Machtkampf in Palästina: In Gaza geht das Licht aus
Strom hat Familie Murad nur für Stunden, Abwasser läuft ungeklärt ins Meer. Unter dem Streit von Fatah und Hamas leiden Mensch und Natur.
Siphon wird die Methode zur Abwasserentsorgung genannt, die ohne Klärwerk auskommen muss. „Wenn der Strom für eine angemessene Reinigung nicht ausreicht, nehmen wir das gesamte Abwasser und leiten es in den Ozean“, erklärt Shoblaq. Immer wieder mangelt es an Strom im Gazastreifen, schon seit zehn Jahren. Seit zwei Monaten zwingt die Energiekrise Shoblaq dazu, dauerhaft auf die Entsorgung per Siphon zurückzugreifen.
Der Gazastreifen hat 40 Kilometer langen feinsten Sandstrand. Die Temperaturen liegen zwischen 30 und 40 Grad. In knapp einer Woche fangen die Sommerferien an. An seiner breitesten Stelle ist der Gazastreifen 14 Kilometer breit, an der schmalsten nur 6. Das Meer ist für jeden erreichbar, mit dem Fahrrad oder sogar zu Fuß. Eigentlich verspricht es also Abkühlung und Badespaß – nur nicht in diesem Jahr. Auch ohne das Verbot des städtischen Gesundheitsamtes wagt sich kaum jemand in die Nähe der stinkenden Brühe.
An der gesamten Küste verfärbt das Abwasser das Meer auf den ersten vier bis fünf Metern dunkelbraun. Erst danach ist die natürliche Farbe des Wassers wieder zu erahnen. „Die Leute hier leiden“, sagt Shoblaq. „Sie können nicht schwimmen, nicht fischen, nicht zum Strand gehen.“ Auch für die Israelis sei die Umweltbelastung ein Problem: Die Strömung geht nach Norden, Richtung Israel also.
Was den Umweltingenieur aber besonders traurig stimmt, ist die Verschwendung. „Gaza produziert täglich 150.000 Kubikmeter Abwasser“, sagt er, „das ist für uns eine nationale Ressource – und wir werfen das einfach weg“. Eine fachgerechte Reinigung könnte Dreckwasser wieder in Sprengwasser für die Landwirtschaft oder in einem langen Prozess sogar wieder in Trinkwasser verwandeln.
Palästinenser gegen Palästinenser
Grund für Gazas Energiekrise ist ein Machtkampf. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas von der Fatah im Westjordanland wolle die Führung der verfeindeten und islamistischen Hamas im Gazastreifen zur Kapitulation zwingen, so verlautet es ganz unverblümt aus Ramallah, wo Fatah-Chef Abbas die Geschäfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) führt. Deshalb zahlt der Palästinenserpräsident nur noch etwa die Hälfte der Stromrechnungen, die Israel für seine Energielieferungen stellt.
Zehn Jahre sind es nun schon, seit die Hamas erkämpfte, was ihr mit dem Sieg bei den Parlamentswahlen eigentlich zustand: Kontrolle. Mit Gewalt zwangen die Hamas-Kämpfer die Fatah-Führung zur Flucht aus Gaza, allen voran die Militärkommandanten. Der Rest des Sicherheitsapparats, der von der Palästinensischen Autonomiebehörde aus Ramallah bezahlt wurde, musste seine Waffen abgeben und nach Hause gehen. Für Ordnung sorgen seitdem die schwarz uniformierten Polizisten der Hamas.
Mustafa Sawaf
Abbas beschuldigt die Hamas, „ein Schattenkabinett“ zu führen, das von der PA Geld verlangt, aber nicht mit ihr kooperiert. Damit soll nun Schluss sein. Schritt für Schritt kürzt Abbas die Zuwendungen, und Israel zieht mit. „Was in Gaza vor sich geht, ist ein interner Kampf zwischen Hamas und Fatah“, kommentierte Israels Verteidigungsminister Avigdor Lieberman. Nur wer die Rechnung bezahlt, bekommt von Israel Strom. Was geschäftlich logisch erscheint, heißt für zwei Millionen Palästinenser: Sie müssen im Dunkeln ausharren.
Israelische Sicherheitsexperten fürchten, dass sich der Unmut der Eingeschlossenen Luft machen wird, in einen Aufstand gegen die Hamas-Führung enden könnte und möglicherweise zu einem weiteren Krieg gegen Israel führt.
Abbas kürzte Gehälter
Familie Murad verbringt den Tag mit offenen Türen in der Hoffnung, dass hin und wieder ein Luftzug die unerträgliche Hitze vertreibt. „Wir können unsere Klimaanlage nicht betätigen, wir haben noch nicht mal einen Ventilator oder auch nur kaltes Wasser.“ Adnan Murad ist von Abbas’ Kürzungen doppelt betroffen. Bis zur Machtergreifung der Hamas gehörte der junge Familienvater zum Sicherheitsapparat der PA und verdiente als Polizist rund 1.500 Euro, auch nachdem die Hamas ihn in den Ruhestand zwang.
Die Autonomiebehörde bezahlt die 50.000 bis 60.000 Fatah-nahen Beamten im Gazastreifen weiter, obwohl nur noch wenige arbeiten. Vor drei Monaten aber ließ Abbas die Beamtengehälter um ein Drittel kürzen.
Murad bekommt seither nur noch knapp 1.000 Euro im Monat, muss aber gleichzeitig mehr bezahlen: Für Strom aus dem Generator, der „gerade mal ausreicht für ein paar Lampen und den Fernseher“, sagt Murad. Der Strom ist siebenmal so teuer wie der aus dem städtischen Netz. Hinzu kommen die Kosten für Wasser, denn aus dem Hahn fließt nur alle vier Tage Frischwasser, und dann auch nur zwei Stunden lang.
