Literatur und Identität: Schreiben braucht Solidarität
Nicht nur die Debatte um die Übersetzung von Amanda Gormans Lyrik verirrt sich in der Falle des Essenzialismus. Kulturelle Identitäten sind komplex.
S eit einigen Wochen ist das Thema Lyrikübersetzungen in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt – Prominenz für eine Branche, die in der Regel kaum wahrgenommen wird. Anlass ist die Übersetzung des Gedichts „The Hill We Climb“ der Schwarzen Lyrikerin Amanda Gorman, vorgetragen bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden. Gormans Werk sollte unter anderem auch ins Niederländische übersetzt werden, von der Dichterin Marieke Lucas Rijnevald.
Anfang März gab Rijnevald den schon erhaltenen Übersetzungsauftrag zurück, nachdem die Journalistin Janice Deul in der Tageszeitung De Volkskrant die Frage aufwarf, weshalb der Verlag keine Übersetzerin beauftragt habe, die wie Gorman „eine Künstlerin des gesprochenen Worts, jung, weiblich und selbstbewusst Schwarz“ sei. Einige Tage später wurde dem katalanischen Schriftsteller Victor Obiols, der die Übersetzung bereits angefertigt hatte, der Auftrag nachträglich entzogen. Die Begründung: Er habe nicht das richtige Profil.
Sofort kamen zahlreiche Fragen auf: Müssen Übersetzer:innen immer aus der Gruppe der Originalverfasser:innen sein? Und wenn ja, welche Kategorien sind relevant? Können nur Schwarze die Texte von Schwarzen übersetzen? Nur Frauen die Texte von Frauen? Und wie ist es mit einem Text von einer Schwarzen Frau: ist ein Schwarzer Mann oder eine weiße Frau besser geeignet? Und vor allem: Wer entscheidet das?
Es lohnt sich, diese Debatte im Kontext einer breiteren Diskussion über literarische Aneignung zu betrachten. Verfechter:innen des Konzepts sehen kulturelle, ethnische, soziale oder sexuelle Zuschreibungen der Literaturschaffenden als Voraussetzung, um bestimmte Themen behandeln zu dürfen, und fordern, dass idealerweise nur die betroffenen Minderheiten selbst über ihre eigene Schicksale schreiben sollten oder sie übersetzen dürfen. Noch vor der Debatte um Gormans Gedicht sind Vorwürfe zur literarischen Aneignung gegen weiße Autor:innen geäußert worden, deren künstlerische Werke die Geschichten von nichtweißen Protagonist:innen behandeln.
Literarisches Schreiben kann Solidarität sein
So entfachte vergangenes Jahr in den USA der Bestseller-Roman “American Dirt“ einen literarischen Streit, der vor einem Millionenpublikum verhandelt wurde. In dem Roman erzählt die Schriftstellerin Jeanine Cummins die Geschichte einer geflüchteten Familie aus Mexiko. Die Starmoderatorin Oprah Winfrey lobte das Buch in ihrem prominenten „Book Club“ und erklärte, dass nach der Lektüre wohl jede:r nachvollziehen könne, was es heiße, Migrant:in auf dem Weg in die Freiheit zu sein.
Scharfe Kritik kam hingegen von Aktivist:innen aus der Commmunity von Latinos und Hispanics, die Cummins – selbst Enkelin einer puertoricanischen Großmutter – vorwarfen, Profit aus dem Leid der Geflüchteten an der mexikanischen Grenze zu ziehen. Nach heftiger Kritik sagte der Verlag die geplante Lesetour ab, und Winfrey nahm ihre anfängliche Begeisterung für den Roman per Instagram zurück.
Wie kann es sein, dass eine für Minderheitenrechte eintretende Schriftstellerin als Feindin einer Community dargestellt wird, mit der sie eigentlich solidarisch sein wollte? Hier geht verloren, was literarisches Schreiben alles bedeuten und befördern kann: Solidarität und Empathie. Solidarität kann sich auch in literarischer Form ausdrücken. Gerade angesichts der Hochkonjunktur nationalistisch-chauvinistischer Ideen brauchen wir auch diese Art von Solidarität: die Erzählung von fiktiven Geschichten, die Lebensrealitäten von unterdrückten und verfolgten Menschen vorstellbar machen und Leser:innen für globale Ungleichheit sensibilisieren.
Wer darauf besteht, dass nur Betroffene über bestimmte Lebenswelten und Realitäten schreiben dürfen, blendet das Potenzial der Empathie durch Literatur aus: die Fähigkeit, nicht nur von Literaturschaffenden, sondern von Menschen überhaupt, sich in andere Geschichten, Lebenswelten und Epochen einfühlen zu können. In der literarischen Fiktion sollte nicht im Vordergrund stehen, wer das Werk geschrieben hat, sondern, wie über verfolgte und diskriminierte Menschen geschrieben wird. Werden Stereotype und Vorurteile bedient? Wie sensibel werden die Erfahrungen der Marginalisierung beschrieben? Natürlich: Diese Fragen lassen sich oft nicht trennen. Doch spätestens seit dem 1967 von Roland Barthes verkündeten „Tod des Autors“ ist die Literaturkritik eigentlich bemüht, die Persönlichkeit des Autors hier nicht zum alleinigen Maßstab zu machen.
Wenn ein Gemälde als anmaßend empfunden wird
Empathie war auch ein Schlagwort in der Debatte um das Gemälde “Open Casket“ der amerikanischen Künstlerin Dana Schutz. Schutz nutzte das Foto des Schwarzen Jugendlichen Emmett Till, der 1955 im Alter von 14 Jahren von zwei weißen Männern misshandelt und ermordet worden war, als Vorlage für eines ihrer Gemälde. Die Schwarze Künstlerin Hannah Black forderte die Zerstörung des Bildes, da das Bild die Gefühle von Afroamerikaner:innen verletze. Die geforderte Zerstörung wurde damit gerechtfertigt, dass die Künstlerin als weiße Amerikanerin kein Recht habe, sich an dem Leiden der Schwarzen Bevölkerung zu bereichern.
Es war jedoch ein Anliegen der Mutter von Till, dass die Fotografien des entstellten Gesichts ihres Sohnes im offenen Sarg die breite Öffentlichkeit erreichen, um die Brutalität gegen die Schwarze Bevölkerung sichtbar zu machen. Der Künstlerin war bewusst, dass sie als weiße Person nicht nachempfinden könne, welche Auswirkungen rassistische Gewalt haben kann. Kunst sehe sie allerdings als eine Möglichkeit, Empathie auszudrücken und sich miteinander – trotz bestehender Ungleichheiten – zu verbinden.
Selbstverständlich lässt sich auch Kunstschaffenden die Reproduktion von Rassismus oder Sexismus vorwerfen. Die Grundlage dafür sollte allerdings eine fundierte Analyse sein und nicht die Fortschreibung von Identitätsmerkmalen als Wesensmerkmale einer Person. Oft berufen sich Vertreter:innen dieser essenzialistischen Argumentation auf das Konzept der kollektiven Identität, die dabei auf gefährliche Weise vereinfacht wird.
Es ist gerade die Errungenschaft postkolonialer Theoretiker:innen wie Homi K. Bhabha und Stuart Hall, Identität nicht als Essenz, sondern als hybride und dynamische Konstruktion zu begreifen. Bhabha setzte der Vorstellung von statischen Kulturen das Konzept der Hybridität entgegen. Kultur lebe davon, so Bhabha, dass sie dynamisch sei und fragmentarisch, an verschiedenen Orten gleichzeitig und widerspruchsvoll existiere. Die Begegnung von unterschiedlichen Lebenswelten und Milieus führt dazu, dass etwas Neues „zwischen“ den Kulturen erwächst. Für Bhabha entstehen in diesem neuen Raum „hybride Identitäten“.
Identität ist ein ständiger Prozess
Stuart Hall wiederum warnte vor einem essenzialistischen Verständnis von Identität. Auch in seiner Theorie ist kulturelle Identität nicht statisch, gegeben oder absolut, sondern ein ständiger und immer unabgeschlossener Prozess. Die gemeinsame Vergangenheit schafft einen imaginären Zusammenhalt, quasi eine Schicksalsgemeinschaft, die wiederum nicht bedeutet, dass die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Interessen in der Gegenwart keine Rolle mehr spielen. Kollektive Identität ist also nicht allein die gemeinsame ursprüngliche Erfahrung, sondern schließt auch alle folgenden Erfahrungen ein – und damit auch ihre empathische Übertragung in Milieus, die von ihnen bisher nicht berührt wurden.
Damit ist natürlich nicht gesagt, dass alle solchen Übersetzungen automatisch von Empathie getragen sind – oder gelungen sein müssen. Im Gegenteil. Hier sollte die Literaturkritik selbstverständlich hohe Maßstäbe anlegen. Und sicher bleiben auch wohlmeinenden weißen Übersetzer:innen Schwarzer Literatur wichtige Nuancen verborgen.
Die aktuelle Auseinandersetzung um die Übersetzung von Amanda Gorman sollte vor allem zum Anlass werden, eine grundlegende Debatte über Ungerechtigkeit im Literaturmarkt zu führen. Wie werden Ressourcen verteilt, wer sind die Gewinner:innen und Verlierer:innen in der Branche: Autor:innen, Übersetzer:innen, Verleger:innen, Vertriebsfirmen etc.? Denn natürlich sind die Gatekeeper der literarischen Welt, gerade im deutschsprachigen Raum, in der Hauptsache weiß.
Würden in diesen Strukturen grundsätzlich mehr Schwarze Menschen und Menschen of Color gefördert, gäbe es die Debatte in dieser Form nicht. Die Frage nach der Identität ist die verschobene Frage nach der Struktur. Nichtweiße Übersetzer:innen sollten grundsätzlich mehr Aufträge erhalten, und nicht nur dann zu Rate gezogen werden, wenn es um ihre Diskriminierungserfahrungen geht. Sonst bleiben sie für immer auf „ihre“ Themen festgelegt – während weiße Autor:innen und Übersetzer:innen grundsätzlich alles dürfen.
Das Problem ist die spätkapitalistische Kulturindustrie
Das Konzept der literarischen bzw. kulturellen Aneignung wiederum reduziert Autor:innen auf eine (scheinbar) wesentliche Identitätskategorie – als Frau, als Schwarz, als Muslim – während andere Kategorien – das soziale Milieu, der Bildungsgrad oder die finanzielle Situation – ausgeblendet werden. Problematisch ist hierbei, wenn die Festlegung des entscheidenden Merkmals eine Fremdzuschreibung ist.
Niemand außer die Autor:innen selbst können entscheiden, welche Identitätskategorien für das literarische Werk relevant sind. Nur die Autor:innen selbst können entscheiden, worüber sie schreiben – und wer geeignet ist, ihre Texte zu übersetzen. Alles andere ist Bevormundung.
Statt sich immer wieder neu an einzelnen Autor:innen abzuarbeiten, egal welcher Hautfarbe oder Herkunft, muss sich also Kritik immer auch gegen die Struktur der spätkapitalistischen Kulturindustrie richten. Ein hoher Anspruch, vor allem, wenn personalisierende Kritik so viel naheliegender und aufregender ist. Aber geht es in der Kunst nicht gerade darum – um hohe Ansprüche?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Filmförderungsgesetz beschlossen
Der Film ist gesichert, die Vielfalt nicht