Männergesundheit: Jungs weinen nicht
Traditionelles männliches Verhalten kann krank machen. Der „toxische Mann“ schädigt sich selbst und wird in der Gesundheitsvorsorge weniger beachtet.
E in Schlagwort kursiert seit den 2010er Jahren in der geschlechterpolitischen Debatte: die “toxische Männlichkeit“. Diesen Begriff verwendet auch Jack Urwin in seinem Buch „Boys don’t cry“ (Jungen weinen nicht), das er als Reaktion auf das frühe Sterben seines Vaters schrieb. Der britische Autor schildert, wie starre Rollenbilder vom starken, wilden und unbesiegbaren Mann das Verhältnis zum eigenen Körper prägen. Er warnt, dass der Mythos der Maskulinität toxisch sein oder gar tödlich enden kann – und er sucht nicht, wie es manche Männerrechtler tun, die Schuld dafür bei den Frauen. Für sein „brillantes, persönliches, nicht einmal sexistisches“ Werk lobte ihn die Londoner Feministin Laurie Penny.
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Die Führungspositionen im Gesundheitswesen waren lange Zeit männlich besetzt. In den Krankenhäusern dominierten Halbgötter in Weiß die Visiten und erst recht die Operationssäle. Frauen assistierten als Pflegerinnen oder leisteten technische Hilfsdienste. Auch die pharmazeutische Industrie agierte weitgehend geschlechtsblind. Die Hersteller von Medikamenten testeten neu entwickelte Arzneimittel vorrangig an männlichen Probanden, für Frauen konnte das lebensbedrohliche Folgen haben. Heute gibt es deutlich mehr Ärztinnen als vor Jahrzehnten, 70 Prozent der Studierenden in der Medizin sind mittlerweile weiblich. Gendersensible Ansätze haben dennoch kaum Gewicht. Und auch die Nachwirkungen einer wie Gift wirkenden Männlichkeit sind wissenschaftlich noch wenig untersucht.
Der „toxische“ Mann sorgt nicht gut für sich selbst. Er behandelt seinen Körper wie eine Maschine, die nur dann gewartet werden muss, wenn sie überhaupt nicht mehr funktioniert. Nach der Devise „Indianer kennen keinen Schmerz“ beißt er die Zähne zusammen, erst recht vermeidet er jede Gesundheitsprophylaxe. Die bewusste Vorsorge wird ihm allerdings auch nicht leicht gemacht. Schon Mädchen und junge Frauen werden aktiv von den Krankenkassen angeschrieben, Früherkennung im gynäkologischen Bereich ist Routine und wird selbstverständlich von den Versicherungen übernommen. Wollen sich dagegen Männer zum Beispiel gegen Prostatakrebs schützen, müssen sie oft explizit nachfragen – und notwendige Tests selbst bezahlen.
Die Schattenseiten althergebrachter Verhaltensmuster belegt drastisch das sogenannte „Life Expectancy Gap“. Im Durchschnitt ist die Lebenserwartung deutscher Männer nach aktuellen Daten um 4,8 Jahre geringer als die von Frauen. In der Hochphase der Industriearbeit betrug diese Differenz sogar acht Jahre. In Russland und Belarus liegt die Kluft immer noch bei über zehn, in der Schweiz oder in Island dagegen bei nur drei Jahren.
Thomas Gesterkamp referiert und schreibt seit dreißig Jahren zu geschlechterpolitischen Themen, etwa zur Vaterrolle und zum Antifeminismus von Männerrechtlern.
Sterblichkeit korreliert mit sozialen und geschlechtsspezifischen Unterschieden. Seit 1980 verringert sich der Abstand zwischen Männern und Frauen, die Forschung erklärt das mit der Annäherung der Lebensverläufe. Die wegweisende Klosterstudie des Wiener Demografen Marc Luy, der 2002 die Biografien von Nonnen und Mönchen verglich, ergab ein körperlich bedingtes Gefälle von nur einem Jahr. Der frühere Tod des „starken Geschlechts“ ist demnach kein biologisches Naturgesetz. Er ist auf gesellschaftliche Bedingungen und Normen zurückzuführen.
Viele Männer ignorieren Schmerz, Trauer, Krankheiten und körperliche Symptome. Sie arbeiten und leben ungesund, gehen selten zum Arzt, ernähren sich falsch, nehmen mehr Drogen als Frauen. Und sie haben die gefährlicheren Jobs: 95 Prozent der Verunglückten bei Arbeitsunfällen mit Todesfolge sind männlich. Dennoch sind die Folgen rigider Anforderungen und riskanten Verhaltens erst seit ein paar Jahren Gegenstand gründlicher empirischer Forschung. Auch in politischen Debatten hatte das Thema lange keine Bedeutung. Ein 2020 veröffentlichtes Dossier des Bundesfamilienministeriums zur „partnerschaftlichen Gleichstellungspolitik“ widmet der „Gesundheit und Zufriedenheit“ von Jungen und Männern immerhin zwanzig Seiten.
Die Frauenbewegung schärfte einst den geschlechterbezogenen Blick auf die Medizin. Schon vor der Jahrtausendwende entstanden feministische Selbsthilfezentren und Gesundheitsberichte aus weiblicher Perspektive, beides wurde bald auch öffentlich gefördert. Dem stand lange kein männliches Pendant gegenüber, dann aber wurden die Rufe nach Förderung und Prävention auch für Männer lauter. 2014 legte das Robert-Koch-Institut (RKI) eine erste Studie vor– und machte so, nun auch staatlich finanziert, spezifische männliche Probleme deutlich.
Schon zuvor war die regierungsunabhängige, von Spenden getragene Stiftung Männergesundheit mit eigenen Untersuchungen vorgeprescht. Wichtige Ergebnisse waren unter anderem: Männer haben ein höheres Schlaganfall-Risiko, sie sind häufiger übergewichtig und alkoholkrank, sie stellen die deutliche Mehrheit der Verkehrstoten. Und: pro Tag sterben in Deutschland rund 25 Menschen durch Suizid, 76 Prozent davon sind männlich.
Die Datenlage hat sich deutlich verbessert, bei der Umsetzung hapert es noch. Die Expertise des Familienministeriums stellt fest, dass „Gesundheitsrisiken bildungsferne Männer überdurchschnittlich treffen“; zudem sei der Übergang in den Ruhestand „für erwerbsorientierte Männer eine besondere Herausforderung“. Der zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung verlangte 2017, dass „Strukturen erkannt und beseitigt werden, die Männer aufgrund des Geschlechtes an der Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe hindern“.
Im November 2022 präsentierte die Stiftung Männergesundheit ihre bereits fünfte Studie. Den Schwerpunkt bildet eine Befragung junger Männer, im Kontrast zum Vorgängerbericht, der sich auf ältere Männer kurz vor der Rente konzentrierte. Repräsentativ wurden zweitausend Gesprächspartner unter 28 Jahren interviewt, als Kontrollgruppe auch tausend Frauen im gleichen Alter. Als zentrale Erkenntnis konstatiert die Untersuchung: „Gesundheitsbewusstsein, Gesundheitsverhalten und Gesundheitsstatus der jungen Männer ist mit ihrer jeweiligen Vorstellung von der männlichen Geschlechtsrolle verbunden“.
ist promovierter Politikwissenschaftler und Autor für Radio und Printmedien in Köln.
Männer schätzen sich gesünder ein als Frauen, obwohl dies mit der statistisch erfassten Verteilung von Krankheitsbildern nicht übereinstimmt. Herkömmliche Rollenbilder führen zur Vernachlässigung der Sorge für sich selbst. Beispiele aus dem aktuellen Datenpool sind die viel ausgeprägtere männliche Spielsucht, der Mangel an Achtsamkeit nach Sport oder Partys für körperliche Erholungsphasen sowie der höhere Konsum von Rauschmitteln. Beim Rauchen liegen beide Geschlechter inzwischen nahezu gleichauf. Frauen haben in der jüngeren Generation „bei negativen, sie schädigenden Verhaltensweisen aufgeholt“, resümiert Kurt Miller, früherer Direktor der Urologischen Klinik an der Berliner Charité und jetzt medizinischer Vorstand der Stiftung Männergesundheit.
Die Nacht durchzocken
Im Freizeitverhalten junger Männer haben Online-Spiele eine erhebliche Bedeutung. Der Aussage „Ab und zu zocke ich die ganze Nacht am Bildschirm und bin am nächsten Tag völlig gerädert“ stimmen sie erheblich häufiger zu als Frauen. Noch größer ist das Gender-Gefälle bei der Frage nach der Nutzung pornografischer Angebote im Netz: Während diese für die Mehrheit der Männer zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Sexualität geworden sind, liegt das Interesse weiblicher Zuschauerinnen nach deren Selbstauskünften signifikant niedriger.
Eine wichtige Forschungslücke ist die Verknüpfung der Kategorien Gender und Klasse, in der soziologischen Fachsprache Intersektionalität genannt. Männliche Arbeiter zum Beispiel, die ihr Leben lang unter Tage, im Stahlwerk oder auf Baustellen geschuftet haben, sterben nachweisbar deutlich früher. Das durch Lohnniveau und psychosoziale Lage bedingte Gefälle unter den Männern selbst fällt mehr ins Gewicht als Geschlechtsunterschiede: Die Kluft bei der Lebenserwartung zwischen dem reichsten und dem ärmsten Einkommenssegment beträgt nach einer älteren Vorläuferuntersuchung fast elf Jahre.
Als zentrale Maxime fordert die EU-Strategie des Gender Mainstreaming dazu auf, stets auf die spezifischen Auswirkungen für Frauen wie Männer zu achten. In der Gesundheitspolitik führt das inzwischen manchmal zu mehr Achtsamkeit, wie sich etwa im Umgang mit dem Corona-Virus zeigte. Der Deutsche Bundestag diskutierte zuletzt mehrfach darüber, dass Frauen überdurchschnittlich an Long Covid erkranken; erhebliche Mittel wurden für die Ursachenforschung bewilligt.
Ebenso ungeklärt ist aber, warum nach Zahlen der Stanford University zu Beginn der Pandemie zwei Drittel der Verstorbenen Männer waren – obwohl sie in der von schweren Verläufen besonders betroffenen Altersgruppe der Hochbetagten klar unterrepräsentiert sind. Eine wissenschaftlich noch nicht hinreichend abgesicherte Hypothese dazu lautet, vereinfacht ausgedrückt: Östrogen stärkt das Immunsystem, Testosteron unterdrückt es. Hormonelle und genetische Unterschiede sollten also, trotz aller berechtigten Verweise auf die soziale Konstruktion von Geschlechterrollen, nicht vernachlässigt werden.
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