Wenn es zufällig zeitgleich Strom gibt, dann kann die Familie den Wasserbehälter auf dem Dach füllen, als Vorrat. Wenn nicht, muss die Familie Frischwasser von privaten Entsalzungsgesellschaften kaufen, die mit Pumpen und Generatoren ausgerüstete Lastwagen haben.
Als Vorrat nur Geräuchertes
„Sobald der Strom angeht, springen alle auf“, sagt Samah Murad, Adnans Frau. Als Erstes schaltet sie die Waschmaschine an, dann versuchen alle, ihre Handys aufzuladen. Zwischen 8 und 11.30 Uhr morgens gab es bislang Strom und nocheinmal kurz vor Mitternacht, dann drei bis vier Stunden lang.
Die Murads zählen mit ihren regelmäßigen Einnahmen und ihrem eigenen kleinen Haus trotz der Energiekrise und trotz der jüngsten Gehaltskürzungen zu den privilegierteren Menschen im Gazastreifen. Die Mehrheit ist arbeitslos und ohne Einkünfte. „Wir haben unser Auto verkauft und können uns nicht mehr leisten, an Festtagen die Verwandtschaft einzuladen“, sagt Adnan Murad und klingt erschöpft.
Außerdem muss der 20-jährige Hazem, der älteste Sohn, die Familie unterstützen. Hazem will Elektriker werden. Sobald ihm seine Ausbildung dafür Zeit lässt, trocknet er Fisch und Fleisch in einem kleinen Holzofen. In der Hitze hält sich kaum etwas anderes als Geräuchertes. „Wir kaufen Nahrungsmittel nie mehr auf Vorrat“, sagt Vater Adnan Murad, „immer nur so viel, wie wir gleich verbrauchen“.
Die Luft in Gaza flimmert in der Mittagssonne, der Dunst von Abwasser und Generatorenabgas wabert. Die Leute sind müde und wütend vor allem auf die eigene Führung, auf Israel und Ägypten, die beiden Nachbarn, die die Grenzen geschlossen halten, und viele auf Abbas.
Murad hingegen zeigt Verständnis für den Palästinenserpräsidenten. „Erst wenn die PA die Kontrolle übernimmt, können wir wieder normal hier leben.“ Sein Sohn Hazem nickt. „Wenn die Hamas unter Druck steht, wird sie die Fatah nach Gaza zurückkehren lassen.“
Die Tricks des Ex-Geheimdienstchefs
Abbas ist im Zugzwang. Mohammad Dahlan ist sein schärfster innerparteilicher Gegner. Er droht damit, nach Gaza zurückzukehren. Der einst gefürchtete Chef des Fatah-nahen Geheimdiensts im Gazastreifen musste vor der Hamas fliehen und später auch aus dem Westjordanland, wo er in Ungnade fiel bei Abbas. Dort ging das Gerücht um, er sei an der tödlichen Vergiftung des früheren Palästinenserchefs Jassir Arafat beteiligt gewesen.
Der Weg zurück nach Gaza öffnete sich für Dahlan mit der Wahl von Jihia al-Sinwar zum neuen Hamas-Chef Anfang des Jahres. Die beiden wuchsen zusammen in einem Flüchtlingslager auf. Der Pakt zwischen den Freunden aus den zerstrittenen Fraktionen ist für beide ein Gewinn.
Dahlan verfügt über gute Beziehungen zur ägyptischen Führung, er setzte sich erfolgreich dafür ein, dass die Grenze sporadisch geöffnet wird und dass Ägypten jüngst eine Million Liter Treibstoff lieferten. Al-Sinwar soll umgekehrt dafür sorgen, dass Dahlan von der Hamas nicht sofort an die Wand gestellt wird, wenn er in den Gazastreifen zurückkehrt.
Ganz geheuer ist der Dahlan-Hamas-Pakt dem Generaldirektor des Kulturministeriums in Gaza, Mustafa Sawaf, nicht. „Er macht uns keine Angst“, sagt der Hamas-Mann über den ungeliebten Partner, es klingt nicht sehr überzeugend. Vorläufig begrüße er Dahlans Anstrengungen, die Krise im Gazastreifen einzudämmen. Wo Interessen sind, sei alles möglich, sagt Sawaf und räumt ein, dass „Dahlan den Schlüssel zu Kairo in der Hand hält“.
Hoffen auf Hilfe aus Ägypten
Mit seiner Hilfe werde die Hamas-Führung in Gaza verhindern, dass Abbas dort wieder die Kontrolle übernimmt. „Hamas wird sich niemals in die Knie zwingen lassen.“
Sawaf ist Anfang 60, trägt einen gepflegten grauen Vollbart und sitzt im Sessel seines Empfangszimmers, in dem eine Neonlampe leuchtet, obwohl es mitten am Tag ist. Er schimpft. Auf Israel, die arabischen Staaten, die nichts dafür täten, die Blockade aufzubrechen, auf die Autonomiebehörde und auf die internationale Gemeinschaft, die sich mit ihrem Schweigen an der Misere der Menschen in Gaza mitschuldig mache. Am Ende ginge es um größere Ziele, um „die Nation, um unsere heiligen Kultstätten und um die Freiheit. Deshalb sind wir geduldig.“
Sawaf hofft auf Ägyptens Hilfe. Kairo werde bald nicht nur Treibstoff liefern, sondern auch andere Waren. Zwei Millionen Palästinenser bedeuteten auch für Ägypten einen attraktiven Absatzmarkt. Während Sawaf über die rosige Zukunft Gazas schwärmt, fängt das Licht in der Neonlampe an zu zittern. Schließlich geht es ganz aus.
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