Loblied aufs Wattestäbchen: Als würde ich mein Hirn streicheln
Allen Warnungen zum Trotz reinigt unser Autor seine Ohren mit Wattestäbchen. Warum? Die Neurowissenschaft hat dafür durchaus Antworten parat.
Jeden Morgen drehe ich die Duschbrause zu und schiebe die Kabinentür zur Seite; mein Blick schweift nach rechts, zum Spiegelschrank. Der Arm reicht gerade so zum Knauf, aber nicht ganz dorthin, wo er hin soll: zu einem Pappröhrchen von 7,5 Zentimetern, feste Baumwolle an beiden Enden, gerade mal 0,4 Gramm schwer. Ein Wattestäbchen. Dies zarte Ding ist mein persönlicher Rückzugsort.
Also steige ich aus der Dusche und fingere das Objekt meines Verlangens aus dem kleinen Karton. Ich klemme das Stäbchen zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger, führe es ins rechte Ohr, kreise fünf Mal, bleibe nach jeder Drehung an einer Stelle kurz stehen und übe etwas Druck aus – ungefähr dort, wo der Gehörgang dem Ohrläppchen am nächsten ist. Dann drehe ich das Stäbchen, nehme es in die linke Hand und gehe in das andere Loch.
Es ist, als würde ich mein Hirn streicheln. Ein Gefühl von Geborgenheit, schneller als Instantnudeln.
Die Ärztin, der Biolehrer, die Krankenkasse, die Erziehungspersonen, bevormundende Friends, alle sagen es: Wattestäbchen gehören niemals! ins! Ohr! Landet das Thema einmal auf dem Tisch, haut einem jede*r Zweite eine schmalzig-schmerzhafte Anekdote um die Ohren. Die Stäbchen schieben den Schmalz nur rein, sie können sogar das Trommelfell durchlöchern (und so langfristig dem Gleichgewichtssinn schaden).
Weil „hygge“ von Hyggeiene kommt
Aber sorry: Das sanfte Kreisen ist nun mal ungemein befriedigend, mein freudiges Laster. Andere böllern, ich reinige meine Ohren mit Wattestäbchen. Weil „hygge“ eben von Hyggeiene kommt.
Von Berufs wegen arbeitet vor allem die HNO-Zunft gegen mich. Da ist viel Alarm, und in den 1970ern ging der los, mit wissenschaftlichen Artikeln über Gebrauch und Missbrauch von Wattestäbchen, über die „Hauptursache von Ohrverletzungen und Hörverlust“. Ein „Problem, das bisher in der Literatur zu wenig Beachtung gefunden hat“, so eröffnet eine Studie von 1974 – sie untersuchte US-amerikanische Vorstadtmütter, wie sie ihren Kindern die Ohren reinigten.
Was übrigens genau das Szenario ist, aus dem heraus die Stäbchen 50 Jahre zuvor erfunden wurden. 1923 beobachtete Leo Gerstenzang, ein Mann in der Quarterlife-Crisis, seine Frau, wie sie Wattebällchen an einem Zahnstocher befestigte, um ihrem Kind die Ohren zu reinigen. Wenig später brachte er vorproduzierte Wattestäbchen in die Geschäfte, anfangs noch als „Baby Gays“, bevor sie den Namen „Q-Tips“ bekamen (Q für Quality).
Reparaturen, Modellbau, Katzen striegeln
Mit der Zeit erweiterte sich die Marktnische der Stäbchen. In den 1950ern bewarb die Firma sie mit den Worten „Babies aren’t the only ones … today the whole human race uses 'Q-Tips!“ und dichtete den Stäbchen neue Zwecke an: Salben und Schminke auftragen, Reparaturen und Modellbau, Katzen striegeln, sogar das Reinigen von Gewehren. Heute werden Wattestäbchen recht allgemein für Kosmetik, Hygiene und Babypflege vermarktet. Von ihrem ursprünglichen Nutzen raten dann die Verpackungsrückseiten ab: „Nicht in den Gehörgang einführen!“
Doch wäre das wirklich so schlimm? Nur wenige Fachartikel beschwichtigen – wie der aus dem International Journal of Head and Neck Surgery mit dem geschmeidigen Titel „To Swab or Not to Swab“ von 2016: Zwar gebe es Unfälle mit Wattestäbchen, „dennoch reinigt ein Großteil der Bevölkerung die Ohren unbeschadet mit Wattestäbchen (unter ihnen viele HNO-Ärzt*innen)“. Wie groß dieser Großteil ist, können wir nur erahnen – eine Umfrage von 2011 in Südostengland kommt auf 68 Prozent.
Wenn selbst die es tun, die es besser wissen müssten, wenn Vernunft und Warnungen ihr Ziel verfehlen, dann sind wir offenbar etwas Großem auf der Spur. Und das Große trägt einen Namen: Vagusnerv. Das ist der größte Nerv des Parasympathikus, und der ist innerhalb unseres vegetativen Nervensystems der lässige Gegenspieler des Sympathikus.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Während letzterer nämlich ein Highperformer ist, der die Pupillen weitet, den Puls erhöht, den Orgasmus ermöglicht, macht der Parasympathikus so ziemlich das Gegenteil. Er spielt im Team „Entspannung“ und mit ihm auch der Vagusnerv. Der verbindet Kopf und Darm, übermittelt den Geschmack von der Zunge und: Er reicht bis zum Außenohr. Sie merken: Jetzt sind wir dem Geheimnis der Ohr-Hyggeiene ganz nah.
„Ob Sie beim Ohrenreinigen den Vagusnerv treffen, hängt sehr davon ab, wie er bei Ihnen verläuft“, sagt der Neurowissenschaftler Nils Kroemer von der Uni Bonn. Er selbst kenne zum Beispiel kein sonderlich befriedigendes Gefühl beim Gehörgangputzen.
Es hilft sogar gegen Depressionen
Der Vagusnerv ist Kroemers Spezialgebiet. Er forscht dazu, was passiert, wenn wir den Nerv stimulieren – wie es die Kommunikation zwischen Magen und Hirn verstärkt, wie es den Menschen entspannt, Motivation anregt, wohl sogar gegen Epilepsie und therapieresistente Depressionen helfen kann. Hört man Kroemer zu, so erscheint der HNO-Bereich wie ein Abenteuerspielplatz, und das nicht nur für ihn als Forscher, sondern potenziell für uns alle. Denn: Es ist nicht nur von Person zu Person unterschiedlich, wann wir wie den Vagusnerv treffen. Es gibt auch verschiedenste technische und touchy Methoden, um ihn zu reizen: Schellen, die um Nervenfasern implantiert werden, Akupunktur oder Elektrodenclips für die Ohren, die Signale abgeben wie ein Herzschrittmacher.
„An einem Punkt haben Sie die größte Chance, den Vagusnerv zu treffen: an der Cymba Conchae“, sagt Kroemer, und für den wahrscheinlichen Fall, dass Ihnen das nichts sagt: Das ist der kleine Graben zwischen zwei Knorpeln über dem Hörloch. Mit dem Tragus wiederum bräuchten Sie etwas mehr Glück – das ist der kleine knorpelige Lappen, den Sie mit dem Finger auf Ihren Gehörgang drücken können, wenn Sie Ruhe wollen. Also, rein akustisch jetzt.
Politisch gesprochen lässt sich festhalten, dass wir als sympathikusfixierte Wesen öfter unseren Vagusnerv streicheln sollten, ob nun aus egozentrisch-haptischen oder gesellschaftlich-revolutionären Motiven. Es kann doch nicht sein, dass mein innerer Einklang mittels zehn Runden durch den Gehörgang seinen täglichen Höhepunkt findet. Oder dass es dazu Wattebäusche an Pappstielen braucht. Ich werde mich ändern und fange morgen damit an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern