Lügendetektoren vor Gericht: Nichts als die Wahrheit
Opferschutzverbände fordern ein Ende von Lügendetektor-Tests vor Gericht. Ein gesetzliches Verbot der umstrittenen Methode ist aber nicht geplant.

Das ist tatsächlich Praxis in einigen wenigen Verhandlungen in deutschen Familiengerichten. Und die ist umstritten. Die taz hatte vor knapp zwei Wochen von einem dramatischen Fall in Chemnitz berichtet. Über 22 Jahre hatte ein Vater mindestens zehn Kinder schwer sexuell missbraucht. Er konnte das unter anderem deswegen so lange unbehelligt tun, weil ein „forensisch-physiopsychologisches Gutachten“, also ein Lügendetektor, ihn in einem früheren Verfahren entlastet hatte.
Anfang dieses Jahres wurde doch der Prozess gegen den Mann eröffnet. Er gestand, das Landgericht verurteilte ihn zu 10 Jahren und 6 Monaten Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sein Anwalt hat dagegen Revision eingelegt.
Opferberatungen sehen verheerende Folgen
Franziska Drohsel ist juristische Referentin bei der Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatungen. Das ist der Dachverband für Beratungsstellen, die zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen arbeiten. Der Fall von Chemnitz zeige, „welch verheerende Folgen ein Lügendetektor in einem Gerichtsverfahren hat“, sagt Drohsel.
Er mache ein weiteres Mal deutlich, dass es sich bei dem Lügendetektor um ein „absolut ungeeignetes Beweismittel“ handele. Drohsel fordert, dass die Methode in keinem Gerichtsverfahren mehr zur Anwendung kommen sollte.
Ähnlich argumentiert auch Christiane Hentschker-Bringt von der Landesarbeitsgemeinschaft Sexualisierte Gewalt in Sachsen. Der Lügendetektor vermittle eine „trügerische Sicherheit“. „Statt technischer Scheinlösungen brauchen Familiengerichte und andere Verfahrensbeteiligte fundiertes Wissen über manipulative Täterstrategien und die daraus entstehenden Familiendynamiken.“ Fachberatungsstellen sollten stärker einbezogen werden, so Hentschker-Bringt gegenüber der taz.
Der Bundesgerichtshof hatte Polygraphen, wie Lügendetektoren eigentlich genannt werden, 1998 als „völlig ungeeignet“ bezeichnet. Verboten ist ihr Einsatz damit nicht, aber an Bedingungen geknüpft. So muss die Teilnahme an einem Polygraphentest freiwillig erfolgen, sein Einsatz darf nur eines unter mehreren Beweismitteln sein.
Konsequenzen aus dem Fehlurteil von Chemnitz
Die meisten Gerichte halten sich an die höchstrichterliche Rechtssprechung und verzichten auf Polygraphen-Gutachten. Eine Handvoll Gerichte setzt sie trotzdem ein. Welche Konsequenzen ziehen diese Gerichte nun aus dem verheerenden Fehlurteil in Chemnitz?
Wer mit Familienrichter*innen in unterschiedlichen Gerichten und Instanzen spricht, der stößt vor allem auf Unverständnis für die Methode. Eine „absolute Katastrophe“ sei der Fall von Chemnitz. Eine Prognose, ob sie polygrafische Gutachten auch in Zukunft weiter zulassen, kann allerdings keines der befragten Gerichte abgeben. Es gilt die richterliche Unabhängigkeit.
Aber es zeigt sich eine Tendenz unter den wenigen Gerichten, die in den vergangenen Jahren polygrafische Gutachten herangezogen oder für zuverlässig erklärt haben. Am Amtsgericht Schwäbisch-Hall hatte eine Richterin zuletzt 2022 ein solches Gutachten in Auftrag gegeben. Die Richterin hat das Gericht mittlerweile verlassen, seitdem sei es dort „keine geübte Praxis“ mehr, das Verfahren einzusetzen, sagt der Direktor.
Auch am Amtsgericht Koblenz, wo zuletzt 2017 ein polygrafisches Gutachten eingeholt wurde, heißt es, in den vergangenen fünf Jahren sei keines mehr herangezogen worden. Am Amtsgericht Dresden liegt das letzte entsprechende Verfahren fünf Jahre zurück. Am Amtsgericht Bautzen, wo es in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder Polygraphentests gab, heißt es, aktuell sei kein Fall absehbar, in dem ein solches Gutachten eingeholt werde.
Auch in den höheren Instanzen, die sich zuletzt mit dem Einsatz von Polygraphen beschäftigt hatten, scheinen die Gerichte Abstand zu nehmen. Am OLG Koblenz sei in den vergangenen fünf Jahren kein Fall mehr bekannt, bei dem der Polygraf eingesetzt wurde, am OLG Dresden ebenfalls nicht.
Justizministerium schließt Verbot aus
Den Polygraphen tatsächlich zu verbieten, ist so gut wie ausgeschlossen. Gesetzlich verboten sind vor allem Vernehmungsmethoden, die gegen die Menschenwürde oder das Völkerrecht verstoßen, wie zum Beispiel Folter. Das Bundesjustizministerium könnte theoretisch die Strafprozessordnung ändern und dort den Polygraphen als unzulässiges Beweismittel verbieten.
Das sei aber nicht geplant, schreibt eine Sprecherin auf taz-Anfrage. Das Ministerium gehe allerdings davon aus, dass durch die höchstrichterliche Rechtsprechung auch ohne einen Katalog unzulässiger Beweismethoden „ausreichend konkretisiert worden“ sei, „unter welchen Voraussetzungen ein Beweismittel als geeignet oder ungeeignet anzusehen ist“.
In Chemnitz, wo ein polygrafisches Gutachten den angeklagten Vater fälschlich entlastet hatte, will man den Polygraphen jedenfalls nicht mehr einsetzen.
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