. Museumsdirektorin Wiebke Ahrndt empfahl dem Bremer Senat, dem Rückgabeersuch aus ethischen Gründen zuzustimmen. Der Senat beschloss daraufhin die Rückgabe im Mai 2016.
In gewisser Weise beseelt
Ihre Vorfahren, die Tupuna, spielen in der Weltanschauung der Maori eine große Rolle. Ihr Ahnenkult besagt, dass die menschlichen Überreste nach dem Tod noch in gewisser Weise beseelt sind. Die Gebeine und die Orte der Beisetzung sind tapu – heilig und deswegen unantastbar. Wenn das Tapu gebrochen wird, ihre Ahnen nicht mehr dort sind, wo sie hingehören, finden weder die Geister der Vorfahren Ruhe noch ihre lebenden Nachfahren.
Die Rückgabe der menschlichen Überreste ist ein Staatsakt, bei dem koloniales Unrecht im Beisein des neuseeländischen Botschafters rückgängig gemacht werden soll. Es ist aber auch eine religiös-spirituelle Zeremonie des Abschieds und der Begrüßung. Bremen, seine Bewohner und das Übersee-Museum sollen sich von den entwendeten Maori-Ahnen feierlich verabschieden. Und die Maori-Delegation heißt ihre Tupuna nach langer Zeit willkommen und bereitet sie auf die Heimreise vor.
Alles läuft streng nach Maori-Protokoll. Die bremischen Gäste sind vorbereitet und wissen genau, wie sie sich während der gut eine Stunde dauernden Zeremonie zu verhalten haben. Die versammelte Gesellschaft dreht sich wie auf Kommando in Richtung eines Treppenaufganges, als dort langsamen Schrittes eine Prozession erscheint: MuseumsmitarbeiterInnen tragen fünf unscheinbare Kisten aus Karton, Maoris begleiten den Transport mit rhythmischen Gesängen und Gebeten. Der Älteste nimmt die Prozession am Fuß der Treppe in Empfang. Langsam schreitet der Zug in Richtung der Gäste und bleibt schließlich in ihrer Mitte und im Zentrum des Lichthofs stehen.
Dort nimmt ein Mitglied der Maori-Delegation die Kisten entgegen und stellt sie vorsichtig auf einem Altar ab, der eigens errichtet wurde. Er lächelt und trägt zum dunklen Anzug eine schwarze Sonnenbrille, um seinen Hals hängt eine Kette mit einer grünen Steinfigur und an seinem Ohr trägt er eine große, weiße Feder. Danach legt die Delegation ein großes schwarzes Tuch und zwei bestickte Decken über die Kisten und stellt sich um den Altar auf.
Der Älteste Taki Turner steht direkt vor den menschlichen Überresten. Er hebt den Arm und bewegt ihn langsam über seine Vorfahren. Ohne den Blick auch nur einmal abzuwenden, beginnt er von Neuem mit den Beschwörungen. Schließlich beginnt er zu singen. Die übrige Delegation stimmt ein.
Das Lied heißt „Tirotiro kau au“, die erste Strophe bedeutet aus dem Maorischen übersetzt: „Ich suche endlos in meinem Stamm, meiner Heimat / und meinem Herzen und frage: Wo sind meine Verwandten hingegangen?“ Es klingt traurig. Eben so, wie es sich für Maori anfühlen muss, wenn ihre heiligen Grabstätten geplündert und die Gebeine ihrer Ahnen verschleppt werden.
Das Lied hat drei Strophen, die letzte richtet sich ausschließlich an die Ahnen. Sie wird gesungen, wenn die Vorfahren anwesend sind. Bei Anlässen wie heute: „Takoto mai i runga i te atamira, e rā / Ka tokia tō kiri e te anu mātao e rā“ – „Meine Lieben, ruht süß auf der Bühne / jetzt, da eure Haut von dem kältesten aller Winde berührt wurde.“ Bald, so das Versprechen, werdet ihr nach einer langen Odyssee wieder zu Hause sein.
Stürme im Südpazifik
Diese Odyssee nimmt am 22. Januar 1897 ihren Anfang, als der Zoologe und bremische Museumsdirektor Hugo Schauinsland auf den Chatham Islands ankam. Er ging gleich an den Strand, um sich dort umzusehen. In seinem Tagebuch beschwert sich Schauinsland über faule Eingeborene und die permanenten Stürme im Südpazifik. Er besucht die Inseln auf seiner Sammlungs- und Forschungsreise für sein gerade gegründetes Museum in Bremen. Die Chatham Islands liegen direkt an der Datumsgrenze, 750 Kilometer südöstlich von Neuseeland, und sind in etwa so groß wie Rügen.
An den Stränden bewegt der permanente Sturm riesige weiße Wanderdünen, die selbst Baumkronen bedecken. Schauinsland erinnern die weiten Strände und Dünen an seine Heimat, die Kurische Nehrung an der Ostsee. Der raue Wind hat Knochen freigelegt. Neben denen von Robben und Vögeln findet er auch menschliche Überreste. Er ist sich sicher, dass es die Gebeine von Moriori sind, der indigenen Bevölkerung der Chatham-Inseln. Schauinsland erkennt das an der Art der Bestattung: „Nur die Moriori begruben ihre Toten und zwar in hockender Haltung überall im Busch“, schreibt er.
Die Moriori sind, ebenso wie die Maori, polynesische Menschen, die zwischen dem 9. und dem 16. Jahrhundert die Chatham-Inseln besiedelten und sich zu einer egalitären Gesellschaft entwickelten. Heute leben noch einige ihrer Nachkommen auf den Inseln, die Maori haben jedoch die meisten von ihnen getötet, als sie 1835 die Insel eroberten.
Im Laufe seines Aufenthaltes gräbt Schauinsland eine regelrechte Moriori-Sammlung aus. Er schreibt damals: „Gleich an diesem ersten Abend brachten wir zwei Schädel nach Hause, wenngleich wir stets energisch gewarnt wurden, uns vor den Maoris diesetwegen zu hüten.“
Schauinsland wusste, dass er Unrecht tat und überschritt diese Grenze wie viele Wissenschaftler seiner Zeit im vollen Bewusstsein. Reue oder gar ethische Bedenken fühlte er gegenüber dem von ihm als primitiv und minderwertig eingestuften „Naturvolk“ nicht. Über die Maori schreibt er: „Die wir gesehen haben, kamen uns ziemlich unverschämt und faul vor.“ Die wenigen lebenden Morioris, die er zu Gesicht bekam, versuchte er, ganz Zoologe des 19. Jahrhunderts, in zwei „Menschenschläge“ einzuteilen: ersterer „herkulisch und wohlgebildet“, letzterer „zarter und semitenähnlich.“
Das ein Jahr zuvor von Schauinsland gegründete Übersee-Museum sollte, anders als andere Museen jener Zeit, nicht nur Gebildete und Wissenschaftler anlocken. Es sollte ein „Volksbildungsinstitut“ sein. Ein neuer Museumstyp, der breite Schichten der Bevölkerung begeistern sollte. Schauinsland sortierte seine Ausstellung nicht wissenschaftlich-archivarisch, sondern bereitete sie nach möglichst detailgetreuen Themeninseln auf, in denen die durch den Kolonialismus geprägte Vorstellung des „Fremden“ möglichst plastisch dargestellt werden sollte. Je exotischer, desto besser.
„Er überschritt die Grenze des ethisch Zulässigen“, sagt Schauinslands Nachfolgerin und heutige Museumsdirektorin Wiebke Ahrndt 120 Jahre später. Während der Zeremonie im Übersee-Museum richtet sich auch ihr Blick streng auf die menschlichen Überreste. Ahrndt sagt: „In unseren Herzen haben Sie, e ngā tupuna, e ngā karapuna, für immer einen Platz gefunden. Deshalb geht uns der Abschied sehr nahe, aber wir sind froh, dass Sie nun nach so langer Zeit nach Hause zurückkehren können. Wir möchten uns für das Geschehene Unrecht entschuldigen.“
Am richtigen Ort begraben
Es ist schwül und warm an diesem Nachmittag im Mai in Bremen. Aber sein Stofftaschentuch benutzt Maori-Co-Leader Arapata Hakiwai nicht nur, um sich Schweiß von der Stirn zu wischen. Wie auch die anderen Maori ist er nach der Zeremonie sichtlich berührt. Doch Vorwürfe erhebt keiner von ihnen: „Wir danken Ihnen demütig, dass sie auf unsere Vorfahren aufgepasst haben“, sagt Hakiwai. Die Delegation ist sehr dankbar dafür, dass sie den über Neuseeland verteilten Iwis, den regionalen Stämmen, bald ihre Ahnen zurückbringen können. So können diese am richtigen Ort erneut begraben werden. „Am 29. Mai wird es eine große Willkommen-zurück-Feier geben. Noch mehr Tränen werden fließen“, sagt Hakiwai.
Am Ziel ist die Delegation aus Neuseeland aber noch nicht. Es gibt viele Museen, die sich gegen ihr Anliegen sperren. Ob die Maori-Delegation verärgert ist über die Haltung, die alte Unrechtskontexte erneut reproduziert? „Nein“, sagt Herekiekie Herewini, der im Te Papa Museum für die Repatriation verantwortlich ist. „Ein Nein ist für uns nur ein Ja in der Entstehung. Wir können niemanden zwingen, uns unsere Ahnen zurückzugeben. Aber wir können vor dem Museum stehen und warten – bis sie Ja sagen.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!