Locus-Festival in Apulien: Black-Power-Faust im Ratssaal
Das Locus-Festival in Apulien verbindet die wundersame Landschaft Süditaliens mit zeitgemäßer Subkultur. Es reformiert so eine abgehängte Region.
„Zu Beginn der nuller Jahre“, sagt Vincenzo Bellini, Mitgründer des Locus-Festivals im apulischen Locorotondo, das Künstler:Innen wie Paolo Nutini, Caparezza und die norwegischen Kings of Convenience nach Süditalien brachte, „waren wir vier junge Arbeitslose, die im Musikbereich tätig waren und in Gemeindezentren rumhingen.“ Trotzdem wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Apulien zu verlassen: „Ich habe immer geglaubt, dass ich neben dem Recht zu gehen auch ein Recht auf Bleiben habe.“
Zusammen mit Mimmo Pizzutilo, Paolo Corrado Salato und Gianni Buttiglione gründete Bellini 2001 die Agentur Bass Culture: „Bass“, sagt er, „nicht nur bezogen auf den Klang, sondern auch auf die soziale Skala: weil wir von unten, dal basso, kommen.“
Man fokussierte sich auf die Organisation von Touren und brachte Reggae-Musiker*innen aus Jamaika und die Berliner Band Seeed nach Italien. „Wir haben aus einer glokalen Perspektive versucht, die Dinge hier zu ändern.“ 2003 haben die vier „orthodoxen heterosexuellen Männer“, die Produktion des Gay Pride durchgeführt.
„So bigott Apulien damals war, der Gay Pride war ein Moment des Umbruchs: die Emanzipation von Schwulen in einer extrem katholisch geprägten Region.“ Eine Öffnung, die später als Primavera Pugliese ins kollektive Gedächtnis einging, eine politische Saison, die die Niederlage der Rechtsparteien in den wichtigsten Gemeinden und Provinzen der Region markierte.
Traditionelle apulische Rundhäuser
2005 ist dann die Stadtverwaltung von Locorotondo auf die Agentur zugekommen: „Das Festival sollte die Gegend aus ihrem Schattendasein befreien.“ Der lateinische Name, Locus Rotundus, dem das Festival seinen Namen verdankt, bezieht sich auf die kreisrunde Altstadt, die einen grandiosen Blick über die Landschaft offenbart, das Valle d’Itria. Als „Tal der Trulli“ bekannt, greift auch das Festival-Logo die traditionellen apulischen Rundhäuser in konzentrischen Kreisen auf.
Seit 2019 finden ebenfalls Konzerte in den Nachbarstädten Trani, Fasano, Ostuni, Mola di Bari und Minervino Murge statt. Minervino, der „Balkon Apuliens“. Seinen Ausblick über das Murge-Plateau und seine verwinkelten Gassen im ältesten Viertel Scesciola hatte sich 1963 die italienische Regisseurin Lina Wertmüller in ihrem Spielfilmdebüt „Die Basilisken“ zunutze gemacht.
Musik steht beim Locus-Festival immer in Verbindung mit der Landschaft und der Architektur: Weinberge in Minervino Murge, Sonnenuntergang in der Hafenstadt Trani, eine alte Masseria in Locorotondo.
Bellini will das kulturelle Erbe pflegen: „Seit 2020 veranstalten wir Konzerte im archäologischen Park von Egnazia. Ein wunderschöner Ort, dessen Ausgrabungsstätte auf die frühe römische Kaiserzeit zurückgeht. Er ist aber nicht aufgewertet. Er hat nicht die Zugkraft, die er für das Erbe, das er hat, haben könnte.“ Heute kennen Ortsansässige nicht mehr Egnazia, sondern Borgo Egnazia als Modell, „die unechte, extra-luxuriöse Masseria, in der Superstar Madonna und andere VIPs Urlaub machen.“
Die kulturelle Basis riskieren
Der kulturelle, historische Aspekt sei eliminiert worden, um ein Luxusgut zu gestalten. Das sei ein Mechanismus, mit dem versucht würde, „aus Apulien Sardinien zu machen, Ibiza zu machen. Das ist ein Mechanismus der Transformation, bei dem im Bemühen, Globalisierung zu erreichen, die kulturelle Basis, die Synthese eines Ortes, einer Region riskiert wird.“
Das Festival macht es darum anders: Hier treten sowohl der italienische Cantautore Brunori Sas und der apulische Rapper Caparezza im Parco Archeologico di Egnazia auf. Höhepunkt ist aber das Konzert der norwegischen Folkpopband Kings of Convenience, die die Songs ihres neuen Albums auf den Ländereien des Weinguts Tormaresca mitten in der Murgia-Landschaft vorstellen.
Erlend Øye fordert die Eingeladenen auf den höheren Rängen (der Terrasse der Masseria) zu mehr Enthusiasmus auf: Immerhin hätten sie ihr Ticket nicht bezahlt, sondern über Verbindungen zu den Festivalmachern erschlichen. Auch nach Konzertende tanzte er lieber mit den Festival-Besucher*innen unten auf der Erde, als oben auf den elitären Balkonen, lehnte jedoch Foto- und Autogrammanfragen rigoros ab. Nicht umsonst singt er: „I’d rather dance than talk with you“.
Tickets nach Saudi-Arabien und Hongkong verkauft
Was die Gewinnmargen angehe, so Bellini, versuche man das Festival über einen Ticketpreis von 20 bis 36 Euro für ein heterogenes Publikum erschwinglich zu halten. Das ist okay, beim Paolo-Nutini-Konzert auf der Piazza Duomo in Trani macht allein der zu beobachtende Sonnenuntergang den Ticketpreis wett. Die waren unter anderem auch nach Australien, Argentinien, Saudi-Arabien, Kolumbien und Hongkong verkauft worden.
Die Anfänge des Festivals waren beschwerlich, erinnert sich Bellini. Erst 2007 hat das Festival mit dem Auftritt von Franco Battiato seinen Durchbruch erlebt. Locorotondo sei eine eher rechtsgerichtete Bauerngemeinde. „Es gibt sogar eine Via Almirante, benannt nach Giorgio Almirante, Gründer und Anführer der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano.“
Trotzdem haben sie es geschafft, dass 2014 der nigerianische Musiker Seun Kuti, Sohn Fela Kutis und dessen Band Egypt 80 in Locorotondo aufgetreten sind: „Aus Platzgründen mussten wir den Backstagebereich ins Rathaus verlegen.“ Seun Kuti und Band seien in den Ratssaal gegangen und hätten im Gemeinderat mit erhobener Black-Power-Faust posiert.
Nicht alles ist Brot und Rosen
Warum sich das Festival letztlich etabliert hat? „Wir gehen nachhaltig und freundlich mit Landschaft und Künstler:Innen um, und wir typisieren den Festivalort auch durch das Publikum, das wir anziehen.“ Der Geist der Musik wirkt sich positiv auf die kleine Stadt aus und zieht auch Leute von weit her an. Die Bewohner:Innen haben von den steigenden wirtschaftlichen Erträgen profitiert. „Sie verstanden es zwar nicht, aber da es funktionierte, wurden sie neugierig.“
Die Zahl der Tourist*innen in Locorotondo ist zwischen 2005 und 2019 von 5.165 auf 40.764 um 800 Prozent gestiegen. „Immer im Diskurs des Bruchs mit der katholischen, konservativen Prägung haben wir es geschafft, das Patronatsfest mit einer säkularen, kulturellen Haltung zu flankieren.“
Doch nicht alles ist Brot und Rosen in diesem Narrativ. Inzwischen kostet ein Zimmer in Locorotondo in der Hauptsaison 150 Euro am Tag. „Für 150 Euro“, seufzt Bellini über die Wertsteigerung des nunmehr hippen apulischen Dorfs, zu der er als Festivalmacher aktiv beigetragen hat, „konntest du früher eine Woche logieren.“ Bellini ist genervt von Lokalen, die ihm die Frisella, eine apulische Armenspeise, in Plastik verpackt für 12 Euro präsentieren.
Er möchte sein Publikum in der nächsten Dekade nicht nur in Bezug auf die Musik anleiten: „Das ist unsere Antwort: dem Publikum sagen, dass wir versuchen, es den Ort erleben zu lassen, es in Bezug auf einen lokalen Konsum zu beraten.“ Der musikalische Ansatz, in Verbindung mit der Anziehungskraft eines Raumes soll um eine Reihe von Dienstleistungen erweitert werden: „Gastfreundschaft, touristische Ausflüge, verschiedene Aktionen rund um Musik.“ Anderenfalls, meint Bellini, riskierte der „Mechanismus der Disneyfizierung Apuliens“, die Region sehr bald zu sättigen.
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