Lukaschenko-Gegnerin über Proteste: „Weibliche Energie“
Weltweit organisieren Auslandsbelaruss*innen Solidaritätsveranstaltungen. Anna Shkor hat die Berliner Demonstrationen mit organisiert.
taz: Frau Shkor, Sie gehen mit anderen Belaruss*innen in Berlin auf die Straße. Warum ist es für Sie wichtig, Solidarität mit der Protestbewegung in Belarus zu zeigen?
Anna Shkor: Wir wollen als Protestierende in Berlin und Deutschland darüber informieren, was wirklich in Belarus passiert, wir wollen die politischen Akteur*innen auf die Situation aufmerksam machen und wir wollen die Vorgänge richtig darstellen. Wir haben ja schon vor den Wahlen in Belarus angefangen zu protestieren. Wir wollten erreichen, dass unsere Wähler*innenstimmen korrekt gezählt werden. Als wir sahen, dass dies nicht passierte, und wir immer mehr Nachrichten über die Gewalt gegen die Demonstranten erhielten, war unser erster Gedanke, nach Belarus zu gehen und da zu protestieren. Dann aber wurde uns klar, dass hier in Deutschland unser Protest besser durchdringen würde. Die Solidaritätsproteste sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs.
30, ist eine Architektin aus Minsk. Sie lebt und arbeitet seit 2016 in Berlin.
Was unterscheidet diese Proteste denn von den Protesten nach den vorherigen Präsidentschaftswahlen in Belarus 2010?
Erstens gibt es keine einzige Belaruss*in, die nicht von dem, was gerade passiert, betroffen ist. Sie oder er ist entweder selbst ein Opfer der dortigen Polizeigewalt oder kennt eine Person, die verhaftet, verprügelt oder von der Polizei verletzt wurde. Als ich nach den Präsidentschaftswahlen 2010 an den Protesten in Belarus teilnahm, hatte ich das Gefühl, dass, obwohl Lukaschenko höchstwahrscheinlich nicht so viele Stimmen bekam, wie es amtlich verkündet wurde, er immer noch tatsächlich gewonnen hatte. Dieses Mal sind sich die Leute einfach komplett sicher, dass er nicht gewonnen hat. Aber der größte Unterschied zu vielen Protesten momentan weltweit ist aus meiner Sicht, dass die Protestierenden bis jetzt keinerlei Gewalt zeigen. Es gibt zum Beispiel keine verbrannten Autos in Belarus, keine Pogrome. Dies ist ein wirklich friedlicher Protest. Deshalb sind wir zum Beispiel stark dagegen, dass dieser Protest jetzt im Land mit dem ukrainischen Maidan von 2013 und 2014 verglichen wird.
Wenn man sich nun die Bilder von den momentanen Protesten genau ansieht, kann man das Gefühl bekommen, dass sie ein stark weibliches Gesicht haben. Die Frauen sind in der Protestbewegung zurzeit besonders sichtbar.
Präsident Lukaschenko nennt Frauen Schafe und sagt im Ernst, dass nur ein Mann Präsident von Belarus sein kann. Natürlich sind die Frauen damit nicht einverstanden. Aber ich finde nicht, dass der Protest ein weibliches Gesicht hat. Ich denke, er hat eher weibliche Energie. Weil es um die Abwesenheit von Gewalt geht.
Würden Sie das, was jetzt seit einiger Zeit in Belarus passiert, als eine Revolution bezeichnen?
Für mich hat das Wort Revolution etwas mit Krieg zu tun. Während einer Revolution sind beide Seiten gewalttätig. Das ist hier nicht der Fall.
Menschen aus postsowjetischen Ländern, die in Westeuropa leben, werden oft kritisiert, wenn sie von dort gegen Regierungen in ihren Heimatländern protestieren. „Warum protestiert ihr, ihr seid doch in einem sicheren Land und kehrt doch wahrscheinlich sowieso nicht mehr nach Hause zurück“, bekommen Sie dann zu hören. Was entgegnen Sie?
Sowohl die Deutschen als auch die Belaruss*innen haben mich oft gefragt, ob ich zurückkehren will. Ich habe immer gesagt: Ich möchte etwas hier in Deutschland lernen und das dann in Belarus umsetzen. Wenn ich ganz ehrlich bin, glaubte ich erst mal nicht, dass es so kommen wird. Mir wurde im Laufe der letzten Jahre klar, dass das belarussische Regime das nicht zulassen würde. Jetzt aber, in diesen bewegten Tagen, habe ich die Hoffnung, dass mein Plan tatsächlich funktionieren könnte. Wir Belaruss*innen wollen die gleiche Lebensqualität wie in Deutschland. Wir wünschen uns Kommunikation mit der Polizei. Wir wollen Freiheit und Demokratie für unser Land. Ich will in meinem Heimatland leben. Ich will zurück nach Belarus. Das entgegne ich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja