Lokführerstreik in Berlin: S-Bahn-Kunden sind schmerzfrei
Zwei Stunden lang fährt am Dienstagmorgen kaum ein Zug - bei eisigen Temperaturen. Grund: der Lokführer-Streik. Über die Ausfälle können viele Kunden nur noch schmunzeln .
Dienstagmorgen, kurz nach halb sieben Uhr morgens: Die Anzeigentafel am S-Bahnhof Treptower Park verspricht, dass die nächste Ringbahn in genau 59 Minuten kommt. Das ist sogar für Berliner Verhältnisse eine Rekordwartezeit.
Auf dem Bahnsteig stehen gerade mal sechs Fahrgäste in der Kälte. Sie sind irritiert, denn auf zwei der vier Gleise stehen S-Bahn-Züge. Schon seit geraumer Zeit. Die Kunden schauen auf ihre Uhren und suchen das Servicepersonal. Irgendwann spricht schließlich einer den Lokführer an und fragt, ob dieser Zug nach Blankenburg fährt. "Dieser Zug fährt erstmal nirgendwo hin", antwortet der Lokführer freundlich und erklärt dem Fahrgast, dass gestreikt wird. Verdutzte Blicke, andere Fahrgäste kommen dazu. Sie stellen Fragen über Fragen: "Wie komme ich zum Alexanderplatz?", "Ich muss zur Greifswalder Straße, wann kommt der nächste Zug?". Der Lokführer empfiehlt, auf die BVG auszuweichen. Die meisten S-Bahn-Kunden nehmen's gelassen.
Kurzfristig angekündigt
Vielleicht liegt es daran, dass sie von dem Unternehmen sowieso nicht mehr viel erwarten. Schließlich kann die S-Bahn schon seit mehr als eineinhalb Jahren nur einen teilweise stark eingeschränkten Service anbieten. Im Dezember und Januar wurden Teilstrecken überhaupt nicht mehr befahren. Genau deshalb hatten Politiker und die Deutsche Bahn, zu der die S-Bahn gehört, gebeten und gefordert, dass letztere vom Warnstreik der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) ausgenommen werde. Ohne Erfolg: Am Montagabend gegen halb Sieben hatte die GDL Streiks in ganz Deutschland angekündigt - eben auch bei der S-Bahn. Zwischen 6 und 8 Uhr morgens sollte kein Zug fahren.
Das klappte weitgehend. Ein Bahnsprecher teilte am Dienstagnachmittag mit, dass es im Raum Berlin-Brandenburg zu "flächendeckenden Ausfällen" gekommen sei. Nur vereinzelt seien Züge im Regional- und Fernverkehr unterwegs gewesen.
Die Folge: Viele Busse und Trams vor allem im Osten der Stadt sind proppevoll, am Dienstagmorgen sind auch deutlich mehr Autos unterwegs als sonst. Und: Nicht alle S-Bahnkunden wissen über den kurzfristig anberaumten Ausstand und den Grund dafür bescheid. Drei Frauen auf dem Bahnhof Treptower Park befragen einen Lokführer über die Umstände. "Ich verstehe Sie ja, mein Vater ist auch Lokführer", sagt eine junge Frau mit roten Haaren zu dem Mann. "Aber warum denn, wenn es so kalt ist", fragt sie mit vor Kälte hochgezogenen Schultern.
Der Lokführer, ein Mann Mitte 50, beantwortet geduldig alle Fragen und verteilt Flyer mit Informationen zum Warnstreik. Er arbeitete seit den späten 60er-Jahren bei der Bahn, seit über 20 Jahren ist er Lokführer bei der S-Bahn. Um Punkt 6 Uhr sei er am Dienstagmorgen mit seinem Zug auf den S-Bahnhof eingefahren. "Ich habe der Zentrale mitgeteilt, dass ich jetzt entweder hier zwei Stunden stehen bleibe - oder noch bis zum Ostkreuz weiterfahre und dort die Ringbahn blockiere", berichtet er.
Doch die Ringbahn fährt sowieso nicht. Am Ostkreuz gibt es lediglich einen Pendelverkehr zwischen Bahnhof Lichtenberg und Ostbahnhof. Hier steuern die wenigen Lokführer, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, die Züge.
Auf den Pendelzug wartet eine 25-Jährige Referendarin einer Lichtenberger Schule. Es ist halb acht, eigentlich müsste sie in einer halben Stunde zum Deutschunterricht in einer 7. Klasse sein. Das ist unmöglich. Die Verspätung nimmt sie gelassen. "Rock'n'Roll", sprudelt es aus der angehenden Lehrerin heraus. Sie finde sowieso, dass es mehr Streikkultur in Deutschland geben müsse. "In Frankreich und Belgien ist das völlig normal, dass mindestens ein mal die Woche vier Stunden lang gar nichts geht", sagt sie und fügt hinzu, dass Deutsche zu gewissenhaft seien.
Dazu passt, dass die S-Bahn "Entschuldigungszettel" a la Mami verteilt. So kann jeder seine Verspätung begründen. Und an einigen S-Bahnhöfen spendiert die Bahn kostenlos Tee, Kaffee und sogar Verzehrgutscheine für ein Frühstücksbrötchen - was angesichts der eisigen Temperaturen von bis zu minus zehn Grad gerne angenommen wird.
Pünktlich um 8 Uhr nehmen die Lokführer ihre Arbeit wieder auf. Bis sich der S-Bahn-Verkehr normalisiert hat, dauert es aber noch bis Mittag.
Wirtschaft und Umwelt SEITE 7
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Scholz zu Besuch bei Ford
Gas geben für den Wahlkampf
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins