Lyrik von Mila Haugová: Schlagfertigkeit der Seele
Alterssexualität, der Doppelpunkt als Dominantseptakkord: Für ihre Lyrik erhält Mila Haugová Anerkennung auch außerhalb der Slowakei.
Insgesamt 23 Gedichtbände musste die 1942 in Budapest geborene, seit Langem in Levice und Bratislava heimische Mila Haugová in der kleinen slowakischen Sprache veröffentlichen, um der Anerkennung teilhaftig zu werden, wie sie nur wenige internationale Literaturpreise in Aussicht stellen. Mit dem Erhalt des „Vilenica Prize“ 2020 steht die für jüngere slowakische Lyriker:innengenerationen maßgebliche Haugová endlich in einer Reihe mit den namhaftesten Schriftsteller:innen der Welt.
Parallel zu ihrer späten Würdigung zeichnet sie gemeinsam mit Anja Utler verantwortlich für die Übersetzung einer repräsentativen Auswahl an Gedichten aus ihren letzten drei slowakischen Büchern: „Zwischen zwei Leeren“ ist ihre dritte lyrische Publikation in der „Edition Korrespondenzen“ und ihre insgesamt sechste auf Deutsch.
Der Titel, und das ist seine Schwäche, verweist nicht auf Haugovás große Leitthemen: die weibliche Autonomie in Liebesbeziehungen und familiären Kreisen, die Generationenfrage, die Aufhebung scheinbarer Gegensätze wie Natur und Kultur oder Verstand und Gefühl, das Leib-Seele-Problem, das spirituelle und mystische Erlebnis, die antike Mythologie und ihre Aktualisierungen. Doch er hält präzise den Kummer fest, in dem die Motive eingetaucht sind im autobiografisch grundierten Alterswerk der Lyrikerin.
Typisch für dieses Alterswerk ist seine „Ungegenwart“. Unter dieser Hegel’schen Negation sind die unzähligen Rückschauen in der Abwesenheit einer unmittelbar erlebten Gegenwart und einer persönlich vorgestellten Zukunft adäquat zusammengefasst. Die Zukunft ist Sache der weiblichen Nachkommenschaft geworden, der „Tochter“ und der „Töchter meiner Tochter“: „ich will nicht groß werden weil dann stirbst du“, wird eine Enkelin zitiert. Und der Gegenwart redet ständig die Vergangenheit über den Mund: „es gibt kein einziges neues / Erlebnis mehr das sich nicht verfangen würde in einer Erinnerung“. Haugovás von Bedauern gelenkte Poesie gipfelt in der Ernüchterung, dass die Vergangenheit sich nicht „geraderücken“ lasse.
Mila Haugová: „Zwischen zwei Leeren“. Aus dem Slowakischen von Anja Utler und der Autorin. Edition Korrespondenzen, Wien 2020, 136 Seiten, 20 Euro.
Auch das Sichverfangen, das ein Weiterkommen behindert oder in eine vielleicht unerwünschte Richtung ablenkt, wäre eine Schwäche des Gedichtbandes, wenn dahinter nicht etwa ein ganzes poetisches Konstruktionsprinzip stecken würde. Die „Pflanzentagebücher XXX“ mit ihrer kosmologischen und edenhaften Gartenmetapher geben Auskunft darüber: Eine Natter macht sich im „nassen Garten“ als „schlanker silbergrauer Körper“ bemerkbar, das macht die Gärtnerin neugierig und ängstlich, was zu ihrem Entschluss führt, „das Gras ganz kurz [zu] schneiden / so dass sie kein Versteck mehr hat“.
Die angepeilte Sichtbarmachung der Natter durch das Grasschneiden verfängt sich im selben Text schließlich in einer Kombination biblischer Sinnbildhaftigkeit und sexueller Fantasie, die bei Haugová eingebettet ist im übergeordneten Komplex der Alterssexualität: „Ich habe lange/ mit niemandem mehr geschlafen ist die Schlange wirklich ein / Symbol der Verführung?“ In einem anderen Gedicht ist es eine „keltische Stille“, die vermeintliche Disparatheiten „unterirdisch“ miteinander verknüpft, um das „umfassende Chaos der wahrgenommenen / Dinge“ ein Stück weit zu bändigen.
Das ist keine bildungsbürgerliche Heranführung an poetische Konstrukte, sondern ein poetopsychologischer Versuch der Definierung von Archetypen. Ein solcher ist die weibliche Urform Alfa, die hier Nester baut und dort als „eingeborene Vertikale“ zu den „Gestalten der Tiefe“ gehört. Oder der „Urstern in rotem Zerfall“. Oder das „immer wieder […] aus der Dunkelheit“ tauchende Tier. Und wenn Haugová den Archetyp sprachlich nicht fassen kann, weil „von dem was wir kennen […] nichts / das älteste“ sei, dann grenzt sie ihn raumzeitlich vom menschlichen Erkenntnisvermögen ab. Das tut sie bisweilen mit vagen Begrifflichkeiten wie „Vorherrede“ oder „Vor-Erschaffenes“.
Um sich Archetypen und Ursprüngen anzunähern, wägt Haugová auch Theorien ab. Ihre liebste Sprachursprungstheorie ist typischerweise feministischer Natur: „die Theorie dass die Sprache beim Sex entstanden ist gefällt mir besser / in der Tiefe der Lust kam aus der Kehle der Frau ein langes aaa…“ – wiederum eine Referenz auf die weibliche Urform und den „griechischen Buchstaben Alfa“.
Doch ihr Unternehmen bevorzugt weitgehend den Traum in seiner psychoanalytischen Dimension und ist dementsprechend nicht frei von Hermetik, „codierter Sprache“ und „Privatsprache“. So sind Haugovás Gedichte oft Traumnotate, die, wenn sie aus zeitlicher Distanz durch die entsprechenden Traumdeutungen ergänzt werden, mit zwei Jahreszahlen datiert sind. Die „Pflanzentagebücher XXXIV“ sind mit dem Datum „1996–2016“ versehen: Im Traum erscheint ein Mann mit „asiatisch glatten / Haaren“, und in der Traumdeutung herrscht Gewissheit: „Es ist O.“, „ein Chinese aus Malaysia“.
Analysand:in und Analytiker:in finden bei Haugová ihre poetische Entsprechung in „Traumsuche“ und „Traumheiler“, zwischen denen stets der „Traumzaun“ als interpretatorische Hürde ragt. „Traumzaun“ – das ist eine psychoanalytische Abwandlung des Celan’schen „Sprachgitters“.
Um solchen verschlungenen Komplexitäten lyrisch gerecht zu werden, hat Haugová über Jahrzehnte hinweg ein quasimusikalisches Notationssystem entwickelt, das sich zu Adornos kurzem Entwurf über das „geschichtliche Wesen der Satzzeichen“ wie ein poetisches Abbild verhält. Beiden geht jegliche „Gebärde der Autorität“ vollkommen ab. Die autoritärste war für Adorno das Ausrufungszeichen. In Haugovás Gedichten ist es fast getilgt, wie auch das Komma und das Semikolon. Was vorherrscht, ist der mundaufsperrende, von Adorno mit dem Dominantseptakkord verglichene Doppelpunkt, den Haugová, ganz adornitisch, „nahrhaft füttert“.
Es heißt einmal: „der Lebenswille lockert sein Seil“. Haugovás Alterswerk tut es nicht, im Gegenteil, es ist eine Manifestation von „Tempo und Schlagfertigkeit der Seele“. Es ist innerlich derart vibrierend unaufgeräumt, dass die von ihm verzauberte Lyrikwelt auf seine Fortsetzung hoffen darf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW