Lokalwahlen in Tunesien: Jetzt nicht aus dem Staub machen
Tunesien entwickelt sich immer mehr zur Autokratie. Umso wichtiger wird Europa als Partner der dortigen Zivilgesellschaft.
W er auf der Suche nach einem ruhigen und menschenleeren Ort ist, solle einfach eines der Wahllokale aufsuchen, hieß es am vergangenen Sonntag auf sozialen Medien. Mit bissigen Witzen wie diesem kommentierten viele Tunesier:innen die Lokalwahlen in ihrem Land. Ohne Wahlkampf, Informationen über die Kandidaten oder den genauen Aufgabenbereich der neuen Parlamentskammer nahm kaum jemand von der Wahl Notiz. Dass in dem ehemaligen Vorzeigeland des Arabischen Frühlings nur noch jede:r Zehnte die Stimme abgibt, ist dramatisch.
Die Mehrheit hält Präsident Kais Saied immer noch für eine ehrliche Haut und nimmt ihm ab, gegen Radikale und die Wirtschaftsmafia vorzugehen. Doch seine Versprechen hat er bisher nicht halten können. Wer dies kritisiert, gerät schnell ins Visier seiner Anhänger. In Europas wichtigstem afrikanischen Partnerland beim Thema Migration haben vor allem junge Leute längst nur noch einen Lebensplan: Auswandern, am besten nach Europa.
Europa will wegen der ebenfalls rekordverdächtigen Zahl der aus Tunesien auf Lampedusa ankommenden Boote am vereinbarten Migrationsabkommen festhalten. Obwohl aktuell wieder Flüchtlinge von den Sicherheitskräften im Grenzgebiet zu Libyen ausgesetzt werden. Der Abschluss des Basisdemokratie-Experiments von Kais Saied muss nun dazu genutzt werden, nachzuverhandeln. Macht sich der Westen aus dem Staub, wird die Lage für die Migrant:innen und die tunesische Zivilgesellschaft noch schwieriger.
Der Besuch des russischen Außenministers Sergei Lawrow in Tunis und die neuen Wirtschaftsabkommen mit China zeigen: Andere Autokraten warten nur darauf, ein weiteres westliches Vakuum auf dem Kontinent für sich zu nutzen. Durch seine moralischen Doppelstandards gegenüber zivilen Opfern in Gaza und der Ukraine hat der Westen aus Sicht vieler Menschen in Nordafrika jegliche Glaubwürdigkeit eingebüßt. Vielleicht ein guter Moment für einen Dialog auf Augenhöhe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr