Lorenzo Annese über Integration: „VW ist für mich eine Familie“
Als erster ausländischer Betriebsrat in Deutschland half Lorenzo Annese bei VW in Wolfsburg auch anderen Gastarbeitern. Das wurde nun gewürdigt.
taz: Herr Annese, Sie haben gerade das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Aber in die Wiege gelegt wurde Ihnen das ja nicht. Fangen wir mal von vorne an: Wie sah Ihre Kindheit aus?
Lorenzo Annese: Ich hatte keine Kindheit. 1937 wurde ich in Apulien als das dritte von sechs Kindern geboren. Mit siebeneinhalb Jahren musste ich arbeiten, nicht für Geld, nur für Essen und ein Dach. In Italien hatte 1940 der verdammte Krieg begonnen, dazu kam Elend, Krankheit und Armut. Wir waren alle verlaust. Wir hatten wirklich nichts, manchmal auch kein Wasser. Einer nach dem andern haben wir uns in einer Waschschüssel gewaschen. Der Älteste musste der Erste sein, also saß mein kleiner Bruder immer im Dreckwasser.
taz: Und Ihre Eltern?
Annese: Die waren beide Feldarbeiter. Meine Mutter erkrankte schwer. Sie konnte nicht mehr laufen und lag sechs bis sieben Monate. Wir konnten ihr nicht helfen, dann lief der Dorfarzt gut 50 Kilometer bis nach Bari, dort waren schon die Amerikaner, besorgte Medizin und rettete sie. Mein Vater wurde später auch krank, aber es war weniger sein Körper, es waren die Lebensumstände, die ihn krank machten. Eigentlich war er ein lustiger Mensch, hat Harmonika gespielt, aber irgendwann war er nicht mehr er selbst. Das war die Folge von diesem verrückten Krieg. Wenn ich heute Bilder aus der Ukraine sehe, dann kann ich das alles fühlen, weil wir das erlebt haben.
Der Mensch
Lorenzo Annese, geboren 1937 in Apulien, entflieht 1958 als „Gastarbeiter“ der Armut dort und findet in Wolfsburg und bei VW eine neue Heimat. 1965 wird er der erste ausländische Betriebsrat in der Bundesrepublik. Anfang Oktober ehrte Frank-Walter Steinmeier sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz.
Die Arbeit
Weil Arbeitskräfte im Land fehlten, schloss die Bundesrepublik am 20. Dezember 1955 mit Italien das erste Anwerbeabkommen ab. Eines der Zentren der italienischen Einwanderung wurde Wolfsburg mit dem VW-Werk. Die Italiener kamen aber erst nach dem Bau der Mauer. Bis dahin konnte der Bedarf an Arbeitskräften durch geflohene DDR-Bürger gedeckt werden. Ende 1961 gab Volkswagen bekannt, dass man „gezwungen sei, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben“. Am 17. Januar 1962 trafen die ersten „Gastarbeiter“ aus Italien in Wolfsburg ein. Mit Lorenzo Annese hatten sie einen Ansprechpartner, er baute Brücken bei Sprachbarrieren, half bei der Bürokratie und organisierte Weihnachtsfeiern, die es bis heute gibt.
taz: Wie ging es weiter in Ihrem Leben?
Annese: Nachher, wie ich ein bisschen älter wurde, habe ich bei Familien mit Land gewohnt. Ich habe gearbeitet und dafür Essen, Trinken und einen kleinen Lohn bekommen. Später mit 14 oder 15 fing ich als Tagelöhner an. An einer Stelle nicht weit von der Kirche in Alberobello sammelten wir uns abends und boten unsere Arbeitskraft an. Da kamen Kleingrundbesitzer, die uns für ein, zwei Tage zur Weinernte oder Getreideernte brauchten. Wie auf dem Viehmarkt wurden die Preise ausgehandelt. 50 Lire pro Tag, das reichte nicht mal fürs Kino.
taz: Gingen Sie zur Schule?
Annese: Als ich 13 war, richteten sie in der Stadt eine Abendschule für Analphabeten ein. Also ging ich fünf Jahre, während der Wintermonate, fünf Tage die Woche dort hin. Viel gebracht hat es nicht, was willst du nach einem ganzen Tag Schuften noch lernen? Mit 14 fängt man ja auch langsam an, nach Mädchen zu gucken, also war die Schule eher zweitrangig.
taz: Haben Sie gar nichts mitgenommen?
Annese: Ein bisschen hat es schon geholfen, Kino aber mindestens genauso. In den Filmen haben sie Hochitalienisch gesprochen, und ich verstand anfangs nur Bruchstücke. Das Kino war nicht groß und der Besitzer das Mädchen für alles. Er stand an der Tür, machte den Einlass, verkaufte die Eintrittskarten und guckte nach allem. Da bot ich ihm an, mich an die Tür zu stellen und die Karten zu kontrollieren. So konnte ich ab und zu mal den Vorhang wegschieben und die Filme schauen, sonst hätte ich mir das nicht leisten können.
taz: Wann kamen Sie nach Deutschland?
Annese: 1958 entschied ich mich, wegzugehen. Mein Bruder kam schon 1957 nach Bokensdorf in Niedersachsen mit einem Arbeitsvertrag für ein Jahr in der Landwirtschaft. Ich fragte ihn, ob ich nicht nachkommen könne. Ein Jahr später war ich dann auch hier.
taz. Wie war das?
Annese: Ich war davor noch nie weg von zu Hause, höchstens ein bis zwei Nachbardörfer für ein paar Stunden. Auf der Fahrt dachte ich mir: Menschenskinder, hast du dich verlaufen? Die Reise dauerte drei Tage und zweieinhalb Nächte. Die Züge hielten wie Eselskarren in jedem Dorf. In München am Bahnhof gaben mir zwei Nonnen Proviant, einen Apfel und ein belegtes Brot. Beim Auspacken kam mir schon ein komischer Geruch entgegen. Der Belag schimmelte. Ich warf es aus dem Fenster und ärgerte mich, dass ich der Armut der Heimat entfloh, nur um in der Ferne altes Brot essen zu müssen. Heute weiß ich, es war Schimmelkäse, was Feines. Umso länger ich fuhr, umso nervöser wurde ich, und die letzte Stunde von Hannover bis Wolfsburg war eine Ewigkeit. Kurz vor Mitternacht kam ich in Wolfsburg an. Mein Bruder und sein Chef standen am Bahnsteig.
taz: Wie war Ihr erster Eindruck?
Annese: Es war stockdunkel, trotz des Sommers, keine Laterne, kein Licht, nichts, nur die Taschenlampe meines Chefs. Um eins haben wir geschlafen, am nächsten Morgen um sechs mussten wir den Stall ausmisten. Das war meine Begrüßung. Das Haus, in dem ich schlief, fiel zusammen, es gab kein Klo, kein Bad, und die Arbeit war hart, aber kapitulieren wollte ich nicht!
taz: Warum?
Annese: Wegen des Geldes und der Liebe! Am zweiten Abend zeigte mir mein Bruder das Dorf. Wir trafen zwei Mädchen, Frieda war eine von ihnen (Annese legt den Arm um seine Frau). Es fing an zu regnen, da hab ich Frieda unter einen Baum gezogen und so getan, als würde ich sie beschützen (lacht). Wir haben uns nicht mehr aus den Augen verloren!
taz: Wie wurde Ihre Beziehung im Dorf aufgenommen?
Annese: Friedas Familie hat mich mit offenen Armen empfangen, ihre Schwester ließ mich, als ich keine Bleibe hatte, auf dem Sofa in der Küche schlafen. In der Nachbarschaft war das ähnlich, als wir uns 1964 offiziell verlobt haben. Aber ein paar Wochen nach der Verlobung kam eine Postkarte, ein Stück Pappe, ein ganz einfaches Ding. Auf Altdeutsch stand da: „Du alte Nutte! Schämst du dich nicht? Hast du überhaupt keinen Nationalstolz, dass du mit einem Italiener gehst?“
taz: Was haben Sie damit gemacht?
Annese: Ich habe sie dem Bürgermeister gebracht, danach habe ich nie wieder etwas gehört. Die Postkarte ist weg, aber die Schrift hat sich in meine Erinnerung gebrannt. Später habe ich sie wiedererkannt, aber ich umarme die Menschen und habe die Deutschen nie über einen Kamm geschoren.
taz: Wie ging es beruflich für Sie weiter?
Annese: Ich arbeitete auf dem Feld und später in einer Baufirma. Habe 30-Kilo-Bimsblöcke im Akkord verladen, pro Stück eineinhalb Pfennig. Jeden Tag sah ich die Züge vorbeifahren, bis oben hin mit Käfern beladen. Ich hatte mich einige Male bei VW beworben. Die durften in dieser Zeit aber keine Fachkräfte abwerben, also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen.
taz: Und zwar?
Annese: Anfang August 1961 schoss mir eine Idee durch den Kopf: Jetzt gehst du als Besucher dorthin und stellst dich vor; wenn das nicht klappt, gehst du zurück nach Italien. Um 14.30 Uhr ging ich zu einer Werksbesichtigung, schlich mich weg und bewarb mich persönlich in der Personalabteilung. Da waren zwei Sekretärinnen und fragten, was ich hier wolle. „Ich will mit dem Chef sprechen!“, sagte ich, und nach einem bisschen Hin und Her kam ein ganz eleganter Mensch, der Gruppenleiter Willy Weiß, und stellte mich mit den Worten: „Ist ja nicht dumm, wa“, ein.
taz: Wann kamen die ersten Gastarbeiter zu VW?
Annese: August 1961 habe ich bei VW im Karosserierohbau angefangen. 1962 kamen die ersten Italiener. Ich wurde von der Arbeit freigestellt, um sie zu betreuen, abzuholen und ihnen zu zeigen, was sie zu machen hatten: Waschkaue und Stempel, Unfall und Belehrung – ich war das Mädchen für alles!
taz: Wann wurden Sie Betriebsrat?
Annese: 1965 waren Betriebsratswahlen. Die IG Metall nahm mich auf ihre Liste, aber das Betriebsverfassungsgesetz gab es nicht her, dass ein Ausländer kandidieren durfte. Erst nach Gesprächen mit dem Betriebsrat, VW und dem Wahlausschuss durfte ich es doch. Das Betriebsverfassungsgesetz wurde also geändert und ich ab 1965 immer wieder aufgestellt und gewählt, bis ich ausgeschieden bin. So wurde ich das erste ausländische Betriebsratsmitglied in der Bundesrepublik Deutschland. Da habe ich mir so einige Spitznamen eingehandelt, Pepone, der Mafioso oder Monsignore (lacht).
taz: Warum Monsignore?
Annese: Ich war der Priester, der Onkel, der Bürgermeister, und unser Haus sah am Wochenende aus wie das Arbeitsamt.
taz: Na dann, Monsignore, wie war das so als Betriebsrat?
Annese: Schon bevor ich Betriebsrat wurde, habe ich Tanzabende für Deutsche und Ausländer organisiert. Nach der Wahl veranstaltete ich auch Weihnachtsfeiern unter dem Motto „Wir arbeiten zusammen, wir leben zusammen, wir feiern zusammen!“ Im alten Gewerkschaftshaus war ein großer Saal mit über 500 Plätzen. Gäste mussten 50 Pfennig Eintritt bezahlen, sodass die Kosten für die Räumlichkeiten und eine Kapelle gedeckt waren. Die IG Metall ist als Garant aufgetreten und hat die Preise für eine kleine Tombola bezahlt. Man konnte ein Fahrrad und paar andere Sachen gewinnen. Ich war so aufgeregt und mir nicht sicher, ob wir den Saal voll bekommen. Letztendlich haben sie uns überrannt, und irgendwann konnten wir nicht mehr alle reinlassen. Die Weihnachtsfeier gibt es immer noch.
taz: Wie war es im Werk?
Annese: Von Anfang an haben wir dafür gesorgt, dass die Italiener oder überhaupt die Ausländer überall zerstreut in sämtlichen Produktionsbereichen saßen. Später kam die Kritik, dass sie nicht in den Fachabteilungen waren. Das stimmt! Aber ich kann ja keinen als Fachkraft einstellen, wenn er keine ist.
taz: Wie war das Arbeitsklima?
Annese: Immer sehr herzlich, in Krisenzeiten aber auch mal angespannter. Circa ab 1968 war Volkswagen in einer Krise, man hatte Angst um Arbeitsplätze, da fing es mit Schmierereien an. In den Toiletten stand an den Wänden „Itaker raus“. Also lief ich jeden Tag durch das Werk, ging in die Umkleiden und Sanitäranlagen und verlangte, dass die Sprüche entfernt werden.
taz: Gab es noch mehr Gegenwind zu spüren?
Annese: 1962 gab es einen Aufstand in der Unterkunft Berliner Brücke in Wolfsburg, Märchenerzähler sagen, dass es an den miserablen Zuständen im Lager gelegten hätte. Dummes Zeug! Dieser Aufstand war initiiert von einem großen Automobilwerk in Italien. Die jammerten in Norditalien, dass sie niemand zum Produzieren hätten, sie könnten nichts mit den ungebildeten Analphabeten aus dem Süden Italiens anfangen. Volkswagen nahm genau diese und steigerte seine Produktion um 100.000 Fahrzeuge. Das war möglich, obwohl die Leute kein Deutsch sprachen und die Fluktuation hoch war. Da kann man auch zu heute eine Parallele ziehen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Wie meinen Sie das?
Annese: Ich will damit sagen, dass die Unternehmer und die Politik verantwortlich sind. Sie müssen einen Beitrag leisten, um die Menschen zu integrieren, und können nicht nur kassieren. Aber alle müssen mitziehen: die Unternehmer, die Politik und die Menschen.
taz: Ist der Umgang mit Geflüchteten heute und Gastarbeitern damals ein ähnlicher?
Annese: Das weiß ich nicht. Vielleicht schon. Die Menschen, die kommen, sind keine Verbrecher, und trotzdem, wie damals, meckern die Leute. Man spielt sie gegeneinander aus, so war das mit den Gastarbeitern auch. In den Sechzigern forderten mehr Frauen Arbeit. Zu Recht! Sie bekamen oft keine und man machte die Ausländer dafür verantwortlich, aber das ist falsch. Wenn du Arbeitsplätze brauchst, dann baue welche. Mein Rat: Leute, hört auf rumzusülzen. Wenn die Menschen kommen, egal woher, gebt ihnen Arbeit! Arbeit integriert. Die Unternehmen müssen ihren Beitrag leisten. Wenn sie das nicht können, sollten sie sich anders organisieren, dann funktioniert das auch.
taz: 2001 wurden Sie Kommunalrat, wie war Ihre Erfahrung in der Politik?
Annese: Es war die gleiche wie im Betriebsrat. Denn die Politik wollte uns auch erst mal nicht, egal welche Partei, auch die SPD nicht. Ich bin SPD-Mitglied seit Anfang an, obwohl Ausländer nur wählen, nicht aber gewählt werden durften. 1985 haben wir symbolische Kommunalwahlen abgehalten, um eine Entwicklung zu fordern. Der Landtag änderte es, damit konnte ich Kommunalrat werden. Alles erkämpft, nichts wurde uns geschenkt.
taz: Wie haben Sie die großen Skandale bei VW erlebt?
Annese: VW ist für mich mehr als ein Skandal oder ein Betrieb. VW ist für mich eine Familie, natürlich mit Problemen, wie in jeder großen Familie halt. In der Zeit der schmuddeligen Skandale war ich schon nicht mehr im Werk tätig. An Orten mit viel Macht und Geld gibt es auch immer Machtmissbrauch. Weltweit gibt es über 800.000 Mitarbeiter; es ist schwer, so ein Imperium zu regieren. Aber wenn jeder bei sich selbst anfängt, ist es möglich.
taz: Sind Sie optimistisch, dass VW es mal wieder aus der Krise schafft?
Annese: Ja, natürlich, wie immer!
taz: Wie blicken Sie auf die heutige Volkswagen-Betriebsratschefin Daniela Cavallo?
Annese: Ich schätze die Frau sehr. Da gehört eine ganze Portion Mut dazu, so etwas zu machen. Ich bin stolz, nicht nur weil sie italienische Vorfahren hat, sondern weil sie sich traut, sich so einem Giganten zu stellen. Ich habe ihr versprochen: Wenn es brennt, komme ich mit meiner Trillerpfeife (lacht).
taz: Sind Sie ihr Wegbereiter?
Annese: Ein Stück weit bestimmt, aber vor allem ist die Gewerkschaft mein Wegbereiter und meine zweite Heimat. Sie hat mir beigebracht, mich nicht zu bücken, nicht immer zu nicken, den Kopf hoch zu halten und mich zu behaupten. Das schätze ich sehr. Ohne Gewerkschaften hätten wir nicht das, was wir jetzt haben. Es kommt kein Arbeitgeber und schenkt dir irgendwas.
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