Literaturnobelpreis für Jon Fosse: Hoffentlich kein Backlash
Düsteres und lange Sätze: Nach Jahren der literarischen Horizontverschiebung hat sich das Komitee fürs Kulturreligiöse entschieden.
J on Fosse ist ein Autor für die Leonard-Cohen-Momente des Lebens. Wenn draußen ein herbstlicher Wind weht, wenn die schweren Themen des Daseins um Liebe, Tod und Einsamkeit sich melden, wenn einem der Sinn nach Transzendentalem steht – „Alles, was ich schreibe, ist eine Art Gebet“, sagte er -, dann kann man sich gut in das Werk des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers versenken und sich vom Sprachrhythmus seiner langen Sätze ohne Schlusspunkte trösten lassen.
Das ist keineswegs jedermanns Tasse Tee. Doch in sich sind Fosses mystischer Realismus und seine Verknappung der Ausdrucksmittel konsequent durchgeführt. Insofern lässt sich, knapp am Vorwurf des Reaktionären vorbei, der Nobelpreis schon begründen: Wenn schon Kulturreligion, dann so. Eine Spielart der Literatur wird in diesem existenziellen Virtuosentum auf den äußersten Punkt getrieben.
Doch es ist eben nur eine Spielart, und die aktuelle Vielheit literarischer Ansätze lässt sich keineswegs mit ihr an der Spitze hierarchisieren. Manche Beobachter versuchen das dennoch. Freudige Stimmen vermeldeten, dass das Nobelpreiskomitee die Kapriolen der jüngeren Vergangenheit (als angeblicher Tiefpunkt: 2016 Bob Dylan) hinter sich gelassen und zur reinen Lehre ernsthafter Literatur zurückgefunden habe. Offenbar sind die Reflexe nicht totzukriegen, Dunkles, Raunendes und Sprachspiele um „das Verschwiegene“ in einem fortgesetzten Geniekult als „eigentliche“, als „richtige“ Literatur zu werten und andere literarische Ansätze gleichzeitig abzuwerten.
Zur Erinnerung: 2022 bekam Annie Ernaux, die die Autofiktion durchgesetzt hat, die Auszeichnung, 2021 Abdulrazak Gurnah mit seinen postkolonialen Epen. Was nach #meToo und vielen literarischen Horizontverschiebungen über Europa hinaus beides ein Momentum hatte. Und die Frage ist jetzt: Droht jetzt nach solchen Öffnungen ein Backlash?
Hoffentlich nicht. Er wäre nicht gut für den Literaturnobelpreis und auch nicht für die Literatur. Mit einigem Selbstbewusstsein kann man darauf verweisen, dass ihre Lebendigkeit gerade in den Erweiterungen des Horizonts und einer dringlichen Vielzahl der Sprecherpositionen und Perspektiven liegt. Als eine Farbe dieser Buntheit lassen sich die Beckett-Variationen und Glaubens-Exerzitien à la Fosse durchaus einordnen, neben Ernaux und Gurnah (und, ja doch, auch Dylan), nicht über ihnen. Insofern ist die Stockholmer Entscheidung für diesen Autor vielleicht sogar ein ganz guter Test darüber, wer im Literaturbetrieb den kulturreligiösen Genieglauben hinter sich gelassen hat und wer noch nicht. Nächstes Jahr dann aber sehr gern wieder einen anders gefärbten literarischen Ansatz.
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