Lkw-Verkehr nach dem Brexit: Der Frust fährt mit
Erst Corona, dann Brexit – jetzt ist die britische Grenze dicht. Unser fünftägiger Roadtrip mit einem Mann, dem die EU nichts gebracht hat.
S amstag, 9 Uhr, Dagenham, Ostlondon
Für Axel Fischer bedeutet der Brexit erst mal Warten. An diesem Samstag ist es 16 Tage her, dass Großbritannien die EU verlassen hat, jetzt kriegt Fischer die Folgen zu spüren. Seit sechs Tagen ist er unterwegs. Eigentlich wollte er in Dagenham nur kurz halten, um seine Zollpapiere abzuholen. Doch Wayne, der Zollagent, der seine Zollpapiere fertig machen sollte und ihn jetzt im zweiten Stock des Speditionsgebäudes hinter einer Plexiglasscheibe empfängt, muss ihn enttäuschen. Die Papiere für die Mikrowellen, die Fischer von Nordwales nach Gütersloh bringen soll, liegen bei den Behörden. Wann sie von dort zurückkommen, könne er nicht sagen.
In der Fahrerkabine seines Lkws lehnt sich Fischer auf seinem Schwingsitz zurück. Er verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Er trägt seine Arbeitskleidung, graue Jeans, dunkelblauen Pullover, neongelbe Warnweste. Sein grauer Kinnbart hat sich seit Beginn der Tour auf die Wangen ausgebreitet, seine Brille sitzt etwas schief, die Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen. Resigniert schaut er über den mit Lkw-Anhängern zugeparkten Speditionsparkplatz.
Morgen feiert Fischers Frau ihren 59. Geburtstag, es soll einen Brunch geben. Fischer will deshalb eigentlich heute Abend in Hiddenhausen, Kreis Herford, zurück sein. Wenn Wayne nicht in den nächsten Stunden mit fertigen Papieren an die Fahrerkabine klopft, wird daraus nichts. „Das Stehen macht mir nichts, wenn ich genau weiß, wie lange – wenn ich weiß, dann und dann geht’s weiter“, sagt Fischer. „Aber diese Ungewissheit, die zermürbt.“
Er wartet mal wieder
Am 1. Januar 2021 ist mit dem endgültigen EU-Austritt Großbritanniens eine neue Grenze in Europa entstanden. Lkw-Fahrer Axel Fischer gehört zu denen, die die Folgen dieser historischen Entscheidung direkt zu spüren bekommen. Aber auch zu denen, die die Entscheidung der Briten verstehen können. Die EU habe ihm persönlich nichts gebracht, sagt er.
Einen Tag zuvor, 6 Uhr, Crewe, Nordengland
Fischer, 60, steht vor den Toren einer Lagerhalle und wartet auf Stan. Der ist heute spät dran. Eigentlich sollten die sechs Luxusautokarosserien aus Leipzig, die Fischer hierhergefahren hat, jetzt ausgeladen werden. Um zwei Uhr morgens ist Fischer in London losgefahren, um den Termin zu schaffen. Jetzt wartet er erst einmal wieder.
Zehn Minuten später taucht Stan auf. Fischer und er kennen sich seit Jahren. Zuletzt gesehen haben sie sich vor Weihnachten, da hat Fischer auch hier angeliefert. „Wann warst du dann zu Hause?“, fragt Stan. „Am Sonntag nach Weihnachten“, sagt Fischer. „Schlimm“, sagt Stan.
Ursprünglich sollte Fischer damals am 23. Dezember zu Hause sein, pünktlich zum Fest. Aber die Nachricht von der neuen Coronavirusmutation in Großbritannien und die anschließende Grenzschließung erwischten ihn auf dem Heimweg. Weihnachten verbrachte er auf der Autobahn, in einer endlosen Lkw-Schlange die auf dem Randstreifen stand. „Aber die Anwohner haben uns gutes Essen gebracht, Suppe und Pizza von Tesco“, erzählt er Stan.
Eine Stunde dauert das Abladen. Es ist eiskalt. Fischer trägt nur einen Pullover, er schwitzt. Haken lösen, Gurte lockern, Plane öffnen, Planken abnehmen, auf die Leiter klettern, Dach anheben. Stan bewegt den Gabelstapler, holt die Karosserien vom Truck und setzt sie in ordentlichen Reihen ab.
Axel Fischer sieht bei seiner Arbeit jeden Tag den Warenstrom, der sich durch Europa zieht. Er ist Teil dieses Stroms, er bewegt ihn mit. Wenn er von seinem Werdegang erzählt, gehört dazu immer auch die Geschichte der europäischen Integration – als ein Prozess, der das Leben vieler Menschen verändert hat, der vielen Vorteile gebracht hat, Menschen wie Axel Fischer aber auch Nachteile.
Fischer arbeitet, seit er 15 ist. 1984 wird er Lkw-Fahrer, der dritte in der Familie, nach Vater und Großvater. Es sind die goldenen Zeiten des Fernverkehrs. Ohne Navi, ohne elektronische Kontrolle der erlaubten Fahrzeiten, ohne GPS-Tracking aus der Zentrale, ohne Handy und eng getaktete Liefertermine, nur mit Karte und Lieferadresse werden die Fahrer auf die Straße geschickt. Trucker sein, das bedeutet damals Freiheit. Fischer fängt bei einem Möbelhersteller an. Es ist harte Arbeit.
Heute schmerzen ihm die Knie vom jahrelangen Küchenschleppen. Aber er verdient damals gutes Geld. Er arbeitet 260 Stunden im Monat, wird pro Arbeitsstunde bezahlt. Er sorgt für seine vier Kinder, baut ein Haus. In dem schläft er zwar nur selten, aber daran hat er sich gewöhnt. Im Vorabendprogramm läuft damals die Serie „Auf Achse“ mit Manfred Krug. Das Truckerleben darin ist eine Aneinanderreihung von Abenteuern, Partys und krummen Dingern. Fischer schaut die Serie oft zum Einschlafen in der Fahrerkabine. Die DVDs liegen noch heute bei ihm zu Hause.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Es gibt ein Ritual aus dieser Zeit, das Fischer wichtig ist. Wird Fischer von einem anderen Lkw überholt, signalisiert er dem überholenden Fahrer per Lichthupe, wann dieser sich einordnen kann. Das Heck der oft über 17 Meter langen Fahrzeuge sieht man durch die Seitenspiegel kaum, bei zu frühem Spurwechsel kommen Unfälle vor. Im dichten Verkehr des Londoner Rings ist das Ritual eine echte Hilfe. Zum Dank blinkt der überholende Lkw beim Einordnen. Einmal links, einmal rechts, einmal links. Eine kleine Lichtshow gegen die Einsamkeit der Straße.
Montag, 15 Uhr, Thurrock, Ostengland
Wayne, der Zollagent, hat am Samstag nicht mehr an Fischers Fenster geklopft. Am Sonntag auch nicht. Fischer muss weiter in England bleiben. Er steht mit seinem blauen Jumbo-Lkw, 18,75 Meter lang, auf einer Raststätte in Thurrock, östlich von London. Die Raststätte ist so voll, dass einige Lkws auf Bus- und Pkw-Parkplätzen stehen. Heute wird Fischer die vierte Nacht hier verbringen. Sein grauer Kinnbart ist mittlerweile zu einem Vollbart geworden.
Langsam werden die Vorräte knapp. Unter seinem Bett in der Fahrerkabine hat er ein Kühlfach, aus dem er sich unterwegs ernährt. Mettwurst, Schinken, Margarine, Streichkäse, Gouda, saure Gurken, Tomaten, Fertigsuppe und Mehrkornbrot liegen darin.
Aber heute gibt es warmes Essen. Zahlt Fischer statt 35 Pfund 37 Pfund fürs Parken, kriegt er einen 10-Pfund-Essengutschein für die Fast-Food-Restaurants auf der Raststätte. Fischer geht zu Burger King. Er will ein Chicken-Royale-Bacon-Menü ordern, aber dabei bleibt immer ein bisschen Geld auf dem Gutschein übrig. Die Bedienung sagt ihm, dass er ohne Zuzahlung auch ein Double-Chicken-Menü haben kann, damit er den Gutschein voll ausnutzt. „Nett“, sagt Fischer. „Das macht heutzutage auch nicht mehr jeder.“
2005 enden Fischers goldene Jahre. Die Logistikbranche befindet sich im Umbruch. 2004 sind im Rahmen der Osterweiterung Polen, Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern und Malta der EU beigetreten. Viele deutsche Firmen lagern ihre Logistik an osteuropäische Speditionen aus.
Auch Fischers Arbeitgeber will Kosten sparen. Fischer und seinen vier Kollegen wird zweimal gekündigt, zweimal werden die Kündigungen vor Gericht aufgehoben. Aber die Firma lässt nicht locker, nimmt Fischer seinen Lkw weg und signalisiert ihm jeden Tag, dass er nicht mehr erwünscht ist. Er ist zu stolz, sich an seinen Job zu klammern. Er kündigt.
Der Zeitpunkt ist ungünstig. Zu guten Konditionen stellt niemand mehr Fahrer ein. Fischer steht vor der Wahl: Entweder nimmt er einen schlecht bezahlten Job als Fernfahrer an und kann die Kreditraten für sein Haus nicht mehr bezahlen. Oder er macht sich selbstständig und versucht, genug Geld zu verdienen, um sein Haus zu halten. Fischer entscheidet sich für die Selbstständigkeit. Von seinem Ersparten kauft er einen Kühl-Lkw. Als Subunternehmer einer großen Spedition fährt er Frischfleisch von Spanien nach Schottland, Speiseeis von Osnabrück nach Portugal. Zweieinhalb Jahre funktioniert das.
Dienstag, 12 Uhr, Thurrock, Ostengland
Fischer steht an der Raststätte in der Schlange für den Coronatest. Zum zweiten Mal innerhalb von vier Tagen. Die Tests sind 72 Stunden gültig, Fischers erster Test ist bereits abgelaufen. Einen weißen Container und zwei blaue Pavillons hat die britische Regierung für die Tests aufgestellt. Zwei große Poster hängen an dem Container: „UK’s new start. Let’s get going“. So wirbt die britische Regierung bei den wartenden Lkw-Fahrern für den Brexit.
Die meiste Zeit steht Fischer schweigend in der Schlange, gelegentlich dreht er sich eine Zigarette. 47 andere Fahrer warten mit ihm. Hinter ihm ein schlanker Slowene und ein breiter Bulgare in blauer Bomberjacke mit Fellkragen. In gebrochenem Englisch und mit vielen Gesten unterhalten sie sich. Wie lange er auf die Zollpapiere gewartet habe, fragt der eine. „Vier Tage“, sagt Fischer. Am Morgen hat ihn die Spedition angerufen. Die Papiere sind da, er darf endlich losfahren. Wäre da nicht Corona, könnte Fischer heute Abend in Deutschland sein.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Die drei Männer tauschen sich aus. Der Slowene erzählt, er verdiene 950 Euro brutto. Dafür zahle ihm die Firma hohe Prämien und Spesen, meist komme er damit auf 2.400 Euro im Monat. Bei Krankheit und Rente sehe es jedoch schlecht für ihn aus, Sozialabgaben zahlt sein Arbeitgeber nur auf das Bruttogehalt.
Mit Spesen für jeden gefahrenen Tag und Leistungsprämien für Monate ohne Krankschreibung verdient Fischer etwas mehr als der slowenische Kollege. Der genaue Betrag soll nicht in der Zeitung stehen.
Später im Truck erzählt Fischer eine Anekdote. Neulich habe sich ein Pole bei ihm beschwert: „Ey, die Rumänen und Bulgaren machen uns die Preise kaputt.“ Da musste Fischer lachen. „Ey, vor 15 Jahren habt ihr das bei uns gemacht“, hat er geantwortet.
Als Fischer 1987 seine erste Tour nach England fährt, sind die Fahrer an den Raststätten noch zum großen Teil Deutsche. Abends geht man in den Pub, unterhält sich. Heute ist das anders: Wer im Fernverkehr mit Alkohol am Steuer erwischt wird, fliegt sofort raus. „Ich kann mich auch mit kaum jemandem richtig unterhalten“, sagt Fischer. „Es spricht ja niemand Deutsch.“
Er habe nichts gegen die ausländischen Fahrer, sagt Fischer. Das seien Kollegen. Diejenigen von ihnen, die über Wochen, manchmal sogar Monate am Stück unterwegs seien und dafür schlechter bezahlt würden als er, täten ihm leid.
Axel Fischer
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal welche Nationalität, das würde er sich wünschen. „Wenn alle Fahrer auch nur einen Tag zusammen streiken würden, könnten wir das erreichen“, sagt Fischer. Supermärkte blieben leer, Bänder müssten stillstehen. Aber so wie es steht, kann er mit den meisten Fahrern noch nicht einmal darüber reden, was sie gestern gefrühstückt haben. Um 16 Uhr, nach vier Stunden Warten bei eisigem Wind, bekommt Fischer sein zweites Testergebnis. Negativ. Was bei einem positiven Testergebnis passiert wäre, mag er sich nicht vorstellen. Quarantäne in der Fahrerkabine hieße es dann wohl.
Dienstag, 17 Uhr, Autobahn M20 bei Ashford, Südostengland
Auf dem Weg zum Eurotunnel passiert Fischer einen Kontrollposten. Eine Frau in Regenparka und Warnweste fragt nach seinem Coronatest. Derzeit dürfen nur Lkw-Fahrer mit negativem Coronatest auf die letzten Autobahnkilometer in Richtung Eurotunnel.
Wenn Fischer fährt, telefoniert er oft. Mit seiner Familie, aber auch mit Sebastian. Sebastian war mal ein junger Kollege von Fischer. Drei Jahre ist er die Englandtour gefahren. Dann fand er eine Freundin, und das ständige Wegsein wurde ihm zu viel. Er kündigte. Jetzt hat Sebastian einen Fahrerjob, bei dem er an den meisten Abenden vor 17 Uhr zu Hause ist. Fischer versteht sich ein wenig als Sebastians Mentor. Wenn Sebastian ihm sagt, dass er kaputt sei, rät Fischer ihm: „Wenn’s irgendwie geht, geh zur Arbeit.“ Denn Fischer weiß: „Viel musst du heute nicht mehr falsch machen, damit sie dich rausschmeißen. Da stehen genug andere in den Startlöchern.“
Fischer hat diese Lektion auf die harte Tour gelernt, damals, in der Selbstständigkeit, Zweieinhalb Jahre fährt er fast ununterbrochen, verdient gerade genug Geld, um seine Kreditraten abzuzahlen und die Familie zu ernähren. 82 Cent pro Kilometer bekommt er zunächst, 95 Cent pro Kilometer sind es später. Dann aber drängt ihn die Spedition, für die er als Subunternehmer fährt, zusätzliche Fahrzeuge anzuschaffen und mehr Fahrten zu machen. Fischer fühlt sich unwohl. Er weiß, er ist Fahrer, nicht Unternehmer. Aber aus Angst, seinen Auftraggeber zu verärgern, expandiert er, stellt zusätzliche Fahrer an, mietet vier weitere Lkws.
2008, kurz nachdem er die zusätzlichen Lkws angeschafft hat, zahlt sein Auftraggeber nicht mehr pünktlich. Oft kommt auch nur die Hälfte, ein Drittel oder gar nur ein Viertel des vereinbarten Betrags. Es ist die Zeit der Finanzkrise. Fischers Bank will ihm kein Geld leihen, um die ausgefallenen Zahlungen zu kompensieren. Im April 2008 geht Fischer pleite.
Er verliert seine Arbeit, sein Haus, viele Freunde. Er sagt: „Ich habe geschäftlich bestimmt nicht alles richtig gemacht.“ Aber bis heute ist er davon überzeugt, dass die Spedition ihn auch abschoss, weil die Konkurrenz aus Osteuropa billiger fuhr.
Dienstag, 19 Uhr, Folkestone, am Ärmelkanal
Fischer macht sich bereit für die Nacht. Nach dem Fahren gibt es nicht mehr viel zu tun. Er hat ein Tablet dabei, Netflix, Amazon Prime und Disney Plus im Abo. Gerade schaut er die erste Folge einer Serie, in der eine Familie versucht, missverstandene Monster zu retten. Nach knapp 50 Minuten gibt er auf. Das Ganze ist ihm zu abgedreht. Fischers Lkw ist erst drei Monate alt, er hat eine Standheizung, eine USB-Ladebuchse und ein Nachtlicht über dem Bett. Fischer legt sich auf seine Matratze, die in der Mitte 80 Zentimeter breit ist, an Kopf und Füßen 70 Zentimeter. Er zieht die Decke bis ans Kinn und schläft ein.
Wenn Fischer über das Jahr 2008 redet, wühlt ihn das heute noch auf. „Damals bin ich explodiert, bin laut geworden“, sagt er. Als er auf dem Amt Sozialhilfe beantragt habe, ohne Job und mit vier Kindern, erklärte man ihm, er habe als Selbstständiger keine Ansprüche auf Hilfe. Nach einem Termin bei einer Beratungsstelle kommt er wieder, diesmal wird ihm geholfen, 200 Euro pro Woche kriegen er und seine Familie. Zweieinhalb Monate ist er arbeitslos. Psychisch ist er am Boden, an manchen Tagen kommt er kaum aus dem Bett. Dann findet er einen neuen Job.
