Mahlzeit mit anderen: Warum gemeinsam essen gesund ist
Dass die Familie zusammen isst, wird zunehmend seltener. Gemeinsames Essen verbindet und ist gesund, doch es sollte nicht romantisiert werden.
Wir leben in einer Welt, die gemeinsames Essen, „Kommensalität“, immer mehr erschwert – an jeder Ecke eine Imbissbude, ein Bäcker mit frischem Geruch nach Plunderstückchen, To-go-Angebote bei den Supermärkten. Auch empirische Daten belegen, dass die Menschen immer seltener zu den Hauptmahlzeiten essen, häufiger alleine essen und mehr snacken.
Trotzdem hat die Häufigkeit von Familienmahlzeiten, vor allem das gemeinsame Abendessen, innerhalb der letzten 15 Jahre eher wieder zugenommen. Und Corona hat den Trend nochmals verstärkt. Wie Daten der Gesellschaft für Konsumforschung aus 2021 zeigen, wurde während der Lockdowns mehr Zuhause gekocht und gegessen als noch 2019. Ob der Trend anhalten wird, ist unklar. Aber ist es eigentlich so wichtig, dass Menschen gemeinsam essen?
Tatsächlich ist das gesellige Beisammensein an Feuer oder Tisch eine anthropologische Konstante. So gilt die Zubereitung von Nahrung an der Feuerstelle als wichtiger Entwicklungsschritt in der Evolution. Bereits vor 800.000 Jahren haben sich kleine Gruppen von Steinzeitmenschen am Feuer zusammengefunden, Essen geteilt, sich gegenseitig beschützt, ihr Leid geklagt, man wärmte sich, fing irgendwann an zu singen, zu tanzen und Geschichten zu erzählen. Manche Forschende glauben, dass diese Tatsache das Hirnwachstum angespornt hat und nicht etwa eine Nahrung mit immer mehr Fleisch.
Die biologische Evolution hat sich nun zu einer kulturellen weiterentwickelt, es gibt keine Gesellschaft, in der die soziale Institution „Mahlzeit“ nicht existiert. Bis ins frühe Mittelalter hat man zum Beispiel in europäischen Regionen keine schriftlichen Verträge geschlossen, sondern Abmachungen bei Spanferkel und Wein besiegelt. Heute hat sich zumindest das Getränk als obligatorisches Ritual gehalten. Ein längeres Gespräch ohne Kaffee, Tee oder auch Alkohol ist praktisch undenkbar. Oft werden zumindest Kekse gereicht – gemeinsames Essen und Trinken hat heute vor allem einen symbolischen Wert. Und Soziologen wie Psychologen sind sich einig: Essen verbindet, es hat positive Effekte.
Seelische Gesundheit
Forschende haben sich bislang vor allem mit der Familienmahlzeit beschäftigt. Findet diese häufig und regelmäßig statt, ist die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen besser. Sie zeigen weniger psychische Probleme, dafür mehr prosoziales Verhalten und sind zufriedener. Sie schwänzen seltener die Schule, verfügen über einen besseren Wortschatz und schreiben bessere Noten. Sie sind seltener Mobbing ausgesetzt und greifen weniger zu Drogen, Alkohol und Zigaretten.
Sogar die Gesundheit verbessert sich. Kinder sind seltener übergewichtig, je mehr Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden, belegte die EsKiMo-Studie aus dem Jahr 2019. Sie zeigte auch: Wird regelmäßig gemeinsam gefrühstückt, trinken Kinder im Laufe des Tages weniger Softdrinks und essen mehr Obst. Vermutlich reduziert das die Wahrscheinlichkeit, dass zwischen den Mahlzeiten gesnackt wird. Ein Fakt, der als Mitverursacher von hohen Übergewichtsraten angesehen wird, da Zwischenmahlzeiten tendenziell fett- und zuckerhaltig sind.
Bei einem gemeinsamen Essen wird auch Gesünderes aufgetischt, hat Barbara Fiese, Wissenschaftlerin an der Universität von Illinois, im Jahr 2011 belegt. Wer gemeinsam mit der Familie isst, nimmt demnach mehr frische Früchte, Gemüse sowie faser- und kalziumreiche Nahrungsmittel zu sich. Die gesundheitlichen Effekte einer gemeinsamen Mahlzeit bleiben auch erhalten, wenn nur ein Elternteil anwesend ist oder andere Verwandte oder gute Freunde der Eltern für die Kinder kochen. Sogar Fremde können das Essen zubereiten, eine wichtige Rolle scheint zu spielen, dass man nicht alleine isst.
Daher forderte der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik und Ernährung (WBAE) 2020, dass das gemeinsame Kochen und Essen in öffentlichen Kitas und Schulen zum Standard gehören sollte. „Kommensalität kann das psychische Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit und soziale Bindungen fördern“, schreibt Britta Renner, Mitglied des WBAE-Beirats im Fachblatt Ernährungs-Umschau.
Auch Erwachsene profitieren von der „sozial-kommunikativen“ Wirkung der gemeinsamen Mahlzeit. Paare bezeichnen ihre Ehe häufiger als glücklich, verglichen mit Paaren, die öfter alleine essen. Egal ob Familienmahlzeit, Essen mit Freunden oder das Mittagessen mit KollegInnen: Man isst in Gesellschaft langsamer, weil Gespräche hastiges Essen unmöglich machen. Zudem werden mehrere Sinne gleichzeitig angesprochen. So wird man schneller psychisch satt und zufrieden. Auch Erwachsene, die öfters in Gemeinschaft essen, haben darum ein niedrigeres Risiko für Übergewicht und andere Volksleiden.
Das klingt alles eindeutig, und so wird gerne auch von Medizinern über den Untergang der Familienmahlzeit lamentiert, der zu steigenden Übergewichtsraten führe. Doch so einfach ist es nicht. Solche Studien sind mit Vorsicht zu genießen, da sie keine Kausalität beweisen. Fakt ist, dass in Familien mit niedrigem sozialen Status seltener zusammen gegessen wird. Und in diesen Familien kommen auch Übergewicht und psycho-soziale Probleme häufiger vor als bei Kindern aus dem bildungsbürgerlichen Milieu.
Die Eltern verfügen über weniger Ernährungswissen, es herrscht mehr Stress durch prekäre Arbeit oder Wohnsituationen. Die Kinder gehen auch seltener in Sportvereine. All das fördert gesundheitliche Nachteile und schlechtere Noten. Könnte man diese Familien zu häufigeren Mahlzeiten ermutigen, wären ihre Probleme sicher nicht gelöst. Also: Familienmahlzeiten sind ein Baustein, der in einem komplizierten Gefüge eine Rolle spielt, aber auch nicht zwingend notwendig sind.
Familienmahlzeiten sollte man also nicht romantisieren und einfordern, da sie zu sozialer Distinktion führen. Die britische Soziologin Julie Parson schreibt: „‚Gesunde‘ Essgewohnheiten in der Familie werden genutzt, um eine ‚richtige‘ bürgerliche Weiblichkeit darzubieten, die andere Essgewohnheiten in der Familie und andere Weiblichkeiten pathologisiert.“ Studien der Oxford University belegen, dass die Idealisierung der Familienmahlzeit zu sozialem Druck und Schamgefühlen bei Müttern führen, die aus Zeitgründen wenig kochen oder auf Convenience zurückgreifen. Das Image der idyllischen Familienmahlzeit impliziert auch, dass Frauen kochen und Kinder sowie Mann bedienen, es basiert also auf konservativen Geschlechterrollen, nach dem Motto: Frauen zurück an den Herd.
Doch es ist etwas im Wandel. „Unsere Untersuchungen zeigen, dass ganz junge Frauen und zunehmend auch Männer wieder Freude am Kochen haben und unverkrampft an das Thema herangehen – ohne moralisierende Zerrbilder“, sagt Christine Brombach, Ernährungswissenschaftlerin an der ETH Zürich, gegenüber dem österreichischen Standard. Nur ältere Frauen hätten noch ein sehr traditionelles Verständnis von Frausein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs