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Literaturnobelpreisträger Patrick ModianoBücher, die sich von allein erzählen

Patrick Modiano distanziert sich nicht von seinen Erzählern. Dadurch gewinnen die Texte des Literaturnobelpreisträgers eine verletzliche Leichtigkeit.

Seine Romane scheinen sich von allein zu erzählen: Patrick Modiano Bild: dpa

HAMBURG taz | Das wohl bekannteste Werk des Literaturnobelpreisträgers 2014 ist im Buchhandel nicht auf Deutsch erhältlich. Es heißt „Lacombe, Lucien“, ist ein französischer Spielfilm aus dem Jahr 1974, und Patrick Modiano hat das Drehbuch mitgeschrieben. Es ist ein berühmter, vielfach ausgezeichneter Film, und großartig ist er auch, doch obwohl sich in ihm viele Themen wiederfinden, die der französische Autor in seinen gut 25 Romanen immer wieder erzählt hat, wird dieser Film über einen Partisanenjungen während der deutschen Besatzung völlig zu Recht dem Regisseur Louis Malle zugeschrieben.

Und wer meint, die Schwedische Akademie habe sich mit der Wahl Patrick Modianos mal wieder einen Spaß mit den Erwartungen erlaubt, darf sich durch den Umstand bestätigt sehen, dass der Preisträger hierzulande weniger bekannt ist durch sein umfangreiches Werk als durch einen Film, der die Handschrift eines anderen trägt.

Die Signatur Patrick Modianos, und das zeichnet sein Werk geradezu aus, scheint sich überhaupt leicht zu verflüchtigen hinter den Bildern, die seine Bücher evozieren. Es sind Bilder, die das Flüchtige selbst beschwören und darin vertraut sind bis zum Klischee durch nostalgische Schwarzweißfotografien und melancholisch grundierte französische Filme.

Ein Mann sieht in der Metro eine Frau, die er vor 30 Jahren liebte („Aus tiefstem Vergessen“, dt. 2000); ein Mann sucht nach einer Frau, die er 40 Jahre zuvor am Eingang einer Metrostation traf („Der Horizont“, dt. 2013): Das sind die Ausgangssituationen für Romane, die sich von allein zu erzählen scheinen, und weder ihr schmaler Umfang noch ihre einfache, klare Sprache behaupten, sie wollten den bekannten Situationen und vertrauten Gefühlen etwas Neues abgewinnen.

Sie gehen aber auch nicht auf im süßen Schmerz des Verlusts, der melancholischen Pose der Entsagung, und das ist ihre Stärke: Der Autor vertraut seinen männlichen Icherzählern, die wiederum glauben, die Geschichte, die sie erzählen, sei erzählenswert, auch wenn sie so oder ähnlich unzählige Male erzählt worden ist; und weil der Autor sich nicht ironisch distanziert und die Erzähler ihre Geschichten nicht rechtfertigen oder verteidigen, gewinnen die Texte eine verletzliche Leichtigkeit.

Paris als Zentrum der Geschichten

Auch wenn es den Erzähler des „Horizonts“ bis in eine Berliner Buchhandlung verschlägt, ist Paris das Zentrum von Modianos Geschichten, und an der Peripherie der Stadt, in Boulogne-Billancourt, kam Patrick Modiano 1945 zur Welt. Sein Vater war ein italienischer Kaufmann, seine Mutter eine flämische Schauspielerin und Freundin Raymond Queneaus. Der Schriftsteller gab dem Internatsschüler Patrick zunächst Nachhilfe in Geometrie und später Starthilfe für die literarische Karriere: Beim angesehenen Verlag Gallimard debütierte Modiano bereits als 23-Jähriger mit dem Roman „Place de l’Etoile“ (dt. 2010), die fingierte Autobiografie eines Juden im Paris zur Zeit der deutschen Okkupation.

Wandlungsfähig wie das menschliche Chamäleon Zelig in Woody Allens gleichnamigem Film, jedoch 20 Jahre früher, lässt Modiano seinen Erzähler ein Leben als Liebhaber Eva Brauns, als provinzieller „Feld-und-Flur-Jude“, als Opfer der Judenverfolgung halluzinieren, bis er als Patient des Doktor Freud eine „jüdische Neurose“ diagnostiziert bekommt. Das Spiel mit Klischees ist in diesem Debüt bereits erkennbar, allerdings in einer teils sarkastischen Variante, der sich jüngst auch der niederländische Autor Arnon Grünberg in seiner wüsten Romanfantasie „Der jüdische Messias“ bediente; und weil die Klischees antisemitisch waren, sah Modiano sich genötigt, die zweite Auflage mit einem Vorwort zu ergänzen.

Die Verfolgung der Juden im besetzten Paris hat der Sohn eines jüdischen Vaters später mehrmals aufgegriffen, und besonders in dem Roman „Dora Bruder“ (dt. 1998) gelang es ihm, die Beschwörungsgeste seines erinnernden Erzählens zu öffnen für eine Lebensgeschichte, die vernichtet scheint mit der Schoah.

Wie Modiano die Vermisstenanzeige in einer Pariser Zeitung von 1941, die dem 15-jährigen Mädchen Dora gilt, ausweitet zu einer Annäherung an die Biografie eines jungen Menschen, der kein Opfer sein wollte, und wie sich in den Fragmenten der Erinnerung nicht nur eine Epoche spiegelt, sondern auch die Handlungsmöglichkeiten zwischen Kollaboration und Résistance reflektiert werden, die wiederum gebrochen sind von der Diskretion des Erzählers, der sich kein Urteil anmaßt: Das ist große Literatur auf kleinem Raum, gerade weil Modiano dem lockenden Sog des Vergessens, auf den er sich einmal mit Stefan George berief, widersteht, um beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren – auch wenn sie zunächst nur eine Ahnung ist.

Eine solche Literatur jenseits der Moden und des Spektakulären verlangt, und das ist kein Klischee, den Pakt mit dem Leser; wer ihn eingeht, begegnet einer Erzählkunst, die der Beschwörungskraft der Worte vertraut und zugleich weiß, wo ihre Grenzen liegen. Sie sind weit genug gesteckt, um ihr immer wieder begegnen zu wollen.

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