Eurotunnel voraus
Er fährt jetzt für ein Subunternehmen die Nachttransporte der DHL, bringt Pakete von Verteilerzentrum zu Verteilerzentrum. Am Montagmittag verlässt er die Wohnung, am Samstagmittag kommt er wieder heim. Tagsüber muss er auf Rastplätzen schlafen. Es ist Sommer und heiß, sein Lkw hat keine Standklimaanlage. Er schwitzt, kommt kaum zur Ruhe. Nach einigen Wochen kommt ein Brief vom Amt: Da er weniger als drei Monate arbeitslos war, solle er bitte die 200 Euro Unterstützung pro Woche zurückzahlen. Fischer kann sich kaum noch aufregen. In kleinen Raten zahlt er das Geld ans Amt zurück.
Mittwoch, 3.30 Uhr, Folkestone
Der Wecker seines Handys klingelt Fischer aus dem Schlaf. Er hat schlecht geschlafen, braucht jetzt dringend einen Kaffee. Er setzt einen Topf Wasser auf den Gaskocher und schüttelt sich. Dann dreht er sich eine Zigarette. Fischer holt eine Broschüre aus einer Schublade im Armaturenbrett. „Get ready for pit stops!“, steht darauf. Sie soll die Fahrer auf die neuen Zollkontrollen vorbereiten. Fischer liest sie. Was jetzt auf ihn zukommt, weiß er aber immer noch nicht wirklich. Er lässt den Motor an. Der Eurotunnel ist noch neun Kilometer entfernt.
Spaß macht Fischer die Arbeit heute nur noch selten. Er sagt, er habe sich daran gewöhnt. Sich seinen Stundenlohn ausrechnen, inklusive der Stunden, die er abends und nachts allein in seiner 3-Quadratmeter-Kabine auf Rastplätzen verbringt? „Das darf man einfach nicht machen.“
Eineinhalb Jahre fährt Fischer nach seiner Pleite die Nachttransporte der DHL. An den Wochenenden hat er tagsüber Schwierigkeiten, wach zu bleiben, nachts geistert er durch die Wohnung. Dann hält er es nicht mehr aus und kündigt. Einige Male wechselt er noch seinen Job. Manche Speditionen halten sich nicht an Vereinbarungen, andere bezahlen unpünktlich oder gar nicht.
Im Mai 2012 beginnt er bei der Spedition Kottmeyer. Seitdem fährt er für sie nach England und durch Europa. Der Job ist anstrengend, aber Kottmeyers seien in diesem harten Geschäft mit niedrigen Margen und langen Arbeitszeiten anständige Leute. „Mein Geld ist immer pünktlich am 10. des Monats da, manchmal sogar früher“, sagt Fischer. Für ihn ist die Stelle bei Kottmeyers nach den turbulenten Vorjahren ein sicherer Hafen.
Mittwoch, 5 Uhr, Folkestone
Fischer nähert sich dem Eurotunnel. Der Check-in läuft erstaunlich unkompliziert. Zweimal werden Pass und Coronatest kontrolliert, einmal von britischen Beamten, einmal von französischen. Dann wird kurz der Zustand von Fischers Truck überprüft. Die Zollerklärung muss Fischer schon gar nicht mehr vorlegen, sie ist im System hinterlegt und wird über sein Kennzeichen ausgelesen. Schon darf Fischer mit seinem Lkw auf den Zug rollen, der ihn in die EU zurückbringen wird.
Kein Ort steht wohl derart für die Errungenschaften, aber auch für das Versagen der EU wie der Eurotunnel. 175 Meter unter den Wellen des Ärmelkanals gräbt er sich von den weißen Kreidefelsen Dovers bis zum französischen Festland. Er ist knapp 50 Kilometer lang, 35 Minuten dauert die Durchfahrt. Fährt man heute durch den Eurotunnel, zeigt das Handy selbst am tiefsten Punkt vier Balken Empfang und eine LTE-Verbindung.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite erwartet einen in Calais. Wie ein in einen Hochsicherheitstrakt umgewandelter Tagebau sieht das Lkw-Terminal dort aus. Straßen und Gleise sind von vier Meter hohen weißen Metallzäunen mit Stacheldraht an der Spitze umgeben. Das gesamte Gelände wird von gelben und weißen Strahlern ausgeleuchtet. Eine vier Meter hohe Betonmauer, einen Kilometer lang, trennt das Terminal von dem Ort, an dem bis 2016 Hunderte Geflüchtete ihr Lager aufgeschlagen hatten. Circa 2,5 Millionen Euro hat die Mauer gekostet, bezahlt hat sie Großbritannien. In Calais wirkt es, als befinde sich die EU im Krieg.
Seit seiner Eröffnung vor 25 Jahren ist Fischer über 1.500-mal durch den Eurotunnel gefahren. Wenn er sich von europäischer Seite dem Eurotunnel nähert, steigt schon Hunderte Kilometer vor der Ankunft langsam seine Aufmerksamkeit. Fischer und seine Kollegen haben Anweisungen, in Belgien und Frankreich außer zum Tanken nicht mehr zu halten. Zu groß ist die Gefahr, dass sich Geflüchtete einen Weg ins Innere des Lkws schneiden, sich auf den Achsen verstecken oder in eine der Ersatzteilkisten unter dem Gefährt klettern.
Läuft der Verkehr flüssig bis aufs Gelände des Eurotunnels, hat Fischer es vorerst geschafft. Gibt es vor dem Tunnel Stau, geht der Wettstreit los. Geflüchtete laufen vor, neben und zwischen die Lkws, suchen nach Möglichkeiten, unbemerkt aufzusteigen. In seiner abgeschlossenen Fahrerkabine schaut Fischer ständig in die Seitenspiegel, versucht, potenzielle Mitfahrer schon durch seine Blicke abzuschrecken.
Für Fischer bedeuten diese Stunden jedes Mal Stress. Im Terminal werden die Lkws zwar noch einmal mit Hunden und bei Verdacht auch mit einem Scanner abgesucht. Schafft es trotzdem ein Geflüchteter auf Fischers Lkw nach England, wird er unfreiwillig zum Schlepper. „Dass man nichts gemerkt hat, würde in so einer Situation ja jeder sagen, das hilft einem dann auch nicht mehr weiter“, sagt er.
Aggression an der Grenze
Einen Kilometer von Calais entfernt zeigt Fischer bei seiner Rückfahrt nach Deutschland auf die Autobahn. „Hier haben sie 2015 Reifen abgefackelt, damit wir die Lkws stoppen mussten“, sagt er. Das Jahr 2015 hat Fischers Sicht auf die Geflüchteten in Calais verändert. Seit er nach England fahre, habe es immer Menschen gegeben, die nach Großbritannien wollten. Aber früher habe man den Menschen angesehen, dass sie wirklich Hilfe brauchten. 2015 sei das anders gewesen. „Die meisten von denen waren gut gekleidete junge Männer, mit den neuesten Smartphones“, sagt Fischer. „Die Aggression an der Grenze hat damals ein neues Ausmaß erreicht.“
Axel Fischer über die Ausschreitungen bei Calais im Jahr 2015
Einmal habe sich einer an der Hintertür des Lkws seines Vordermanns zu schaffen gemacht. Da habe Fischer mit Zeigefinger und Mittelfinger auf seine eigenen Augen gedeutet, um dem Mann klarzumachen: „I am watching you.“ Der Mann habe dann ein Messer gezogen, ihm in die Augen geschaut und die Klinge einmal vor seiner Kehle hergezogen.
Fischer sagt, er sei kein Rassist. Natürlich seien nicht alle Flüchtlinge so. Es gebe auch gute, wie den afrikanischen Flüchtling, der bei Kottmeyers im Lager arbeite. Bei ihm ist Fischer beim Be- und Entladen immer schneller fertig als bei den Kollegen. Er will nicht verallgemeinern. Aber viele könnten die Regeln in Deutschland nicht akzeptieren. Zumindest nach dem, was er so auf Facebook lese und auf der Straße sehe.
Mittwoch, 13 Uhr, Shell Asten, Niederlande
Kurz bevor Fischer die Grenze nach Deutschland überquert, muss er eines noch erledigen. Er geht in die Tankstelle und kauft Kaffee für sich und seine Frau. Zwei Packungen Dark-Roast-Kaffeepads von Caféclub, zwei Packungen Jacobs-Krönung-Filterkaffee, günstiger als in Deutschland. Es ist Fischers kleiner grenzüberschreitender Handel. Heute fährt er noch bis nach Recklinghausen. Morgen um 7 Uhr muss er seine Ladung Mikrowellen in Gütersloh abliefern. Um 5 Uhr wird er losfahren, um den Termin zu halten.
Man könnte meinen, Axel Fischer habe viel von Europa gesehen. Immerhin fährt er schon seit 37 Jahren Waren durch alle Länder des Kontinents. Er hat so viele Kilometer gemacht wie nur wenige andere. Aber wenn man ihn danach fragt, muss er laut lachen. „Autobahnen habe ich viele gesehen. Autobahnen und Raststätten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge